Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 453



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

139 V 453

58. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Ausgleichskasse des Kantons Thurgau gegen M. (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_249/2013 vom 21. Oktober 2013

Regeste

Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG; Nichtanrechnung von Stipendien.
Auch soweit Stipendien im Sinne von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG die Deckung des
Lebensunterhaltes bezwecken, besteht keine Veranlassung, sie für die
Ergänzungsleistungen als anrechenbares Einkommen zu berücksichtigen (E. 3.3).

Sachverhalt ab Seite 453

BGE 139 V 453 S. 453

A. M. bezog für die Zeit von Mai 2011 bis Juni 2012 Ergänzungsleistungen zur
Invalidenrente (Verfügungen vom 21. April 2011, 6. Januar und 8. Februar 2012).
Mit Verfügung vom 12. Juni 2012 berechnete die Ausgleichskasse des Kantons
Thurgau (nachfolgend: Ausgleichskasse) die Ergänzungsleistungen neu; dabei
reduzierte sie die Ergänzungsleistung ab 1. April 2012, zudem verneinte sie
einen Anspruch ab 1. Mai 2012 vollständig. Folglich verpflichtete sie M. zur
Rückzahlung unrechtmässig bezogener Leistungen im Betrag von Fr. 3'555.-. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2012 fest. Zur Begründung
führte sie im Wesentlichen aus, die Leistungsansprecherin beziehe von zwei
anonymen Stiftungen
BGE 139 V 453 S. 454
Stipendien für die Abfassung ihrer Habilitationsschrift. Soweit diese
Leistungen der Deckung des allgemeinen Lebensunterhalts dienten, seien sie als
Einnahmen anzurechnen, weil nicht kumulativ dazu Ergänzungsleistungen bezogen
werden könnten. Zudem habe es M. pflichtwidrigerweise unterlassen, die
Stiftungen über ihre Berechtigung zum Bezug von Ergänzungsleistungen
aufzuklären.

B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau mit Entscheid vom 27. Februar 2013 in dem Sinne gut, als es den
Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2012 aufhob und die Sache an die
Ausgleichskasse zurückwies, damit sie den Anspruch auf Ergänzungsleistungen vom
1. April bis 31. Dezember 2012 sowie einen allfällig daraus resultierenden
Rückforderungsanspruch neu berechne.

C. Die Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 27. Februar 2013 sei
aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2012 zu bestätigen.
M. lässt beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten
ist. Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung des Rechtsmittels, während
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Die jährliche Ergänzungsleistung (Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG [SR 831.30])
entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren
Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 ELG). Als Einnahmen angerechnet werden
nebst Erwerbseinkommen (Art. 11 Abs. 1 lit. a ELG) u.a. Renten, Pensionen und
andere wiederkehrende Leistungen, einschliesslich der Renten der AHV und der IV
(Art. 11 Abs. 1 lit. d ELG). Nicht angerechnet werden hingegen (a)
Verwandtenunterstützungen nach den Artikeln 328-330 ZGB, (b) Unterstützungen
der öffentlichen Sozialhilfe, (c) öffentliche oder private Leistungen mit
ausgesprochenem Fürsorgecharakter, (d) Hilflosenentschädigungen der
Sozialversicherungen, (e) Stipendien und andere Ausbildungsbeihilfen und (f)
Assistenzbeiträge der AHV oder der IV (Art. 11 Abs. 3 ELG).
BGE 139 V 453 S. 455

3.2

3.2.1 Die Ausgleichskasse betrachtet die fraglichen Zuwendungen nicht als
Erwerbseinkommen, sei es aus selbst- oder unselbstständiger Tätigkeit. Weil die
vorinstanzliche Argumentation (nicht publ. E. 2) auf eine Erwerbstätigkeit
resp. auf Art. 11 Abs. 1 lit. a ELG abzielt, greift sie zu kurz. Es bleibt zu
prüfen, ob die Zuwendungen entweder wiederkehrende Leistungen im Sinne von Art.
11 Abs. 1 lit. d ELG darstellen oder aber als Stipendien oder andere
Ausbildungsbeihilfen im Sinne von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG zu qualifizieren
sind.

3.2.2 Die Auslegung des Gesetzes ist auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers
und die von ihm erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten.
Ausgangspunkt der Auslegung einer Norm bildet ihr Wortlaut. Vom daraus
abgeleiteten Sinne ist jedoch abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen,
dass der Gesetzgeber diesen nicht gewollt haben kann (vgl. BGE 136 V 84 E.
4.3.2.1 S. 92). Solche Gründe können sich insbesondere aus der
Entstehungsgeschichte der Norm, aus ihrem Zweck oder aus dem Zusammenhang mit
anderen Vorschriften ergeben (BGE 135 IV 113 E. 2.4.2 S. 116; BGE 135 V 382 E.
11.4.1 S. 404; BGE 127 III 318 E. 2b S. 322 f.).

