Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 346



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Urteilskopf

139 V 346

45. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle des
Kantons Aargau gegen H. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_32/2013 vom 19. Juni 2013

Regeste

Art. 4 und 28 Abs. 2 IVG; Art. 6, 7 und 8 ATSG; tumorassoziierte Fatigue
(Cancer-related Fatigue).
Die Grundsätze zur Überwindbarkeit eines Leidens gemäss der sog.
Schmerzstörungspraxis nach BGE 130 V 352 sind nicht sinngemäss anwendbar, wenn
sich die Frage nach der invalidisierenden Wirkung einer Cancer-related Fatigue
stellt (E. 3).

Erwägungen ab Seite 346

BGE 139 V 346 S. 346
Aus den Erwägungen:

2. Der Geltungsbereich der zunächst auf die somatoforme Schmerzstörung (ICD-10
F45.4) bezogenen Rechtsprechung nach BGE 130 V 352 wurde sukzessive auf weitere
pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ausgedehnt.
Zunächst wurde die Fibromyalgie (ICD-10 M79.0) unterstellt (BGE 132 V 65),
sodann die dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörung (ICD-10 F44.6;
SVR 2007 IV Nr. 45 S. 149, I 9/07 E. 4), das chronische
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Müdigkeitssyndrom (CFS) und die Neurasthenie (SVR 2011 IV Nr. 26 S. 73, 9C_662/
2009 E. 2.3; SVR 2011 IV Nr. 17 S. 44, 9C_98/2010 E. 2.2.2; Urteil I 70/07 vom
14. April 2008 E. 5), die Folgen von milden Verletzungen der Halswirbelsäule
("Schleudertrauma"; BGE 136 V 279) sowie die nichtorganische Hypersomnie (BGE
137 V 64).

3.

3.1 Die Beschwerde führende IV-Stelle vertritt die Auffassung, die
invalidisierende Wirkung des von den Gutachtern diagnostizierten Leidens einer
tumorassoziierten Fatigue (Cancer-related Fatigue [CrF]) beurteile sich -
entgegen den Erwägungen der Vorinstanz - sinngemäss nach der Rechtsprechung zu
den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen und sei im Lichte der dort
herangezogenen Kriterien zu verneinen.

3.2 Krebsbedingte Fatigue ist ein multidimensionales Syndrom, unter dem die
Mehrheit der Krebspatientinnen und -patienten während der Therapie leidet. Die
CrF kann viele Jahre nach Therapieabschluss andauern und wird durch physische,
psychologische und auch soziale Faktoren beeinflusst. Alle Erklärungsmodelle
zur Ursache und Entstehung von Müdigkeits- und Erschöpfungssyndromen gehen von
komplexen und multikausalen Vorgängen aus. Bei der CrF können diese durch den
Tumor bedingt oder Folge der Therapie, aber auch Ausdruck einer genetischen
Disposition, begleitender somatischer oder psychischer Erkrankungen, wie auch
verhaltens- oder umweltbedingter Faktoren sein. So besteht Evidenz für
metabolische Ursachen, endokrinologische und neurophysiologische Veränderungen
und Cytokine. Chemo- und radiotherapeutische Behandlungsschemata scheinen eine
Rolle zu spielen, wobei der Toxizität der Behandlung selbst, wie auch der
Akkumulation zerstörter Tumorzellprodukte ätiologische Bedeutung zukommt.
Diskutiert wird auch die These, dass die Energieanforderungen durch die
Tumorerkrankung oder durch die Begleitsymptomatik einen Einfluss haben oder die
möglicherweise durch den Tumornekrosefaktor mitbedingte Verminderung der
Skelettmuskelmasse eine Rolle spielen kann (BRUMMER/FLADUNG/CONNEMANN,
Tumorassoziierte Fatigue, Onkologische Welt 5/2011 S. 223 ff.; HEIM/FEYER, Das
tumorassoziierte Fatigue-Syndrom, Journal Onkologie 1/2011 S. 42-47). Es werden
verschiedene pathophysiologische Faktoren diskutiert und bei der häufig stark
verminderten körperlichen Leistungsfähigkeit als Ursachen vornehmlich
Veränderungen in kortikalen und spinalen Zentren der Sensomotorik wie auch
solche des muskulären
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Erregungs- und Energiestoffwechsels beschrieben (HORNEBER UND ANDERE,
Tumor-assoziierte Fatigue, Epidemiologie, Pathogenese, Diagnostik und Therapie,
Deutsches Ärzteblatt, 109 9/2012 S. 161-171).

3.3 Ursachen und Entstehung der CrF sind demnach nach derzeitigem
Forschungsstand nicht ganz geklärt. Es besteht in der medizinischen Fachwelt
aber Einigkeit darüber, dass sie komplex sind und, wie dargelegt, somatische,
emotionale, kognitive und psychosoziale Faktoren zusammenspielen. Die CrF kann
- auch wenn zugrunde liegende internistische oder psychiatrische Erkrankungen
behandelt worden sind - in 30 bis 40 % noch längere Zeit nach Therapieabschluss
andauern. Diese (hier vorliegende) chronische Fatigue wird in Zusammenhang
gebracht mit der Krankheitsverarbeitung oder langfristigen Anpassungsproblemen.
Sie wird aber auch als mögliche Spätfolge der Therapie im Bereich von Störungen
des Stoffwechsels oder der psychovegetativen Selbstregulation des Körpers
gesehen.

3.4 Definitionsbedingt tritt diese Form der Fatigue zwingend in Zusammenhang
mit einer Krebserkrankung auf. Ein Hinweis auf die Einordnung in die
somatoformen Störungen findet sich in der medizinischen Literatur nicht. Damit
grenzt sich die tumorassoziierte Fatigue auch klar vom Chronic Fatigue Syndrome
(CFS; ICD-10 G93.3) als eigenständiges Krankheitsbild ab, wenngleich die CrF
noch nicht als eigene Krankheitsentität Eingang in die ICD (Internationale
statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme)
gefunden hat. Es bestehen aber von der Fatigue-Coalition definierte
Diagnosekriterien analog zu ICD-10-Kriterien (HEIM/FEYER, a.a.O., S. 42).
Als Begleitsymptom onkologischer Erkrankungen und ihrer Therapie liegt der CrF
zumindest mittelbar eine organische Ursache zugrunde, weshalb es sich mit der
Vorinstanz nicht rechtfertigt, sozialversicherungsrechtlich auf die
tumorassoziierte Fatigue die zum invalidisierenden Charakter somatoformer
Schmerzstörungen entwickelten Grundsätze (BGE 130 V 352) analog anzuwenden.