Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 37



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Urteilskopf

139 V 37

6. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Kantonale
Arbeitslosenkasse St. Gallen gegen M. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_787/2012 vom 15. Januar 2013

Regeste

Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3, Art. 9b Abs. 2 AVIG; Befreiung
von der Erfüllung der Beitragszeit, verlängerte Rahmenfrist für die
Beitragszeit im Falle von Erziehungszeiten.
Versicherte, welche sich gemäss Art. 9b Abs. 2 AVIG der Erziehung ihrer Kinder
gewidmet haben und daher in Bezug auf die Beitragszeit von einer verlängerten
vierjährigen Rahmenfrist profitieren, können sich im Rahmen von Art. 14 Abs. 1
AVIG einzig während der zweijährigen Beitragsrahmenfrist gemäss Art. 9 Abs. 3
AVIG auf Befreiungsgründe berufen (E. 5.3.2).

Sachverhalt ab Seite 37

BGE 139 V 37 S. 37

A. M., geboren 1949, ist verheiratet und Mutter von Zwillingen (Geburtsjahr
2002). Ihr Ehemann wurde am 31. Dezember 2010 bei der Arbeitslosenversicherung
ausgesteuert. Sie hatte seit über sieben
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Jahren keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt, als sie sich am 25. Januar 2011
zur Arbeitsvermittlung anmeldete und Antrag auf Arbeitslosenentschädigung
stellte. Mit Verfügung vom 6. Oktober 2011 verneinte die Kantonale
Arbeitslosenkasse St. Gallen einen Anspruch auf Arbeitslosentaggelder ab 25.
Januar 2011 mit der Begründung, M. erfülle weder die Beitragszeit noch sei sie
von der Erfüllung der Beitragszeit befreit. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 1. Dezember 2011 fest.

B. In teilweiser Gutheissung der dagegen geführten Beschwerde hob das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid auf und
wies die Sache zur weiteren Abklärung und Neuverfügung im Sinne der Erwägungen
an die Arbeitslosenkasse zurück (Entscheid vom 16. August 2012).

C. Die Arbeitslosenkasse erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Antrag, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben
und es sei festzustellen, dass M. nicht von der Erfüllung der Beitragszeit
befreit werden könne.
M. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Staatssekretariat für
Wirtschaft (SECO) stellt das Rechtsbegehren, in Gutheissung der Beschwerde sei
der angefochtene Gerichtsentscheid zumindest insofern aufzuheben, als darin die
Aussteuerung des Ehepartners als Befreiungsgrund im Sinne von Art. 14 Abs. 2
AVIG (SR 837.0) anerkannt und die Kasse im sehr global gehaltenen Dispositiv
daran gebunden werde.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

5.

5.1 Gemäss Art. 14 Abs. 1 lit. b AVIG sind Personen, die innerhalb der
Rahmenfrist (Art. 9 Abs. 3 AVIG) während insgesamt mehr als zwölf Monaten nicht
in einem Arbeitsverhältnis standen und die Beitragszeit wegen Krankheit (Art. 3
ATSG [SR 830.1]), Unfall (Art. 4 ATSG) oder Mutterschaft (Art. 5 ATSG) nicht
erfüllen konnten, von der Erfüllung der Beitragszeit befreit, sofern sie
während dieser Zeit Wohnsitz in der Schweiz hatten.
Nach dem klaren Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 AVIG muss die versicherte Person
durch einen der in dieser Bestimmung genannten Gründe an der Ausübung einer
beitragspflichtigen Beschäftigung gehindert worden sein. Zwischen dem
Befreiungsgrund und der Nichterfüllung der Beitragszeit muss ein
Kausalzusammenhang bestehen. Dabei muss
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das Hindernis während mehr als zwölf Monaten bestanden haben (BGE 131 V 279 E.
1.2 S. 280; BGE 126 V 384 E. 2b S. 387). Denn bei kürzerer Verhinderung bleibt
der versicherten Person während der zweijährigen Rahmenfrist genügend Zeit, um
eine ausreichende beitragspflichtige Beschäftigung auszuüben. Da eine
Teilzeitbeschäftigung mit Bezug auf die Erfüllung der Beitragszeit einer
Vollzeitbeschäftigung gleichgestellt ist (Art. 11 Abs. 4 Satz 1 AVIV [SR
837.02]), liegt die erforderliche Kausalität zudem nur vor, wenn es der
versicherten Person aus einem der in Art. 14 Abs. 1 lit. a bis c AVIG genannten
Gründe auch nicht möglich und zumutbar war, ein Teilzeitarbeitsverhältnis
einzugehen (BGE 126 V 384 E. 2b S. 387; vgl. auch BGE 130 V 229 E. 1.2.3 S.
232; Urteil 8C_497/2010 vom 5. August 2010 E. 3.2).

