Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 335



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

139 V 335

43. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für
Sozialversicherungen gegen M. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_109/2013 vom 8. Juli 2013

Regeste

Abkommen vom 8. Juni 1962 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der (ehemaligen) Föderativen Volksrepublik Jugoslawien über Sozialversicherung
(Sozialversicherungsabkommen); intertemporalrechtliche Anwendbarkeit.
Gemäss dem Grundsatz, wonach in zeitlicher Hinsicht regelmässig diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben, bildet für die Frage, ob das für
Angehörige der heutigen Republik Kosovo per Ende März 2010 ausser Kraft
gesetzte Sozialversicherungsabkommen (vgl. BGE 139 V 263) weiterhin zur
Anwendung gelangt, die Entstehung des IV-Rentenanspruchs und nicht der
Zeitpunkt des Verfügungserlasses den massgebenden Anknüpfungspunkt. Soweit dem
IV-Rundschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherungen Nr. 290 vom 29.
Januar 2010 etwas Gegenteiliges zu entnehmen ist, kann darauf nicht abgestellt
werden (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 336

BGE 139 V 335 S. 336
Der kosovarische Staatsangehörige M., geb. 1963, wohnhaft in der Schweiz, ist
verheiratet und Vater von sechs Kindern (geb. 1986, 1987, 1990, 1992, 1994 und
1994), die in Kosovo leben. Die IV-Stelle des Kantons Aargau (nachfolgend:
IV-Stelle) sprach ihm mit Verfügung vom 12. Juli 2011 rückwirkend ab 1. August
2009 eine Dreiviertelsrente auf der Grundlage einer Invalidität von 67 % zu.
Kinderrenten wurden keine zugesprochen.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 13. Dezember 2012 in
BGE 139 V 335 S. 337
Bezug auf den Anspruch auf Kinderrenten für die 1992 und 1994 geborenen Kinder
gut und wies die Verwaltung an, M. Kinderrenten zuzusprechen.
Das Bundesgericht weist die vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
erhobene Beschwerde ab.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Gemäss Art. 35 Abs. 1 IVG haben Männer und Frauen, denen eine
Invalidenrente zusteht, für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine
Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte,
Anspruch auf eine Kinderrente. Diese beträgt 40 % der dem massgebenden
durchschnittlichen Jahreseinkommen entsprechenden Invalidenrente, wobei die
gleichen Berechnungsregeln gelten wie für die jeweilige Invalidenrente (Art. 38
IVG). Nach Art. 6 Abs. 2 IVG werden für im Ausland wohnhafte Angehörige von
ausländischen Rentenberechtigten keine Leistungen gewährt. Abweichende
staatsvertragliche Regelungen bleiben vorbehalten.

3.2 Streitig und zu prüfen ist, ob sich der in der Schweiz lebende
Beschwerdegegner als kosovarischer Staatsangehöriger und
Hauptrentenberechtigter bezüglich des Anspruchs auf Kinderrenten für seine in
Kosovo lebenden Kinder auf das Abkommen vom 8. Juni 1962 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der (ehemaligen) Föderativen
Volksrepublik Jugoslawien über Sozialversicherung (SR 0.831.109.818.1 [in Kraft
getreten am 1. März 1964]; nachfolgend: Sozialversicherungsabkommen) berufen
kann. Während die Vorinstanz dies bejaht, sprechen sich BSV und IV-Stelle
dagegen aus.

4. (...)

4.2 Im Grundsatzurteil BGE 139 V 263 hat das Bundesgericht erkannt, dass die
ehemals serbische Provinz und heutige Republik Kosovo mit ihrer Sezession eine
- sowohl in territorialer als auch (vertrags-)rechtlicher Hinsicht -
völkerrechtlich wirksame Änderung herbeigeführt hat und die
Nichtweiteranwendung des Sozialversicherungsabkommens durch die Schweiz auf die
neue Gebietskörperschaft ab 1. April 2010 rechtmässig ist (E. 2-8).

5.

5.1 Im Weiteren wurde in BGE 139 V 263 erwogen, aus der Tatsache, dass die
Republik Kosovo die multiple Staatsbürgerschaft
BGE 139 V 335 S. 338
zulasse, könne nicht abgeleitet werden, dass kosovarische Staatsangehörige ohne
weiteres kosovarisch-serbische Doppelbürger seien. Ein Automatismus oder der
Grundsatz, dass Personen aus dem Kosovo neben der Staatsangehörigkeit des
Kosovos auch die serbische Staatsangehörigkeit besässen, sei zu verneinen.
Dennoch könne das Vorliegen einer kosovarisch-serbischen Doppelbürgerschaft
aber nicht ausgeschlossen werden. Eine solche sei indessen nicht nur
überzeugend zu behaupten, sondern rechtsgenüglich zu belegen (E. 9-12, insb. E.
12.2; vgl. auch Mitteilungen des BSV an die AHV-Ausgleichskassen und
EL-Durchführungsstellen Nr. 326 vom 20. Februar 2013).
(...)

6.

6.1 Die Nichtweiterführung des Sozialversicherungsabkommens mit Kosovo hat zur
Folge, dass Staatsangehörige des Kosovos künftig nicht mehr die Rechtsstellung
als Vertragsausländerinnen und -ausländer innehaben. Sie gelten neu als
Nichtvertragsausländerinnen und -ausländer. Dieser Statuswechsel hat einerseits
Auswirkungen auf die Anspruchsvoraussetzungen (versicherungsmässige
Voraussetzungen) und führt anderseits dazu, dass Renten der
Invalidenversicherung von Staatsangehörigen des Kosovos, die für den Zeitraum
nach dem 31. März 2010 zugesprochen werden, gemäss Art. 6 Abs. 2 Satz 2 IVG
nicht mehr ins Ausland exportierbar sind. Sie werden nurmehr innerhalb der
Schweiz gewährt. Die laufenden Renten geniessen demgegenüber gemäss Art. 25 des
Sozialversicherungsabkommens den Besitzstand.

6.2 Die IV-Stelle hat dem Beschwerdegegner mit Verfügung vom 12. Juli 2011
rückwirkend per 1. August 2009 eine Dreiviertelsrente zugesprochen. Die
versicherungsmässigen Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Rente waren
mithin ab Anfang August 2009 gegeben. In zeitlicher Hinsicht sind regelmässig
diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 130 V 445 E. 1.2.1 S. 447; BGE 127 V
466 E. 1 S. 467). Dieser auch im vorliegenden Fall geltende Grundsatz führt zum
Schluss, dass im Moment der Entstehung des Rentenanspruchs des
Beschwerdegegners das Sozialversicherungsabkommen für ihn noch Gültigkeit
besass. Keine relevante Bedeutung beizumessen ist im betreffenden Zusammenhang
demgegenüber dem Zeitpunkt des Verfügungserlasses, haftet diesem doch stets
eine gewisse Willkür an bzw. hängt er stark von nicht oder nur durch die
BGE 139 V 335 S. 339
Verwaltung beeinflussbaren Faktoren ab. Soweit dem IV-Rundschreiben des BSV Nr.
290 vom 29. Januar 2010 in Bezug auf den zeitlich relevanten Anknüpfungspunkt
etwas Gegenteiliges zu entnehmen ist, kann darauf nicht abgestellt werden.
Findet das Sozialversicherungsabkommen auf den Beschwerdegegner nach dem
Gesagten intertemporalrechtlich dennoch Anwendung, woraus die Zulässigkeit
eines Exports von ihm zustehenden Kinderrenten in den Kosovo resultiert,
erweist sich der vorinstanzliche Entscheid im Ergebnis als rechtens.