3.3 Die Vorinstanz nimmt in Übereinstimmung mit den Parteien an, dass die
Beschwerdegegnerin die fraglichen Zuwendungen für das Verfassen einer
Habilitationsschrift im Rahmen ihrer Aus- resp. Weiterbildung erhält (vgl.
RALPH JÖHL, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd.
XIV, 2. Aufl. 2007, S. 1861 Rz. 312 [zu Art. 3c Abs. 2 lit. e des auf den 1.
Januar 2008 aufgehobenen aELG]). Damit ist grundsätzlich von Stipendien im Sinn
von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG auszugehen.
Die Ausgleichskasse vertritt indessen die Auffassung, dies treffe nur so weit
zu, als die Stipendien nicht dem allgemeinen Lebensunterhalt dienen. Dem ist,
auch wenn in Bezug auf Ergänzungsleistungen eine gewisse "Kumulationsgefahr"
besteht (JÖHL, a.a.O., S. 1862 Rz. 314), nicht beizupflichten: Eine solche
Einschränkung lässt sich dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG nicht
entnehmen. Angesichts des abschliessenden Charakters der Ausnahmeliste von Art.
11 Abs. 3 ELG (CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009,
S. 185) ist zu erwarten, dass ein solcher Vorbehalt des Gesetzgebers explizit
formuliert worden wäre, zumal Stipendien im Allgemeinen nicht ausschliesslich
zur Deckung der Bildungskosten
BGE 139 V 453 S. 456
im engeren Sinn, sondern auch des Lebensunterhalts dienen. Zudem bezwecken
Verwandtenunterstützung, öffentliche Sozialhilfe und öffentliche oder private
Leistungen mit ausgesprochenem Fürsorgecharakter (Art. 11 Abs. 2 lit. a-c ELG)
- zumindest teilweise - ebenfalls die Finanzierung des Existenzbedarfs. Diesen
Verwendungszweck bei solchen Leistungen abzugrenzen, um den entsprechenden
(Teil-)Betrag für die Ergänzungsleistungen zu berücksichtigen, wäre ausserdem
kaum praktikabel. Damit hat der Gesetzgeber eine gewisse Kumulation von
Leistungen bewusst in Kauf genommen und es den Stipendienerbringern überlassen,
angemessen darauf zu reagieren. Dies gilt jedenfalls, wenn die Beihilfe wie im
konkreten Fall nicht von einer Sozialversicherung ausgerichtet wird (JÖHL,
a.a.O., S. 1862 Rz. 314 f.; CARIGIET/KOCH, a.a.O., S. 187). Für eine Abweichung
vom klaren Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG besteht somit keine
Veranlassung.
Im Übrigen spricht der Umstand allein, dass die Stipendien allenfalls
periodisch entrichtet werden, nicht für deren Subsumtion unter Art. 11 Abs. 1
lit. d ELG. Die Auffangfunktion dieser Bestimmung kommt erst zum Tragen, wenn
die Leistung nicht ausdrücklich von der Anrechnung ausgenommen ist (JÖHL,
a.a.O., S. 1819 Rz. 252). Das trifft hier nicht zu.

3.4 Nach dem Gesagten spielt für die Ergänzungsleistungen keine Rolle, ob die
Stipendien (auch) die Deckung des Lebensunterhalts bezweckten, weshalb
diesbezüglich keine Sachverhaltsabklärungen erforderlich waren. Ebenso ist für
den Anspruch auf Ergänzungsleistungen kein Tatbestandselement und daher
belanglos, ob Stipendienerbringer von einem Leistungsbezug unterrichtet sind
oder nicht; die betroffenen (privaten) Organisationen haben selber die nötigen
Vorkehren zu treffen, um eine allfällige Überentschädigung zu vermeiden. In
diesem Zusammenhang kann folglich auch nicht von einer Verletzung der
Auskunfts- und Mitwirkungspflicht (Art. 28 ATSG [SR 830.1]) gesprochen werden,
wenn die Beschwerdegegnerin die Anonymität der Stiftungen wahrte und deren
Informationsstand nicht weiter dokumentierte, zumal die Ausgleichskasse die
Beweiskraft der (teilweise) abgedeckten Bestätigungsschreiben nicht in Frage
stellte. Die Beschwerde ist unbegründet.