Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 349



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Urteilskopf

139 V 349

46. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. H. gegen
IV-Stelle Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_207/2012 vom 3. Juli 2013

Regeste

Art. 29 Abs. 1 und 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c
ATSG; Art. 59 Abs. 3 IVG; Art. 72^bis IVV; Einholung von Administrativ- und
Gerichtsgutachten; Wahrung eines fairen Verwaltungs- und Beschwerdeverfahrens.
Die Beschränkung der Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip auf Begutachtungen
mit drei und mehr Fachdisziplinen nach Art. 72^bis IVV ist rechtmässig (E. 2.2
und 5.4). Die übrigen rechtsstaatlichen Anforderungen gemäss BGE 137 V 210 sind
auf mono- und bidisziplinäre medizinische Begutachtungen sinngemäss anwendbar
(E. 3-5).

Sachverhalt ab Seite 349

BGE 139 V 349 S. 349

A. Die 1963 geborene H. bezieht seit Februar 2001 eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung. Massgebend für die Leistungszusprache waren die Folgen
eines unfallbedingten zervikozephalen Symptomenkomplexes, einer
Anpassungsstörung, Hypersomnie und Adipositas permagna (vgl. Gutachten des
medizinischen Abklärungsinstituts X. vom 3. Februar 2003).
Am 5. Oktober 2009 ersuchte H. um Revision der Invalidenrente. Die IV-Stelle
Bern zog verschiedene medizinische Berichte bei. Der Regionale Ärztliche Dienst
(RAD) der Invalidenversicherung empfahl, bei den Dres. R. und E. ein
rheumatologisch-psychiatrisches
BGE 139 V 349 S. 350
Gutachten einzuholen. Die Verwaltung teilte der Versicherten am 2. Juni 2011
mit, sie beabsichtige, diese Ärzte mit der Untersuchung zu betrauen. Triftige
Einwendungen gegen die Person der Gutachter und allfällige Gegenvorschläge
könnten bis 17. Juni 2011 eingereicht werden. H. verwahrte sich mit Schreiben
vom 14. Juni 2011 gegen die bezeichneten medizinischen Experten und machte
Gegenvorschläge; zudem äusserte sie sich zur fachlichen Ausrichtung der
Untersuchung.
Mit Vorbescheid vom 4. August 2011 teilte die IV-Stelle Bern H. mit, sie werde
ihr Ablehnungsgesuch abweisen. Am 27. September 2011 verfügte sie in diesem
Sinne.

B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde
ab, soweit es darauf eintrat (Entscheid vom 30. Januar 2012).

C.

C.a H. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es seien ihr
Leistungen nach dem IVG, insbesondere eine Rente, zuzusprechen. Vom Experten
Dr. E. sei Auskunft über dessen Gutachtertätigkeit einzuholen. Das
Ablehnungsbegehren gegen die Dres. E. und R. sei gutzuheissen. Alsdann sei die
Verwaltung zu verpflichten, ihr die Mitwirkungsrechte gemäss BGE 137 V 210
einzuräumen; die Gutachterstelle sei einvernehmlich zu bestimmen. Eventuell sei
das kantonale Gericht zu verpflichten, ein polydisziplinäres Gutachten in den
Fachdisziplinen Psychiatrie, Rheumatologie und Neurologie anzuordnen.
Schliesslich beantragt H., ihrer Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung
zuzuerkennen.
Die IV-Stelle Bern, das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und das
kantonale Gericht verzichten auf eine Stellungnahme.

