Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 429



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Urteilskopf

139 V 429

55. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Eidgenössische Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherungen gegen R.
und Eidgenössische Ausgleichskasse (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_927/2012 / 8C_933/2012 vom 5. Juli 2013

Regeste

Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG; Art. 19 Abs. 1 FamZV.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen ist legitimiert, gegen einen Entscheid
des kantonalen Gerichts im Bereich der Familienzulagen Beschwerde beim
Bundesgericht zu führen (E. 1.3).

Art. 7 Abs. 1 FamZG; Anspruchskonkurrenz.
Die Kaskadenregelung von Art. 7 Abs. 1 FamZG gilt nicht erst ab Einreichung des
Gesuchs der zweiten Person, welche für dasselbe Kind eine Zulage beansprucht,
sondern bereits ab dem Zeitpunkt des Entstehens des Lohnanspruches. Dies hat
zur Folge, dass Nachzahlungen an die Personen, welche gemäss Art. 7 Abs. 1
FamZG Anspruch haben, erbracht werden müssen, während die Person, welche die
Leistung zu Unrecht bezogen hat, zur Rückerstattung zu verpflichten ist (E. 3
und 4).

Sachverhalt ab Seite 430

BGE 139 V 429 S. 430

A. R. war als Angestellter über seine Arbeitgeberin bei der Eidgenössischen
Ausgleichskasse (EAK) zum Bezug von Familienzulagen angemeldet. Aus seiner Ehe
mit U. gingen drei Kinder, geb. 1990, 1992 und 1994, hervor. Die Ehe wurde am
30. Dezember 2003 geschieden und die Kinder unter die elterliche Sorge der
Mutter gestellt.
Am 19. Oktober 2010 reichte U. bei der Familienausgleichskasse des Kantons Bern
(FAK) ein Gesuch um Ausrichtung von Familienzulagen rückwirkend ab 1. Januar
2009 ein. Solche wurden ihr am 19. Mai 2011 antragsgemäss zugesprochen.
Mit Verfügung vom 26. März 2012 - ersetzend eine Verfügung vom 14. März 2012 -
und Einspracheentscheid vom 8. Mai 2012 verneinte die EAK rückwirkend ab 1.
Januar 2009 den Anspruch des R. auf Familienzulagen und forderte für die Zeit
vom 1. Januar 2009 bis 31. Mai 2011 zu viel ausgerichtete Zulagen in der Höhe
von Fr. 13'700.- zurück.

B. Die von R. hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern mit Entscheid vom 10. Oktober 2012 teilweise gut und reduzierte
den Rückforderungsbetrag auf Fr. 4'000.-.

C. Mit Beschwerde beantragt die EAK, es sei in Aufhebung des kantonalen
Gerichtsentscheides ihr Einspracheentscheid vom 8. Mai 2012 zu bestätigen
(Verfahren 8C_927/2012). Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erhebt
ebenfalls Beschwerde und beantragt, es sei unter Aufhebung des Einsprache- und
des kantonalen Gerichtsentscheides festzustellen, dass der
Rückforderungsanspruch der EAK verwirkt sei (Verfahren 8C_933/2012).
Im Verfahren 8C_927/2012 beantragen R. und das BSV die Abweisung der Beschwerde
der EAK.
Im Verfahren 8C_933/2012 beantragt die EAK die Abweisung der Beschwerde des
BSV, während R. auf deren Gutheissung schliesst.
BGE 139 V 429 S. 431

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.3 Neben der EAK hat auch das BSV Beschwerde erhoben. Die Legitimation des BSV
ist zu bejahen (Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 der
Verordnung vom 31. Oktober 2007 über die Familienzulagen
[Familienzulagenverordnung, FamZV;SR 836.21] und Art. 62 Abs. 1^bis ATSG [SR
830.1]; vgl. SVR 2011FZ Nr. 2 S. 7, 8C_713/2010 E. 1 und THOMAS FLÜCKIGER,
Koordinations- und verfahrensrechtliche Aspekte bei den Kinder- und
Ausbildungszulagen, in: Bundesgesetz über die Familienzulagen [FamZG],
Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], 2009, S. 161 ff., 210; vgl.auch MICHAEL PFLÜGER,
Die Legitimation des Gemeinwesens zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten, 2013, S. 348 Rz. 835 ff.; im Ergebnis wohl anderer Meinung:
UELI KIESER, ATSG- Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 72 zu Art. 62 ATSG und KIESER/
REICHMUTH, Bundesgesetz über die Familienzulagen, Praxiskommentar, 2010, N. 98
zu Art. 1 FamZG).
(...)

3.

3.1 Familienzulagen sind einmalige oder periodische Geldleistungen, die
ausgerichtet werden, um die finanzielle Belastung durch ein oder mehrere Kinder
teilweise auszugleichen (Art. 2 des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über die
Familienzulagen [Familienzulagengesetz, FamZG; SR 836.2]). Für das gleiche Kind
wird gemäss Art. 6 FamZG nur eine Zulage derselben Art ausgerichtet. Die
Differenzzahlung nach Art. 7 Abs. 2 FamZG bleibt vorbehalten.

