Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 212



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

139 V 212

28. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. B. gegen Unia
Arbeitslosenkasse (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_754/2012 vom 15. März 2013

Regeste

Art. 13 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 3^bis AVIG; Beitragszeit bei Teilnahme an
arbeitsmarktlichen Massnahmen.
Obwohl Art. 23 Abs. 3^bis AVIG nach seinem Wortlaut und seiner systematischen
Stellung lediglich die Ermittlung des versicherten Verdienstes beschlägt,
erfüllt eine Person durch eine Tätigkeit, welche unter diese Bestimmung fällt,
auch keine Beitragszeit im Sinne von Art. 13 Abs. 1 AVIG (E. 3.3).

Regeste

Art. 23 Abs. 3^bis AVIG; Art. 38 Abs. 1 AVIV; arbeitsmarktliche Massnahmen.
Arbeitsmarktliche Massnahmen im Sinne von Art. 23 Abs. 3^bis AVIG sind nicht
nur Massnahmen im Sinne von Art. 59 ff. AVIG, sondern alle voll oder teilweise
durch die öffentliche Hand finanzierten Integrationsmassnahmen; Art. 38 Abs. 1
AVIV ist gesetzeskonform (E. 4.1).
Für den Entscheid, ob eine Tätigkeit als Teilnahme an einer
Integrationsmassnahme zu werten ist, ist nicht entscheidend, ob die ausgeübte
Tätigkeit auch in der freien Wirtschaft nachgefragt wird. Entscheidend ist
vielmehr der Zweck der Beschäftigung (E. 4.2).

Erwägungen ab Seite 213

BGE 139 V 212 S. 213
Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. e AVIG (SR 837.0) besteht ein Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung nur dann, wenn die versicherte Person die
Beitragszeit erfüllt hat oder von der Erfüllung der Beitragszeit befreit ist.
Die Beitragszeit hat nach Art. 13 Abs. 1 AVIG erfüllt, wer innerhalb der dafür
vorgesehenen Rahmenfrist (Art. 9 Abs. 3 AVIG) während mindestens zwölf Monaten
eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat.
BGE 139 V 212 S. 214

3.2 In Anwendung von Art. 23 Abs. 3^bis AVIG ist ein Verdienst, den eine Person
durch Teilnahme an einer von der öffentlichen Hand finanzierten
arbeitsmarktlichen Massnahme erzielt, nicht versichert. Ausgenommen sind
Massnahmen nach den Art. 65 und 66a AVIG. Als arbeitsmarktliche Massnahmen nach
Art. 23 Abs. 3^bis erster Satz AVIG gelten gemäss Art. 38 Abs. 1 AVIV (SR
837.02) alle voll oder teilweise durch die öffentliche Hand finanzierten
Integrationsmassnahmen.

3.3 Obwohl Art. 23 Abs. 3^bis AVIG nach seinem Wortlaut und seiner
systematischen Stellung lediglich die Ermittlung des versicherten Verdienstes
beschlägt, ist zu Recht unbestritten, dass eine Person durch eine Tätigkeit,
welche unter diese Bestimmung fällt, auch keine Beitragszeit im Sinne von Art.
13 Abs. 1 AVIG erfüllt (vgl. die Weisung des Staatssekretariats für Wirtschaft
[SECO], ALE 023-AVIG-Praxis 2011/16; PIA BUSER, Gesetzgebung, Jahrbuch des
Schweizerischen Arbeitsrechts [JAR] 2011, S. 1 ff., 67sowie die Botschaft vom
3. September 2008 zur Änderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, BBl 2008
7733, 7750 zu Art. 23 Abs. 3^bis AVIG).

4.