C.b Die I. und die II. sozialrechtliche Abteilung haben zu folgenden
Rechtsfragen ein Verfahren nach Art. 23 Abs. 2 BGG durchgeführt:
"1. Ist die Beschränkung der Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip auf
Begutachtungen mit drei und mehr Fachdisziplinen nach Art. 72^bis IVV
rechtmässig?
2. Sind die übrigen rechtsstaatlichen Anforderungen gemäss der Rechtsprechung
BGE 137 V 210 auf mono- und bidisziplinäre Begutachtungen sinngemäss anwendbar?
"
Die beiden sozialrechtlichen Abteilungen haben diese Rechtsfragen mehrheitlich
(Rechtsfrage 1) bzw. einstimmig (Rechtsfrage 2) bejaht (Beschluss vom 24. Juni
2013).
BGE 139 V 349 S. 351
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerdeführerin macht unter anderem geltend, die Verwaltung hätte
vor der Vergabe des Begutachtungsauftrags an Dr. E. und Dr. R. eine Einigung
anstreben müssen; die damit einhergehenden Gehörsrechte seien ihr verweigert
worden. Nach erhobenem Widerspruch sollen sich gemäss BGE 137 V 210 E. 3.4.2.6
S. 256 beide Seiten um eine einvernehmliche Gutachtenseinholung bemühen. Die
angerufene Erwägung bezieht sich auf polydisziplinäre Gutachten.

2.2 Polydisziplinäre Gutachten, das heisst solche, an denen drei oder mehr
Fachdisziplinen beteiligt sind, haben nach dem Wortlaut von Art. 72^bis Abs. 1
IVV (SR 831.201; in der seit 1. März 2012 gültigen Fassung) bei einer
Gutachterstelle zu erfolgen, mit welcher das BSV eine Vereinbarung getroffen
hat. Gemeint sind die Medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) im Sinne von Art.
59 Abs. 3 IVG. Die Vergabe der Aufträge erfolgt nach dem Zufallsprinzip (Art.
72^bis Abs. 2 IVV). Zu dessen Umsetzung hat das BSV die webbasierte
Vergabeplattform SuisseMED@P eingerichtet, über welche der gesamte Verlauf der
Gutachtenseinholung gesteuert und kontrolliert wird (vgl. SuisseMED@P: Handbuch
für Gutachter- und IV-Stellen = Anhang V des Kreisschreibens über das Verfahren
in der Invalidenversicherung [KSVI] www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/
3946/lang:deu/category:34, Stand 21. August 2012; http://www.suissemedap.ch).
Bei mono- und bidisziplinären Gutachten dagegen werden die Aufträge nicht nach
diesem System vergeben. Damit ist der Kreis der in Frage kommenden
Sachverständigen hier weitaus grösser (z.B. Universitätskliniken, frei
praktizierende Ärzte und Gutachter; BGE 137 V 210 E. 3.1.1 S. 242). Nicht
ausgeschlossen ist freilich, dass Begutachtungsinstitute, die für den Bereich
der polydisziplinären Expertisen mit dem BSV eine Vereinbarung nach Art. 72^bis
IVV abgeschlossen haben, auch bidisziplinäre Expertisen erstatten; dies
erfolgte allerdings ausserhalb des MEDAS-Statuts. Da solche bidisziplinären
Gutachten keine MEDAS-Gutachten im Rechtssinne sind, rechtfertigt es sich
nicht, die betreffenden Aufträge anders abzuwickeln als diejenigen an andere
Sachverständige, die schon faktisch, mangels eines numerus clausus, nicht der
Zufallszuweisung unterstellt werden können.
BGE 139 V 349 S. 352

3.

3.1 Zu klären ist, ob und inwieweit die Grundsätze gemäss BGE 137 V 210 auf
mono- und bidisziplinäre Begutachtungen übertragbar sind.

