Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 225



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Urteilskopf

139 V 225

30. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen
Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_984/2012 vom 6. Juni 2013

Regeste

Art. 61 lit. a und c ATSG; Kostentragung eines gerichtlich eingeholten
Gutachtens im Verfahren der Unfallversicherung.
Die Kosten für ein Gutachten, welches das kantonale Gericht bei festgestellter
Abklärungsbedürftigkeit im Sinne von BGE 137 V 210 anstelle einer Rückweisung
selber einholt, können auch im Verfahren der Unfallversicherung dem
Versicherungsträger auferlegt werden (E. 4.3).

Erwägungen ab Seite 226

BGE 139 V 225 S. 226
Aus den Erwägungen:

4.

4.1 Die Vorinstanz hat die Überbindung der Kosten des Gerichtsgutachtens mit
Berufung auf BGE 137 V 210 begründet. Sie hat ausgeführt, das von Prof. Dr.
med. F. und PD Dr. med. A. erstellte Gerichtsgutachten vom 30. April 2012 habe
den Eindruck bestätigt, den die übrigen medizinischen Akten erweckt hätten, und
sei daher für die Beurteilung des Anspruchs unerlässlich gewesen, weshalb die
Kosten dafür von der SUVA zu tragen seien.

4.2 In BGE 137 V 210 hat das Bundesgericht erwogen, bei festgestellter
Abklärungsbedürftigkeit, so namentlich bei nicht ausreichender Beweiswertigkeit
der Abklärungsergebnisse aus dem Verwaltungsverfahren in rechtserheblichen
Punkten, habe das angerufene kantonale Versicherungsgericht grundsätzlich
selber eine medizinische Begutachtung anzuordnen (E. 4.4.1.3 bis 4.4.1.5). Wo
zur Durchführung der vom Gericht als notwendig erachteten Beweismassnahme an
sich eine Rückweisung in Frage käme, eine solche indessen mit Blick auf die
Wahrung der Verfahrensfairness entfalle, seien die Kosten der Begutachtung
durch eine medizinische Abklärungsstelle der IV (MEDAS) - so das Bundesgericht
weiter - den IV-Stellen aufzuerlegen und nach der tarifvertraglichen Regelung
zu berechnen. Die Vergütung der Kosten von MEDAS-Abklärungen als
Gerichtsgutachten durch die IV-Stelle sei mit Art. 45 Abs. 1 ATSG (SR 830.1)
durchaus vereinbar, da der Versicherungsträger gemäss dieser Bestimmung bei
Nichtanordnen einer Massnahme deren Kosten dennoch zu übernehmen habe, wenn die
Massnahmen für die Beurteilung des Anspruchs unerlässlich gewesen seien oder
Bestandteil nachträglich zugesprochener Leistungen gebildet hätten (E. 4.4.2).

4.3 Diese Erwägungen des Bundesgerichts betreffen die Vergütung der Kosten von
MEDAS-Abklärungen als Gerichtsgutachten durch die IV-Stellen. Sie gelten indes
sinngemäss auch für Gerichtsgutachten, welche das kantonale Gericht bei
festgestellter Abklärungsbedürftigkeit in einem Verfahren der
Unfallversicherung anstelle einer Rückweisung selber einholt, sind doch sowohl
im Abklärungsverfahren der Invalidenversicherung wie auch in demjenigen der
Unfallversicherung grundsätzlich dieselben Verfahrensbestimmungen, namentlich
Art. 43-49 ATSG massgebend (vgl. BGE 138 V 318 E. 6.1.2 S. 322). Die Kosten
eines Gerichtsgutachtens können somit
BGE 139 V 225 S. 227
dem Unfallversicherer auferlegt werden, wenn die Abklärungsergebnisse aus dem
Verwaltungsverfahren in rechtserheblichen Punkten nicht ausreichend
beweiswertig sind, und zur Durchführung der vom Gericht als notwendig
erachteten Beweismassnahme an sich eine Rückweisung in Frage käme, eine solche
indessen mit Blick auf die Wahrung der Verfahrensfairness entfällt (vgl. BGE
137 V 210 E. 4.4.1 und 4.4.2 S. 263 ff.).