5.2 Die Vorinstanz räumt ein, dass nach dem Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 AVIG
eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit nur in den Fällen von Art. 9
Abs. 3 AVIG, also ausschliesslich bei zweijährigen Beitragsrahmenfristen in
Betracht kommt. Sie vertritt allerdings die Auffassung, es sei auf ein Versehen
des Gesetzgebers zurückzuführen, dass Art. 14 AVIG im Rahmen der Teilrevision
im Jahr 2002 nicht an die verlängerten Rahmenfristen gemäss Art. 9a und 9b AVIG
angepasst worden sei. Denn es sei kein Grund ersichtlich, weshalb einer
versicherten Person innerhalb der vierjährigen Rahmenfrist zwar der Nachweis
von Beitragszeit, nicht jedoch die Berufung auf einen Befreiungsgrund
offenstehen solle. Der Versicherten sei beizupflichten, dass eine solche Praxis
eine nicht zu rechtfertigende Benachteiligung erziehender Mütter, also einer
Personengruppe, welche eigentlich gerade eines erhöhten Sozialschutzes bedürfe,
zur Folge hätte. Gestützt werde die Argumentation des kantonalen Gerichts zudem
durch Randziffer B72 des Kreisschreibens des SECO vom Januar 2007 über die
Arbeitslosenentschädigung (KS ALE). Im vorliegenden Fall habe die Verwaltung
demnach im Rahmen der Rückweisung abzuklären, ob innerhalb der vierjährigen
Beitragsrahmenfrist eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als zwölf Monaten zu
verzeichnen sei.

5.3

5.3.1 Art. 9b AVIG soll Personen, die infolge Geburt eines Kindes oder wegen
Erziehungsaufgaben ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, den Wiedereinstieg ins
Erwerbsleben erleichtern (THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in:
Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV,
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2. Aufl. 2007, S. 2214 Rz. 113). Bei Versicherten, für die zu Beginn der einem
Kind unter zehn Jahren gewidmeten Erziehung keine Rahmenfrist für den
Leistungsbezug lief, wird für die Erfüllung der Beitragszeit in Abweichung von
der normalerweise zweijährigen Dauer ein Zeitraum von vier Jahren herangezogen
(Art. 9b Abs. 2 AVIG). In diesem Fall muss sich die versicherte Person
spätestens drei Jahre nach der letzten beitragspflichtigen Beschäftigung zum
Leistungsbezug anmelden, da in der Zeitspanne von vier Jahren die
Mindestbeitragszeit von einem Jahr erfüllt sein muss (NUSSBAUMER, a.a.O., S.
2215 Rz. 116 und Fn. 253). Bei längerfristiger Abwesenheit vom Arbeitsmarkt ist
der Wiedereintritt ins Versicherungssystem nur über den Befreiungstatbestand
des Art. 14 AVIG möglich (NUSSBAUMER, a.a.O., S. 2214 Rz. 113).