3.2 Es existieren keine festen Kriterien zur allgemeingültigen Abgrenzung der
Anwendungsfelder der verschiedenen Kategorien von Expertisen. Die grosse
Vielfalt von Begutachtungssituationen erfordert Flexibilität. In groben Zügen
jedoch lassen sich die jeweiligen Einsatzbereiche wie folgt umreissen: Die
umfassende administrative Erstbegutachtung wird regelmässig polydisziplinär und
damit zufallsbasiert anzulegen sein; eine direkte Auftragserteilung soll die
Ausnahme bleiben. Eine polydisziplinäre Expertise ist auch dann einzuholen,
wenn der Gesundheitsschaden zwar bloss als auf eine oder zwei medizinische
Disziplinen fokussiert erscheint, die Beschaffenheit der Gesundheitsproblematik
aber noch nicht vollends gesichert ist. In begründeten Fällen kann von einer
polydisziplinären Begutachtung abgesehen und eine mono- oder bidisziplinäre
durchgeführt werden, sofern die medizinische Situation offenkundig
ausschliesslich ein oder zwei Fachgebiete beschlägt; weder dürfen weitere
interdisziplinäre Bezüge (z.B. internistischer Art) notwendig sein (zur
Interdisziplinarität der Begutachtung vgl. BGE 137 V 210 E. 1.2.4 S. 224) noch
darf ein besonderer arbeitsmedizinischer bzw. eingliederungsbezogener
Klärungsbedarf bestehen. Diese Voraussetzungen werden vor allem bei
Verlaufsbegutachtungen erfüllt sein.

3.3 Mit der Abgrenzung zwischen poly- und mono-/bidisziplinären Gutachten eng
verbunden ist die (vorgelagerte) Frage, wer für die Auswahl der Fachdisziplinen
überhaupt zuständig ist. Für die polydisziplinären Gutachten hält Anhang V des
KSVI (Handbuch, Nr. 6 f.) fest, dass die Gutachterstelle abschliessend darüber
entscheidet, welche Fachdisziplinen - neben den von der IV-Stelle gewünschten -
im Einzelfall zu begutachten sind; eine Erweiterung des Begutachtungsumfangs
muss sie im Rahmen der SuisseMED@P begründen. Jedoch sollen die von der
IV-Stelle gewählten Fachdisziplinen für die Gutachterstelle bindend sein
(Handbuch, Nr. 2). Eine derartige Bindung kann angezeigt sein, wenn die Auswahl
spezifisch versicherungsrechtlich oder -medizinisch begründet wird. Solche
Vorgaben führen häufig unmittelbar zur Beteiligung gewisser Disziplinen.
Gleichwohl ist die vorgesehene Bindung zu absolut. Sie lässt ausser Acht, dass
die fachliche Koordination einen zentralen Teil von Interdisziplinarität
ausmacht. Die beauftragten Sachverständigen sind
BGE 139 V 349 S. 353
letztverantwortlich einerseits für die fachliche Güte und die Vollständigkeit
der interdisziplinär erstellten Entscheidungsgrundlage, anderseits aber auch
für eine wirtschaftliche Abklärung. Mit dieser Gutachterpflicht nicht vereinbar
wäre es, wenn den Sachverständigen eine Disziplinenwahl aufgezwungen würde, die
sie - auch nach pflichtgemässer Würdigung der für den Auftrag ausschlaggebenden
Überlegungen - für (versicherungs-)medizinisch nicht vertretbar hielten. Den
Gutachtern muss es also freistehen, die von der IV-Stelle bzw. dem RAD (oder im
Beschwerdefall durch ein Gericht) bezeichneten Disziplinen gegenüber der
Auftraggeberin zur Diskussion zu stellen, wenn ihnen die Vorgaben nicht
einsichtig sind. Unter diesem Vorbehalt steht insbesondere auch eine vorgängige
Verständigung zwischen IV-Stelle und versicherter Person über die
Fachdisziplinen. Eine erneute Mitwirkung der versicherten Person in diesem
Punkt ist alsdann ausgeschlossen. Diese Überlegungen treffen grundsätzlich auch
mit Bezug auf bidisziplinäre Expertisen zu; vertreten die bezeichneten zwei
Gutachter eine abweichende Meinung über die zutreffenden Fachdisziplinen, so
wird dies naturgemäss zur Rückgabe des Auftrags führen.

4.