4.4 Die Überbindbarkeit der Kosten eines Gerichtsgutachtens auf den
Unfallversicherer im Sinne von BGE 137 V 210 wird von der SUVA nicht
grundsätzlich bestritten. Sie macht jedoch geltend, im vorliegenden Fall habe
das eingeholte Gutachten der Vorinstanz dazu dienen sollen, Argumente pro und
contra Unfallkausalität zu generieren, um anschliessend die aktenkundige
Kontroverse in der einen oder andern Richtung beantworten und begründen zu
können. Es sei somit um einen Akt der Beweiswürdigung gegangen, wie es Art. 61
lit. c ATSG vorsehe, nicht um eine Lückenfüllung zu einem medizinischen
Sachverhalt.

5. Zu prüfen ist, aus welchem Grund die Vorinstanz das Gerichtsgutachten
eingeholt hat. Im kantonalen Verfahren zwischen Unfall- und Krankenversicherer
materiell zu beurteilen war die Frage, ob die Operation vom 12. Januar 2010 der
Behandlung eines auf den Unfall vom 21. November 2008 zurückzuführenden Leidens
gedient hat, was eine Leistungspflicht der obligatorischen Unfallversicherung
zur Folge hätte.

5.1 Zur massgebenden Frage der Unfallkausalität enthalten die Akten mehrere
sich widersprechende medizinische Berichte.

5.1.1 Der behandelnde Dr. med. H., Facharzt FMH für Orthopädische Chirurgie und
Traumatologie des Bewegungsapparates, führte im Bericht vom 4. Februar 2010
aus, bei den Beschwerden, welche zur Operation vom 12. Januar 2010 geführt
hätten, handle es sich um eine posttraumatische Gonarthrose. Bereits anlässlich
der Arthroskopie vom 8. Januar 2009 habe sich am Femurcondylus ein
unterminierter Knorpellappen im Sinne eines traumatischen Knorpelflakes sowie
eine VKB-Läsion Grad I und II neben einem medialen Meniscusriss gefunden,
während dieser Knorpelschaden bei der früher durchgeführten Arthroskopie vom
11. März 2005 noch nicht vorhanden gewesen sei.

5.1.2 Demgegenüber hielt der SUVA-Kreisarzt Dr. med. G. im Bericht vom 12.
Februar 2010 fest, weder im Operationsbericht vom
BGE 139 V 225 S. 228
8. Januar 2009 noch in demjenigen vom 12. Juni 2009 werde eine posttraumatische
Knorpelschädigung beschrieben, sondern vielmehr eine Chondromalazie erwähnt.
Erstmals anlässlich der Operation vom 12. Januar 2010 sei die Chondromalazie
als posttraumatisch qualifiziert worden. Bei der Chondromalazie handle es sich
definitionsgemäss um eine Knorpelerweichung. Es liege daher eine Erkrankung und
nicht eine Unfallfolge vor.

5.1.3 In der anlässlich des von der Assura erhobenen Einspracheverfahrens
eingeholten ärztlichen Stellungnahme des Dr. med. M., SUVA
Versicherungsmedizin, vom 18. August 2010 legte der Facharzt im Wesentlichen
dar, ein Knorpelschaden an der Patellarückfläche sei bei den Eingriffen vom 16.
Januar 2003, 11. März 2005, 8. Januar und 12. Juni 2009 erwähnt worden, wobei
am 8. Januar 2009 neu auch ein Knorpelschaden am medialen Femurkondylus
festgestellt und in einem weiteren Eingriff vom 12. Januar 2010 behandelt
worden sei. Wann diese Knorpelläsion am Femur entstanden sei, sei unklar. Von
der Beschreibung her könnte es sich um eine traumatische Knorpellappenbildung
oder um eine Knorpelabtrennung handeln, welche zeitlich praktisch
ausschliesslich vom Unfallereignis vom 21. November 2008 stammen könnte.
Knorpelläsionen seien indessen - so der Facharzt - sehr häufig Befunde bei
Arthroskopien, ohne dass ein spezifisches einzelnes Ereignis dafür eruiert
werden könne, so dass eine zuverlässige Aussage nicht möglich sei.
Grundsätzlich könnte es sich auch um eine degenerative Veränderung handeln.
Sogar eine Knorpelschädigung bei einer der vorangegangenen Arthroskopien sei
möglich. Schliesslich wiege der Patient deutlich über 100 kg, was ihn überdies
in eine hohe Risikogruppe für Knorpelläsionen und letztlich für die Entwicklung
einer Gonarthrose einstufe.
Gestützt auf diese versicherungsinterne medizinische Beurteilung vom 18. August
2010 verneinte die SUVA mit Einspracheentscheid vom 8. September 2010 eine
Leistungspflicht für den operativen Eingriff vom 12. Januar 2010, da die der
Operation zugrunde liegenden Beschwerden nicht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit auf ein Unfallereignis zurückzuführen seien. Die
beschriebene blosse Möglichkeit des Zusammenhangs genüge für die Begründung
eines Leistungsanspruchs nicht.