4.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, entgegen den Erwägungen des
kantonalen Gerichts sei Art. 23 Abs. 3^bis AVIG eng auszulegen. Der in dieser
Norm verwendete Begriff der arbeitsmarktlichen Massnahme werde durch das Gesetz
selber definiert. Demgemäss würden nur jene Personen unter diese Norm fallen,
die an einer arbeitsmarktlichen Massnahme im Sinne von Art. 59 ff. AVIG
teilnehmen würden. Dies treffe aber auf sie selber nicht zu.
Das AVIG will unter anderem bestehende Arbeitslosigkeit bekämpfen und die
rasche und dauerhafte Eingliederung in den Arbeitsmarkt fördern (Art. 1a Abs. 2
AVIG). Damit verfolgen die Organe der Arbeitslosenversicherung die gleichen
Ziele wie Sozialbehörden, welche in ihrem Zuständigkeitsbereich
Beschäftigungsprogramme organisieren. Solche Programme sollen stets dazu
dienen, Stellensuchende wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.
Allerdings sollen in verschiedenen Kantonen arbeitslose Personen zwölf Monate
in ein vom Kanton finanziertes Programm aufgenommen worden sein, um alsdann
wieder eine neue Leistungspflicht der Arbeitslosenversicherung auszulösen (vgl.
Votum des Ständerats Schwaller, AB 2009 S 578). Art. 23 Abs. 3^bis AVIG soll
verhindern, dass Sozialbehörden Beschäftigungsprogramme nicht zur
Wiedereingliederung der
BGE 139 V 212 S. 215
Stellensuchenden, sondern einzig zur Generierung von Beitragszeiten
organisieren (Botschaft, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund erschiene es als wenig
zielführend, die Norm eng auszulegen und lediglich auf arbeitsmarktliche
Massnahmen im Sinne von Art. 59 ff. AVIG anzuwenden. Bei diesen Massnahmen
besteht denn auch ein bedeutend geringeres Missbrauchspotenzial als bei den
direkt von Sozialhilfebehörden organisierten Beschäftigungsprogrammen, bei
denen die Arbeitslosenversicherung zunächst in keiner Weise involviert ist.
Zudem beziehen die versicherten Personen, welche an einer arbeitsmarktlichen
Massnahme im Sinne von Art. 59 ff. AVIG teilnehmen, in aller Regel keinen Lohn,
sondern erhalten ein Taggeld nach Art. 59b Abs. 1 AVIG. Dass ein solches
Taggeld weder in die Bemessung des versicherten Lohnes einfliesst noch
Beitragszeiten generiert, ist auch ohne Art. 23 Abs. 3^bis AVIG
selbstverständlich. Die von der Beschwerdeführerin postulierte enge Auslegung
von Art. 23 Abs. 3^bis AVIG würde somit dazu führen, dass dem Absatz kaum mehr
praktische Bedeutung zukommen würde. Eine Auslegung, welche einer Norm jeden
Sinn raubt, ist aber in der Regel abzulehnen. Entgegen den Ausführungen der
Beschwerdeführerin erweist sich demnach Art. 38 Abs. 1 AVIV, wonach alle voll
oder teilweise durch die öffentliche Hand finanzierten Integrationsmassnahmen
in den Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 3^bis AVIG fallen, als
gesetzeskonform.

4.2 Die Beschwerdeführerin bringt weiter vor, selbst bei einer weiten Auslegung
von Art. 23 Abs. 3^bis AVIG falle ihre Tätigkeit nicht unter diese Norm, da sie
als Küchenmitarbeiterin eine Tätigkeit ausgeübt habe, die gleichermassen in der
freien Wirtschaft nachgefragt werde. Eine Ausübung einer solchen Tätigkeit
könne aber nicht als Teilnahme an einer Integrationsmassnahme gewertet werden.
Für den Entscheid, ob eine Tätigkeit als Teilnahme an einer
Integrationsmassnahme zu qualifizieren ist, ist entgegen den Ausführungen der
Beschwerdeführerin nicht entscheidend, ob die von ihr ausgeübte Tätigkeit auch
in der freien Wirtschaft nachgefragt wird. Es ist vielmehr danach zu fragen,
welchem Zweck die Beschäftigung dient. Gemäss den verbindlichen Feststellungen
der Vorinstanz führt der Verein Y. den Gastronomiebetrieb nicht als
Selbstzweck, sondern als Mittel zur beruflichen und sozialen Integration von
Personen, die nur erschwert Zugang zum ersten Arbeitsmarkt haben. Damit diente
auch der Einsatz der Versicherten als Küchenmitarbeiterin in erster
BGE 139 V 212 S. 216
Linie ihrer beruflichen und sozialen Integration. Es ist demnach nicht zu
beanstanden, dass das kantonale Gericht die Beschäftigung der
Beschwerdeführerin beim Verein Y. als Teilnahme an einer Integrationsmassnahme
gewertet hat.