4.1 Das Bundesgericht hat bereits signalisiert, dass die Einholung von
medizinischen Gutachten im Bereich der Sozialversicherung insoweit einem
einheitlichen Verfahrensstandard folgen soll, als die jeweiligen Ausgangslagen
vergleichbar sind (BGE 138 V 318 [betreffend Geltung der Grundsätze nach BGE
137 V 210 im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung]). Die Übertragung
der Grundsätze auf Nicht-MEDAS-Gutachten bildet somit den Regelfall;
uneinheitliche Standards schüfen einen Anreiz, MEDAS-Gutachten zu vermeiden und
auf Gutachten mit weniger als drei Fachdisziplinen auszuweichen.

4.2 Für das Folgende ist wegleitend, dass die einzelne Vorkehr nach BGE 137 V
210 stets im Verbund mit weiteren einschlägigen Massnahmen - unter Einschluss
der Korrektive auf gerichtlicher Ebene (dazu unten E. 5.3) - wirksam wird (vgl.
BGE 137 V 210 E. 5 S. 266). Sie kann somit auch insofern nicht isoliert
behandelt werden, als es um ihre Ausdehnung auf mono- und bidisziplinäre
Gutachten geht. So erhält die Obliegenheit von IV-Stelle und versicherter
Person, eine einvernehmliche Gutachterbestellung anzustreben, dort ihre
besondere Bedeutung, wo Aufträge für Expertisen mit weniger als drei
Fachdisziplinen nicht nach dem Zufallsprinzip vergeben werden (vgl. unten E.
5.2.2.3).
BGE 139 V 349 S. 354

5.

5.1 Wird anstelle eines polydisziplinären (MEDAS-)Gutachtens eine mono- oder
bidisziplinäre Expertise eingeholt, so sind dieselben Partizipationsrechte
beachtlich (vgl. PHILIPP EGLI, Rechtsverwirklichung durch
Sozialversicherungsverfahren, 2012, S. 263 f.; CHRISTIAN HAAG, Grundsatzurteil
zur medizinischen Begutachtung der Invalidenversicherung, SAeZ 2011 S. 2020).
Bei Uneinigkeit ist eine Begutachtung demnach mit anfechtbarer
Zwischenverfügung anzuordnen; zudem hat die versicherte Person ein Recht zur
vorgängigen Fragestellung (BGE 137 V 210 E. 3.4 S. 246 ff.). Auch die auf
Verbesserung und Vereinheitlichung der Qualitätsanforderungen und -kontrolle
zielenden Vorkehren (BGE 137 V 210 E. 3.3 S. 245) sind - soweit nicht
spezifisch auf die MEDAS angelegt - sinngemäss auf die mono- oder
bidisziplinären Expertisen zu übertragen (zur appellatorischen Natur unter
anderem dieses Punktes vgl. BGE 137 V 210 E. 5 S. 266).

5.2 Die vorliegend thematisierte Obliegenheit von IV-Stelle und versicherter
Person, eine einvernehmliche Gutachtenseinholung anzustreben, wird von den
Akteuren teilweise unterschiedlich verstanden.

5.2.1 Rechtsvertreter von versicherten Personen äussern bisweilen die
Auffassung, dass die zu beauftragende Gutachterstelle nur noch mit ihrem
Einverständnis bezeichnet werden dürfe, sobald sie personenbezogene
Einwendungen vorgebracht hätten. Eine so weitgehende Priorisierung der
einvernehmlichen Gutachtenseinholung käme indessen einem Vetorecht der
versicherten Person gleich; ist ein Einwand begründet, so bedeutet dies nicht,
dass Gegenvorschlägen der versicherten Person ohne Weiteres zu folgen wäre.
Ansonsten drohte wiederum eine - nunmehr freilich unter umgekehrten Vorzeichen
- ergebnisorientierte Auswahl der Gutachterstelle.
Bei polydisziplinären Begutachtungen erfolgt die Gutachterwahl immer nach dem
Zufallsprinzip (Art. 72^bis Abs. 2 IVV); die Zufallszuweisung ist im Falle
stichhaltiger Einwendungen gegen bezeichnete Sachverständige allenfalls zu
wiederholen bzw. zu modifizieren, indem die Beteiligten z.B. übereinkommen, an
der ausgelosten MEDAS festzuhalten, dabei aber eine Arztperson nicht mitwirken
zu lassen. Bei erneuter Nichteinigkeit wird letztlich eine Zwischenverfügung
erlassen.