5.1.4 Zusammen mit der gegen den Einspracheentscheid erhobenen Beschwerde
reichte die Assura einen Bericht ihres Vertrauensarztes Dr. med. B. vom 28.
September 2010 ein. Darin qualifizierte Dr. med.
BGE 139 V 225 S. 229
B. die ärztliche Begutachtung der SUVA als in sich nicht widerspruchsfrei. Bei
der postulierten, rein degenerativen Genese der Gonarthrose - so der
Vertrauensarzt - sollte auch auf der Gegenseite eine mindest ähnliche
Pathologie vorhanden sein, da bei den repetitiven Meniskusläsionen auf der
rechten Seite eine schmerzbedingte Entlastung und somit auf der Gegenseite eine
zunehmende Belastung hätte stattfinden müssen. Im Übrigen sei es eher
unwahrscheinlich, dass ein 28-jähriger Mann nach einem ausgewiesenen Unfall
bereits degenerativ bedingte Knorpelläsionen gehabt haben soll.

5.2 Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit
der versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen, sind rechtsprechungsgemäss
ergänzende Abklärungen vorzunehmen (BGE 135 V 465 E. 44. S. 470; vgl. auch
Urteil 8C_397/2012 vom 14. März 2013 E. 5.1). Solche Zweifel an den
Beurteilungen der Dres. med. G. und M. vermochte der Bericht des Dr. med. B.
vom 28. September 2010 zu begründen. Zu Recht hat somit die Vorinstanz in
Anbetracht der widersprüchlichen Aktenlage ein Gerichtsgutachten zur Frage der
Unfallkausalität eingeholt. Die beigezogenen Gutachter Prof. Dr. med. F. und PD
Dr. med. A. kamen denn auch zum Schluss, die der Operation vom 12. Januar 2010
zugrunde liegenden Beschwerden seien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch
den Unfall vom 21. November 2008 ausgelöst worden (Gutachten vom 30. April
2012). Entgegen den Ausführungen der SUVA ist die Vorinstanz nicht bereits vor
Einbezug, sondern vielmehr unter Berücksichtigung des Gerichtsgutachtens in der
Beweiswürdigung zum Ergebnis gelangt, der Unfall vom 21. November 2008 sei
zumindest eine Teilursache für die Beschwerden gewesen. Missverständlich ist in
diesem Sinne die Formulierung des kantonalen Gerichts, das Gerichtsgutachten
habe den Eindruck bestätigt, den die übrigen medizinischen Akten erweckt
hätten, weicht doch die Meinung der gerichtlich beigezogenen Gutachter
entscheidend von derjenigen der versicherungsinternen Ärzte ab und deckt sich
im Ergebnis mit derjenigen des Vertrauensarztes der Assura.

5.3 Zusammenfassend hat die Vorinstanz in Anbetracht der in rechtserheblichen
Punkten widersprüchlichen und nicht ausreichend beweiswertigen Aktenlage zu
Recht ein Gerichtsgutachten eingeholt und die Kosten dafür der SUVA auferlegt.