Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 42



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Urteilskopf

139 V 42

7. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Pensionskasse
Basel-Stadt gegen V. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_392/2012 vom 17. Dezember 2012

Regeste

Art. 90, 91 und 93 BGG; Art. 26 Abs. 4 BVG.
Der Entscheid über die Vorleistungspflicht einer Vorsorgeeinrichtung im
Grundsatz ohne betragsmässige Festsetzung der Versicherungsleistung ist ein
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG (E. 2). Nicht wieder gutzumachender
Nachteil verneint, weil die Rückgriffsforderung erst mit der Leistung an die
versicherte Person entsteht und ein weitläufiges Beweisverfahren zur
betragsmässigen Ermittlung der Versicherungsleistung nicht dargetan worden ist
(E. 3).

Sachverhalt ab Seite 43

BGE 139 V 42 S. 43

A. V. war von Dezember 1999 bis Anfang Februar 2005 bei der P. AG angestellt
und bei der Personalvorsorgestiftung der P. AG (nachfolgend:
Vorsorgeeinrichtung P.) berufsvorsorgeversichert. In der Zeit danach wechselte
sie verschiedentlich den Arbeitgeber und bezog auch Arbeitslosenentschädigung.
Vom 10. Dezember 2007 bis 30. Juni 2008 war sie beim Departement X. Basel-Stadt
tätig und bei der Pensionskasse Basel-Stadt berufsvorsorgeversichert.
Am 26. Mai 2008 meldete sich V. bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle
Basel-Stadt (kurz: IV-Stelle) sprach ihr mit Verfügung vom 23. Dezember 2010 ab
1. Mai 2007 eine halbe und ab 1. Mai 2009 eine ganze Rente zu. In der Folge
lehnten sowohl die Vorsorgeeinrichtung P. als auch die Pensionskasse
Basel-Stadt eine Leistungspflicht ab. Erstere stellte sich auf den Standpunkt,
dass die massgebliche Arbeitsunfähigkeit zu einem Zeitpunkt eingetreten sei, in
dem V. nicht mehr bei ihr versichert gewesen sei. Letztere vertrat die Meinung,
dass die (Teil-)Arbeitsunfähigkeit bereits vor Eintritt in ihre Kasse bestanden
habe.

B. Am 11. Oktober 2011 reichte V. Klage beim Sozialversicherungsgericht des
Kantons Basel-Stadt gegen die Pensionskasse Basel-Stadt ein und beantragte,
diese sei im Sinne einer Vorleistung zu verpflichten, ihr nach Gesetz bzw.
Reglement für die Zeit vom 1. Mai 2007 bis 30. April 2009 eine halbe
Invalidenrente und ab 1. Mai 2009 bis auf weiteres eine ganze Invalidenrente,
je nebst 5 % Zins, auszurichten (Rechtsbegehren Ziff. 1 und 2). Ferner sei die
Pensionskasse Basel-Stadt zu verpflichten, die zur Berechnung der
Vorleistungspflicht gemäss Rechtsbegehren Ziff. 1 und 2 notwendigen Unterlagen
bzw. die konkrete betragsmässige Berechnung der Vorleistungspflicht
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gemäss Rechtsbegehren Ziff. 1 und 2 einzureichen; nötigenfalls sei ihr
anschliessend Gelegenheit zu geben, die Rechtsbegehren Ziff. 1 und 2 zu
beziffern (Rechtsbegehren Ziff. 3). Die Pensionskasse Basel-Stadt stellte in
der Klageantwort Antrag auf Abweisung der Klage.
Mit "Teilurteil" vom 7. März 2012 verpflichtete das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Basel-Stadt die Pensionskasse Basel-Stadt, V. ab 1. Mai 2007 eine
halbe und ab 1. Mai 2009 eine ganze Invalidenrente gemäss gesetzlichem
Obligatorium als Vorleistung zu entrichten.

C. Dagegen erhob die Pensionskasse Basel-Stadt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragte, der Entscheid vom 7.
März 2012 sei aufzuheben und die Klage abzuweisen. Eventualiter sei die Sache
zur Neubeurteilung an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt
zurückzuweisen.
V. und das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt schlossen in
ihren Vernehmlassungen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtete auf eine Stellungnahme.