5.2.2 Weiter wird in der Praxis mitunter unter Hinweis auf Art. 72^bis Abs. 2
IVV die Auffassung vertreten, das Hinwirken auf eine Einigung sei nach
Einführung der Zuweisungsplattform SuisseMED@P hinfällig. Doch dies trifft nur
teilweise zu.
BGE 139 V 349 S. 355

5.2.2.1 Die Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip neutralisiert - zusammen
mit den weiteren Vorgaben nach BGE 137 V 210 - generelle, aus den
Rahmenbedingungen des Gutachterwesens fliessende Abhängigkeits- und
Befangenheitsbefürchtungen (dazu BGE 137 V 210 E. 2.4 S. 237). Nicht
einzelfallbezogene Bedenken werden gegenstandslos (nicht publ. E. 1.2.1).
Indessen müssen sich die Beteiligten auch nach Einführung der
Zuweisungsplattform SuisseMED@P mit Einwendungen auseinandersetzen, die sich
aus dem konkreten Einzelfall ergeben.
Bei mono- und bidisziplinären Begutachtungen fragt sich, ob darüber hinaus zum
Ausgleich für die fehlende zufallsbasierte Zuweisung einzelfallunabhängige,
allgemein-strukturelle Einwendungen zugelassen werden sollen. Dies ist zu
verneinen: Typische Einwendungen - so, Gerichte hätten in früheren Fällen aus
verallgemeinerungsfähigen Gründen auf Gutachten des vorgeschlagenen
Sachverständigen nicht abgestellt - können in der täglichen Praxis mit
zumutbarem Aufwand oftmals weder bestätigt noch widerlegt werden. Bestehen
nicht im konkreten Einzelfall formelle Ausstandsgründe, so muss das Ziel,
möglichst beweistaugliche gutachtliche Aussagen zu erhalten, weitgehend
indirekt, über die weiteren in BGE 137 V 210 vorgesehenen verfahrensrechtlichen
Rahmenbedingungen der Auftragsvergabe, verfolgt werden (vgl. BGE 137 V 210 E.
2.5 S. 241 oben, E. 3.4.2.4 und 3.4.2.5 S. 254 f. sowie E. 3.4.2.7 S. 256). Die
beiden Kategorien von Gutachten werden hinsichtlich der partizipatorischen
Verfahrensrechte und der übrigen Rahmenbedingungen der Gutachtensbestellung auf
administrativer und gerichtlicher Ebene einander weitgehend angeglichen (oben
E. 4 und 5.1).

5.2.2.2 Gemäss Rz. 2080 ff. KSVI teilt die IV-Stelle der versicherten Person in
einem ersten Schritt mit, dass eine Expertise eingeholt werden soll; zugleich
gibt sie ihr die Art der vorgesehenen Begutachtung (poly- oder mono- bzw.
bidisziplinär) sowie die vorgesehenen Fachdisziplinen und Gutachterfragen
bekannt (zur Frage der Letztverantwortung der Gutachterstellen für die Auswahl
der Fachdisziplinen vgl. oben E. 3.3). In diesem Stadium kann die versicherte
Person erst einmal (nicht personenbezogene) materielle Einwendungen gegen eine
Begutachtung an sich oder gegen Art oder Umfang der Begutachtung vorbringen
(Beispiele: unnötige second opinion ; unzutreffende Wahl der medizinischen
Disziplinen). In einem zweiten Verfahrensschritt teilt die IV-Stelle der
versicherten Person die
BGE 139 V 349 S. 356
durch SuisseMED@P zugeteilte Gutachterstelle (bzw. bei mono- und
bidisziplinären Expertisen die von ihr ausgewählten Gutachter) und die Namen
der Sachverständigen mit jeweiligem Facharzttitel mit. Mit der Bezeichnung der
Sachverständigen kommt die Möglichkeit (materieller oder formeller)
personenbezogener Einwendungen hinzu.