3.2 Haben mehrere Personen für das gleiche Kind Anspruch auf Familienzulagen
nach eidgenössischem oder kantonalem Recht, so steht der Anspruch gemäss Art. 7
Abs. 1 FamZG in nachstehender Reihenfolge zu:
a. der erwerbstätigen Person;
b. der Person, welche die elterliche Sorge hat oder bis zur Mündigkeit des
Kindes hatte;
c. der Person, bei der das Kind überwiegend lebt oder bis zu seiner Mündigkeit
lebte;
d. der Person, auf welche die Familienzulagenordnung im Wohnsitzkanton des
Kindes anwendbar ist;
e. der Person mit dem höheren AHV-pflichtigen Einkommen aus unselbstständiger
Erwerbstätigkeit;
f. der Person mit dem höheren AHV-pflichtigen Einkommen aus selbstständiger
Erwerbstätigkeit.
BGE 139 V 429 S. 432

3.3 Unrechtmässig bezogene Leistungen sind gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG
zurückzuerstatten. Der Rückforderungsanspruch erlischt in Anwendung von Art. 25
Abs. 2 ATSG mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung
davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren
nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Wird der Rückerstattungsanspruch
aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine
längere Verjährungsfrist vorsieht, so ist diese Frist massgebend.

4.

4.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass R. in der Zeit zwischen 1. Januar
2009 bis 31. Mai 2011 Familienzulagen für seine Kinder aus erster Ehe bezogen
hat. Weiter steht fest, dass seine ehemalige Ehefrau am 19. Oktober 2010 für
die gleichen Kinder rückwirkend ab 1. Januar 2009 ebenfalls Familienzulagen
beantragte, und dass sie bereits ab 1. Januar 2009 als erwerbstätige Person im
Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 13 Abs. 3 FamZG zu
qualifizieren war. Die EAK und das BSV gehen deshalb davon aus, dass der
Anspruch in Anwendung von Art. 7 Abs. 1 FamZG der geschiedenen Ehefrau zustand,
der Leistungsbezug des R. demgemäss unrechtmässig im Sinne von Art. 25 ATSG
war. Das kantonale Gericht hat demgegenüber erwogen, eine Anspruchskonkurrenz
bestehe erst ab dem Zeitpunkt, in dem die Ehefrau ihr eigenes Gesuch
eingereicht hatte, mithin ab 19. Oktober 2010. Somit sei auch Art. 7 Abs. 1
FamZG erst ab diesem Zeitpunkt anwendbar, der Leistungsbezug des Ehemannes erst
ab 19. Oktober 2010 unrechtmässig.

4.2 Gemäss Art. 13 Abs. 1 FamZG entsteht und erlischt der Anspruch auf
Familienzulagen mit dem Lohnanspruch. In Anwendung von Art. 1 FamZG in
Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 ATSG wird er zudem gegebenenfalls auch während
fünf Jahren rückwirkend ausgerichtet (FLÜCKIGER, a.a.O., S. 199). Daraus folgt,
dass Koordinierungsbedarf und damit eine "Anspruchskonkurrenz" im Sinne der
Marginale von Art. 7 Abs. 1 FamZG nicht erst ab der Einreichung des Gesuchs der
zweiten Person, welche für ein Kind Familienzulagen beansprucht, besteht.
Vielmehr gilt Art. 7 Abs. 1 FamZG bereits ab dem Zeitpunkt des Entstehens des
Lohnanspruches. Auch aus den Materialien ist ersichtlich, dass der Gesetzgeber
kein Wahlrecht mehrerer anspruchsberechtigter Personen, wer von ihnen die
Zulage beziehen soll, einführen wollte (vgl. Parlamentarische Initiative
Leistungen für die Familie, Zusatzbericht der
BGE 139 V 429 S. 433
Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 8.
September 2004, BBl 2004 6887, 6905 Ziff. 3.2.2 zu Art. 7 Abs. 2 E-FamZG). Dies
hat zwar die Folge, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen sich der
Anspruch der erstansprechenden Person nachträglich als nachrangig erweist,
unter Umständen der zweitansprechenden Person Nachzahlungen erbracht werden
müssen, während die erstansprechende Person grundsätzlich zur Rückzahlung der
unrechtmässig bezogenen Leistungen verpflichtet ist (FLÜCKIGER, a.a.O., S. 199
f.). In der Lehre ist daher anerkannt, dass die in Art. 7 FamZG vorgesehene
Regelung nicht einfach umzusetzen ist (KIESER/REICHMUTH, a.a.O., N. 34 ff. zu
Art. 7 FamZG). Wie diese Autoren indessen zu Recht bemerken, ist dies letztlich
Folge des gesetzgeberischen Entscheides, den Zulagenanspruch nicht an das Kind,
sondern an die dieses versorgende Person im Sinne von Art. 4 FamZG anzuknüpfen.

4.3 Gilt Art. 7 Abs. 1 FamZG demnach nicht erst ab Einreichung des Gesuches der
zweiten leistungsansprechenden Person, sondern bereits ab dem Entstehen des
Lohnanspruches der ansprechenden Person, so war der Leistungsbezug des R.
bereits ab 1. Januar 2009 unrechtmässig.