D. Mit Verfügung vom 12. Juni 2012 wurde angeordnet, dass bis zum Entscheid
über das Gesuch um aufschiebende Wirkung alle Vollziehungsvorkehrungen zu
unterbleiben haben.

E. Am 5. November 2012 (Posteingang) gelangte die Pensionskasse Basel-Stadt mit
einer weiteren Eingabe an das Bundesgericht.
Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren)
Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (vgl. BGE
135 V 124 E. 3.1 S. 127; BGE 135 II 94 E. 1 S. 96; Urteil 8C_417/2011 vom 3.
September 2012 E. 1.1).

2. Anfechtbar beim Bundesgericht sind Endentscheide, die das Verfahren ganz
(Art. 90 BGG) oder in Bezug auf unabhängig voneinander zu beurteilende Begehren
oder auf einen Teil der Streitgenossen abschliessen (Teilendentscheid; Art. 91
BGG). Selbstständig eröffnete Vor- oder Zwischenentscheide können demgegenüber
nur unter den Voraussetzungen von Art. 92 oder 93 BGG angefochten werden (BGE
136 V 131 E. 1.1 S. 133).
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2.1 Befindet sich der Versicherte beim Entstehen des Leistungsanspruchs nicht
in der leistungspflichtigen Vorsorgeeinrichtung, so ist jene
Vorsorgeeinrichtung vorleistungspflichtig, der er zuletzt angehört hat. Steht
die leistungspflichtige Vorsorgeeinrichtung fest, so kann die
vorleistungspflichtige Vorsorgeeinrichtung auf diese Rückgriff nehmen (Art. 26
Abs. 4 BVG [SR 831.40]).

2.2 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist der Entscheid über die
Vorleistungspflicht einer Vorsorgeeinrichtung im vorgenannten Sinne ein
Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG (BGE 136 V 131 E. 1.1.3 S. 135). Diesem
Urteil lag indessen, wie aus seinem Sachverhalt und insbesondere auch aus der
im Internet veröffentlichten ungekürzten Fassung erhellt (Urteil 9C_848/2009
vom 6. Januar 2010), eine klar bezifferte Klageforderung zu Grunde.
Entsprechend lautete auch das Dispositiv des zu überprüfenden Entscheids auf
eine klar bezifferte Vorleistungspflicht. Mit anderen Worten hatte in BGE 136 V
131 das kantonale Gericht sowohl in grundsätzlicher als auch masslicher
Hinsicht über die Vorleistungspflicht befunden, während es sich hier allein um
einen Entscheid in grundsätzlicher Hinsicht handelt. Die betragsmässige
Festsetzung der Vorleistungspflicht harrt der Erledigung, was die Vorinstanz
mit der Bezeichnung "Teilurteil" unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat.
Im Übrigen scheint das kantonale Gericht das gestaffelte Vorgehen den Parteien
mit Verfügung vom 9. Januar 2012 angezeigt zu haben. Die Zweiteilung erfolgte,
wie das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt in seiner
Vernehmlassung ausführte, aus prozessökonomischen Gründen, weil die Klärung der
Leistungshöhe mit einem nicht unerheblichen Aufwand verbunden sei, der
hinfällig würde, falls die grundsätzliche Vorleistungspflicht der Beklagten
nicht gegeben sei. Bei dieser Sachlage stellt der angefochtene Entscheid -
anders als in BGE 136 V 131 - keinen Endentscheid dar. Vielmehr fragt es sich,
ob er als Teilendentscheid oder aber als Vor- oder Zwischenentscheid zu
qualifizieren ist.