5.2.2.3 Bei mono- und bidisziplinären Begutachtungen ist im Falle aller
zulässigen Einwendungen konsensorientiert vorzugehen. Erst wenn eine Einigung
ausbleibt, ergeht eine (einheitliche) Zwischenverfügung über die Beweisvorkehr
an sich (Notwendigkeit einer Begutachtung, Beschränkung auf eine oder zwei
Fachdisziplinen, Bezeichnung der Disziplinen) und die Person der Gutachter
(vgl. Rz. 2081.1, 2082.1, 2083, 2083.1 KSVI).

5.2.3 Das Kreisschreiben sieht vor, dass Einwände und Zusatzfragen innert zehn
Tagen seit der Mitteilung einzureichen sind; diese Frist kann auf schriftliches
Gesuch hin verlängert werden (Rz. 2082 KSVI; vgl. auch Rz. 2085.2 KSVI). Gegen
diese Regelung ist grundsätzlich nichts einzuwenden, da das Verfahren einfach
und rasch bleiben muss.

5.3 In eine Gesamtbetrachtung der Verfahrensgarantien bei der Einholung
medizinischer Expertisen (dazu oben E. 4) ist weiter einzubeziehen, dass im
erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren vermehrt Gerichtsgutachten einzuholen
sind (BGE 137 V 210 E. 4 S. 258).
Diese der prozessualen Chancengleichheit (BGE 137 V 210 E. 2.1.2.1 S. 229)
dienende zusätzliche Sicherung ist bei mono- und bidisziplinären Begutachtungen
wiederum besonders bedeutsam, weil hier die Vergabe nach dem Zufallsprinzip
entfällt. Die Zuständigkeit der Gerichte zur Beweiserhebung (Art. 61 lit. c
ATSG [SR 830.1]) umfasst deren Ermessen, unter Wahrung des rechtlichen Gehörs
der Parteien die Gutachterstelle auszuwählen und in Abwägung der zu klärenden
Punkte über die Anzahl und Art der Fachdisziplinen zu befinden (vgl. aber auch
oben E. 3.3). Als das Bundesgericht mit Bezug auf polydisziplinäre Gutachten
ausgeführt hat, auch für interdisziplinäre Gerichtsgutachten stünden die MEDAS
im Vordergrund, und zugleich anregte, es sei zu prüfen, inwieweit den Gerichten
über SuisseMED@P Daten über deren Auslastung zur Verfügung gestellt werden
könnten, hat es die Beschwerdeinstanzen damit ausdrücklich nicht verpflichtet,
auf diese Institute zurückzugreifen (vgl. BGE 137 V 210 E. 4.4.1.5 S. 265).
BGE 139 V 349 S. 357