5.3.2 Die Ausnahmeregelung des Art. 14 Abs. 1 AVIG verweist bezüglich des
massgebenden Zeitraums für die Beitragszeit einzig auf Art. 9 Abs. 3 AVIG. Die
zur Diskussion stehende Norm ist in dieser Hinsicht unmissverständlich
formuliert. Von einem Versehen des Gesetzgebers im Rahmen der Einführung der
verlängerten Rahmenfristen gemäss Art. 9a und 9b AVIG kann nicht ausgegangen
werden, denn die Kumulation von Art. 14 Abs. 1 und Art. 9b Abs. 2 AVIG
scheitert entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts bereits an der zur
Befreiung nach Art. 14 Abs. 1 AVIG geforderten Kausalität. Erkrankt nämlich
eine Person, welche sich der Erziehung ihrer Kinder widmet und deshalb keine
Erwerbstätigkeit ausübt, ist sie nicht durch die Krankheit verhindert, eine
Erwerbstätigkeit aufzunehmen, sondern wegen der Kinderbetreuung. Unterbrach sie
ihre Erwerbstätigkeit wegen Erziehungszeiten, kann sie gemäss Art. 9b Abs. 2
AVIG von einer vierjährigen Rahmenfrist für die Beitragszeit profitieren.
Wollte sie hingegen tatsächlich eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und war sie
wegen Krankheit (oder aus einem der weiteren gesetzlich vorgesehenen Gründe) an
der Aufnahme oder Weiterführung einer Erwerbstätigkeit verhindert, so ist sie
nach Massgabe von Art. 14 Abs. 1 AVIG, also falls sie diesen
Befreiungstatbestand in der ordentlichen Beitragsrahmenfrist von zwei Jahren
erfüllt, von der Erfüllung der Beitragszeit befreit, unabhängig davon, ob sie
ihre Beschäftigung zuvor wegen Erziehungszeiten oder aus einem anderen Motiv
aufgegeben hatte. Die gleichzeitige Berufung auf Erziehungszeiten und einen
Befreiungsgrund nach Art. 14 Abs. 1 AVIG zur Erklärung der fehlenden
Erwerbstätigkeit in einer auf vier Jahre verlängerten Beitragsrahmenfrist ist
nicht zulässig. Eine Diskriminierung
BGE 139 V 37 S. 41
von Personen, welche sich der Erziehung von Kindern widmen, lässt sich entgegen
der Ansicht von Beschwerdegegnerin und Vorinstanz nicht feststellen. Sie können
sich im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 AVIG während der normalen zweijährigen
Beitragsrahmenfrist ebenso auf Befreiungsgründe berufen, unabhängig davon, ob
sie in Bezug auf die Beitragszeit von einer verlängerten vierjährigen
Rahmenfrist profitieren. Die gesetzgeberische Regelungsabsicht verlangt nicht
nach einer über den Wortlaut hinausgehenden Interpretation von Art. 14 Abs. 1
AVIG. De lege lata verbietet sich folglich eine Bevorzugung von
Kinderbetreuungspersonen im Zusammenhang mit diesen Befreiungsgründen. Soweit
sich aus dem KS ALE vom Januar 2007 bzw. aus der AVIG-Praxis ALE, welche das KS
ALE zwischenzeitlich ersetzt hat, etwas anderes ergibt, kann darauf nicht
abgestellt werden.

5.3.3 Vorliegend stellte die Vorinstanz im invalidenversicherungsrechtlichen
Verfahren im Zusammenhang mit der Statusfrage fest, es sei unbestritten, dass
die Beschwerdegegnerin auch als Gesunde bis zur Einschulung der Zwillinge im
August 2009 nicht erwerbstätig gewesen wäre (Entscheid vom 31. Mai 2007 E. 3d).
Die Versicherte berief sich in ihrer Einsprache vom 14. Oktober 2011 gegen die
Verfügung der Arbeitslosenkasse (vom 6. Oktober 2011) denn auch ausdrücklich
(noch) nicht auf den Befreiungsgrund "Krankheit" gemäss Art. 14 Abs. 1 lit. b
AVIG, sondern einzig auf eine Beitragszeitbefreiung gestützt auf Art. 14 Abs. 2
AVIG. Das kantonale Gericht erachtete das Bestehen und das allfällige Ausmass
einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bis Ende 2008 als mangelhaft
abgeklärt. Hingegen stand für die Zeit ab 1. Januar 2009 keine eingeschränkte
Arbeitsfähigkeit mehr zur Debatte. Es war somit nicht eine krankheitsbedingte
Arbeitsunfähigkeit, welche die Versicherte innert der zweijährigen Rahmenfrist
für die Beitragszeit vom 25. Januar 2009 bis 24. Januar 2011 (Art. 9 Abs. 3
AVIG) während einer Dauer von mehr als zwölf Monaten an der Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit hinderte. Auch ohne die vom kantonalen Gericht angeordneten
zusätzlichen Abklärungen ist demzufolge offensichtlich, dass die Versicherte
keinen Befreiungsgrund im Sinne von Art. 14 Abs. 1 AVIG geltend machen kann. Im
Übrigen steht ihre im Laufe des Einsprache- und vorinstanzlichen
Beschwerdeverfahrens eingebrachte Behauptung, es liege der Befreiungsgrund
"Krankheit" vor (Schreiben vom 23. November 2011) und sie hätte ihre
Arbeitskraft dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt, wenn sie nicht krank
gewesen wäre (Replik im
BGE 139 V 37 S. 42
kantonalen Prozess vom 6. Februar 2012), im Widerspruch zu ihrem Vorbringen,
wonach erst die Aussteuerung ihres Ehemannes aus der Arbeitslosenversicherung
Ende 2010 Anlass zur Arbeitssuche geboten habe, weshalb ein Befreiungsgrund
nach Art. 14 Abs. 2 AVIG gegeben sei.