2.3 Vor- und Zwischenentscheide sind Entscheide, die das Verfahren nicht
abschliessen (Art. 90 BGG e contrario), sondern bloss eine formell- oder
materiellrechtliche Frage im Hinblick auf die Verfahrenserledigung regeln,
mithin einen Schritt auf dem Weg zum Endentscheid darstellen. Für die
verfahrensrechtliche Qualifizierung eines angefochtenen Erkenntnisses unter dem
Gesichtspunkt der Art. 90 ff. BGG ist nicht dessen formelle Bezeichnung
entscheidend,
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sondern sein materieller Inhalt. Zwischenverfügungen sind akzessorisch zu einem
Hauptverfahren; sie können nur vor oder während eines Hauptverfahrens erlassen
werden und nur für die Dauer desselben Bestand haben bzw. unter der Bedingung,
dass ein solches eingeleitet wird. Sie fallen mit dem Entscheid in der
Hauptsache dahin. Eine Anordnung, die der (wenn auch befristeten, vorläufigen
oder vorübergehenden) Regelung eines Rechtsverhältnisses dient, aber nicht im
Hinblick auf ein Hauptverfahren, sondern in einem selbstständigen Verfahren
ergeht oder ergehen kann, ist demgegenüber ein Endentscheid. Auch für die
Abgrenzung zwischen Teil- und Zwischenentscheid ist massgebend, ob der
Entscheid ein Begehren behandelt, das unabhängig von anderen beurteilt werden
kann (Art. 91 lit. a BGG), d.h. ebenfalls Gegenstand eines selbstständigen
Verfahrens hätte bilden können und selbstständig der materiellen Rechtskraft
zugänglich ist (BGE 136 V 131 E. 1.1.2 S. 134 f. mit verschiedenen Hinweisen).

2.4 Die Rechtsbegehren Ziff. 1 und 2 in der Klage vor Vorinstanz sind
Leistungsbegehren. Es geht um den gesetzesgemässen Vollzug der
Berufsvorsorgeversicherung, indem der Anspruch auf eine Invalidenrente
gegenüber der vorleistungspflichtigen Vorsorgeeinrichtung durchgesetzt werden
soll. Mit der blossen Feststellung des Bestandes oder Nichtbestandes eines
(berufsvorsorgerechtlichen) Rechtsverhältnisses haben sie nichts zu tun.
Die mangelnde Bezifferung des Leistungsbegehrens schadet angesichts des in Art.
73 Abs. 2 BVG enthaltenen Grundsatzes der Einfachheit des Verfahrens nicht. Das
kantonale Gericht ist verpflichtet, den Sachverhalt von Amtes wegen
festzustellen und die betragsmässige Höhe der Vorleistungspflicht zu ermitteln
(SVR 2009 BVG Nr. 15 S. 52, B 120/06 E. 3). Das Rechtsbegehren Ziff. 3 geht
nicht darüber hinaus. Vor allem ist darin keine (zivilprozessrechtliche)
Stufenklage zu erblicken. Eine solche gelangt zur Anwendung, wenn die
Bezifferbarkeit einer Forderung von der vorgängigen Auskunftserteilung durch
die beklagte Partei abhängt und die Klägerin einen materiellrechtlichen
Anspruch auf Erteilung dieser Auskunft hat (DANIEL FÜLLEMANN, in:
Schweizerische Zivilprozessordnung ZPO, Kommentar, Brunner und andere [Hrsg.],
2011, N. 4 zu Art. 85 ZPO;vgl. auch PASCAL LEUMANN LIEBSTER, Die Stufenklage im
schweizerischen Zivilprozessrecht, 2005, S. 116 ff.). Vielmehr ist das
Rechtsbegehren Ziff. 3, wie die Klagebegründung verdeutlicht, lediglich als
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prozessuale Informationsbeschaffung im Rahmen der Sachverhaltsermittlung zu
verstehen.

2.5 Nach dem Gesagten handelt es sich bei den Rechtsbegehren Ziff. 1 und 2
einerseits sowie beim Rechtsbegehren Ziff. 3 anderseits nicht um mehrere
Rechtsbegehren im Sinne einer objektiven Klagenhäufung (LEUMANN LIEBSTER,
a.a.O., S. 95). Im Gegenteil stehen verschiedene materiellrechtliche Teilfragen
eines (einzigen) Rechtsbegehrens zur Diskussion (BGE 135 III 212 E. 1.2.1 S.
217). Die Vollstreckung ist erst möglich, wenn sowohl im Grundsatz als auch
betragsmässig entschieden wurde (SVR 2009 BVG Nr. 15 S. 52, B 120/06 E. 3.3;
vgl. auch DOMENICO ACOCELLA, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 8 zu Art. 38 SchKG). Der
vorinstanzliche Entscheid bildet daher keinen beschwerdefähigen
Teilendentscheid gemäss Art. 91 lit. a BGG, sondern einen Zwischenentscheid auf
dem Weg zum Endentscheid (vgl. E. 2.3; vgl. auch BGE 133 V 477 E. 4.1.3 S.
481).