5.4 Zusammengefasst ergibt sich, dass die Anforderungen an die medizinische
Begutachtung, wie sie in BGE 137 V 210 für polydisziplinäre
MEDAS-Begutachtungen umschrieben worden sind, grundsätzlich sinngemäss auf
mono- und bidisziplinäre Expertisierungen anwendbar sind. Das gilt sowohl für
die justiziablen Garantien (Partizipationsrechte, Verfügungspflichten und
Rechtsschutz) als auch für die appellativen Teilgehalte von BGE 137 V 210. Eine
Ausnahme für Begutachtungen mit weniger als drei Fachdisziplinen ist
hinsichtlich des Zufallsprinzips, das nach dem Gesagten dem Einigungsgedanken
vorgeht, hinzunehmen. Der Geltungsbereich von Art. 72^bis IVV (nur
polydisziplinäre Begutachtungen) kann sich auf sachliche Gründe (vgl. E. 2.2 in
fine) stützen. Mit Blick auf den weiten Gestaltungsspielraum, den der Bundesrat
bei der Setzung unselbständigen Verordnungsrechts geniesst (BGE 133 V 42 E. 3.1
S. 44; BGE 131 II 162 E. 2.3 S. 166, BGE 131 II 271 E. 4 S. 275; BGE 131 V 9 E.
3.4.1 S. 14), erscheint die auf den 1. März 2012 in Kraft gesetzte Regelung als
rechtmässig (Beschluss der Vereinigung der I. und II. sozialrechtlichen
Abteilung vom 24. Juni 2013). Umso wichtiger ist die Beachtung der
Verfahrensgarantien bei mono- und bidisziplinären Expertisen, welche nicht als
Vehikel zur Umgehung des zufallsbasierten MEDAS-Zuweisungssystems missbraucht
werden dürfen. Dieses ist das Regelinstrument zur medizinischen
Sachverhaltsabklärung im nichtstreitigen Verfahren der Invalidenversicherung
für komplexe Fälle. Weicht die IV-Stelle davon ab, indem sie von einer MEDAS
eine bi- oder gar bloss monodisziplinäre Expertise einholen will, so hat sie in
einem solchen Ausnahmefall zwingend einen Einigungsversuch einzuleiten.
Scheitert dieser, ist darüber zu verfügen.

5.5 Die grundsätzliche Bestätigung der Rechtmässigkeit des in Art. 72^bis IVV
angelegten SuisseMED@P-Systems (E. 5.4) bedeutet nicht, dass die
Aufsichtsbehörde von der weiteren Umsetzung der Appellanforderungen gemäss BGE
137 V 210 E. 3.1-3.3 S. 242 ff. in Verbindung mit E. 5 S. 266 enthoben wäre.
Zunächst ist durch eine periodische Berichterstattung Transparenz über die
Anwendungspraxis der Plattform herzustellen (Anzahl der bei den angeschlossenen
MEDAS eingeholten polydisziplinären Gutachten), ergänzt durch ordnungsgemässe
(Jahres-)Berichte der einzelnen Institute über ihre sonstige
Sachverständigentätigkeit, vor allem bezüglich der bi- und monodisziplinären
Expertisen für die IV-Stellen. Sodann ist die Sicherstellung von Qualität und
Einheitlichkeit der Begutachtungen (BGE 137 V 210 E. 3.3 S. 245 f.; vgl. auch
E. 3.1.2 in fine S. 243: Ausbau der
BGE 139 V 349 S. 358
Plattform zu einem Instrument der Gutachtensevaluation) zielstrebig
voranzutreiben. Denkbare Modelle sind die Bildung eines tripartit
(Versicherung, Versicherte, Medizin) besetzten Begleitgremiums, welches die
Durchführung der Plattform und überhaupt die IV-Begutachtungen fachlich
kontrolliert, oder die Schaffung von Zertifizierungsrichtlinien für
Arztpersonen, welche für die Invalidenversicherung Begutachtungen vornehmen
wollen (vgl. zu den entsprechenden Bestrebungen im Strafrecht: MARIANNE HEER,
in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N.13 ff. und 18
zu Art. 183 StPO; Verordnung des Regierungsrates und des Obergerichts des
Kantons Zürich vom 1./8. September 2010 über psychiatrische und psychologische
Gutachten in Straf- und Zivilverfahren [PPGV]; LS 321.4). Das Bundesgericht
wird die Umsetzung der Appellativanforderungen weiterhin beobachten und behält
sich, je nach deren Ergebnis, eine neue rechtliche Überprüfung vor.