3. Nach Art. 93 Abs. 1 BGG ist gegen selbstständig eröffnete Vor- und
Zwischenentscheide die Beschwerde zulässig, wenn der angefochtene Entscheid
einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder wenn die
Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).

3.1 Massgebend für das Vorliegen eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils
ist, ob der Nachteil auch mit einem günstigen Entscheid in Zukunft nicht
behoben werden kann (SVR 2012 IV Nr. 23 S. 97, 9C_329/2011 E. 3.2 in initio).
Die Beschwerdeführerin hält einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil für
gegeben, da ihr Regressrechte zuständen und beim Regress wiederum
Verjährungsaspekte beachtet werden müssten, damit die Leistungspflicht nicht
irreversibel eine definitive werde und an ihr hängen bleibe. Ausserdem könnten
sie irreversible Zinsnachteile treffen. Dabei handelt es sich um pauschale
Vorbringen, die nicht näher substanziiert sind. Vor allem erläutert die
Beschwerdeführerin nicht, inwieweit die Verjährungsfrage und die
Zinsproblematik aktuell einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bergen. Die
Anfechtbarkeit gestützt auf Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ist aber auch aus
folgendem Grund zu verneinen: Die Verjährung einer Forderung kann nicht zu
laufen beginnen, bevor die Forderung überhaupt entstanden
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ist. Die Rückgriffsforderung entsteht erst mit der Leistung an die Gläubigerin,
nicht schon mit der Belangung durch diese (BGE 133 III 6 E. 5.2.1 S. 12 f.; BGE
127 III 257 E. 6c S. 266). In concreto hat die Beschwerdeführerin noch keine
(Vor-)Leistungen erbracht und das vorinstanzliche "Teilurteil" ist nicht
vollstreckbar (vgl. E. 2.5).

3.2 Insoweit die Beschwerdeführerin meint, mit einem sofortigen, gutheissenden
Entscheid könnte sie kostenintensive Aufwendungen, wie die Kontaktaufnahme und
Verhandlungen mit möglichen regresspflichtigen Kassen, einsparen, lässt sie
ausser Acht, dass die direkte Anfechtung eines Zwischenentscheids aus
prozessökonomischen Gründen (Ersparnis eines weitläufigen Beweisverfahrens;
vgl. E. 3 Ingress) und nicht aus finanziellen Interessen einer Partei angezeigt
sein muss. Überdies schliesst die Vorleistungspflicht nicht aus, selber
endgültig leistungspflichtige Vorsorgeeinrichtung zu sein, diesfalls von
vornherein kein Raum für einen Regress verbleibt (vgl. E. 2.1). Zwar spricht
die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung davon, dass es zur Klärung der
Leistungshöhe eines nicht unerheblichen Aufwandes bedürfe, welcher wegfallen
würde, wenn die Zuständigkeit der Beschwerdeführerin nicht gegeben wäre (vgl.
E. 2.2). Eine konkrete Darlegung fehlt jedoch. Ebenso wenig liegt auf der Hand,
dass die offene Tatfrage nach der Leistungshöhe selber umfangreiche
beweisrechtliche Probleme aufwirft, zumal die Vorsorgeeinrichtungen einer
Aufbewahrungspflicht von Vorsorgeunterlagen unterstehen (Art. 41 Abs. 8 BVG
i.V.m. Art. 27i und Art. 27j der Verordnung vom 18. April 1984 über die
berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [BVV 2; SR
831.441.1]). Stellensich im Zusammenhang mit der Festsetzung der Leistungshöhe
weitere Rechtsfragen - zum Beispiel diejenige nach dem Berechnungszeitpunkt (im
Zeitpunkt des Austritts der versicherten Person aus der letzten
Vorsorgeeinrichtung oder im Zeitpunkt der Entstehung des Leistungsanspruchs) -
so liegen diese Konstellationen ausserhalb von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG.

3.3 Zusammengefasst sind die Eintretensvoraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG
nicht erfüllt. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung ist unter diesen Umständen
gegenstandslos.