Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 209



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

139 V 209

27. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Familienausgleichskasse Arbeitgeber Basel gegen T. (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_90/2013 vom 10. April 2013

Regeste

Art. 3 Abs. 1 lit. b FamZG; Anspruch auf Ausbildungszulagen.
Die Anerkennung eines Praktikums als Ausbildung im Sinne von Art. 49^bis Abs. 1
AHVV hängt nicht davon ab, ob im Anschluss an das Praktikum im selben Betrieb
eine Lehrstelle angetreten werden kann, sondern davon, ob das Praktikum für die
Ausbildung notwendig ist. Zudem muss bei Antritt des Praktikums tatsächlich die
Absicht bestehen, die angestrebte Ausbildung zu realisieren (E. 5).

Erwägungen ab Seite 209

BGE 139 V 209 S. 209
Aus den Erwägungen:

4.

4.1 Die Vorinstanz hielt fest, dass eine ordentliche Lehre als
Kleinkinderzieherin weder ein gesetzliches noch ein reglementarisches Praktikum
voraussetze, dass jedoch praktisch alle Institutionen, welche die Ausbildung
Fachperson Betreuung/Fachrichtung Kinderbetreuung anbieten, ein Praktikum
verlangten. Dies sei auch in
BGE 139 V 209 S. 210
Anbetracht des hohen Anforderungsprofils bei der angestrebten Tätigkeit
sinnvoll. So werden bei den persönlichen Voraussetzungen Freude am Umgang mit
Menschen, psychische Stabilität und hohe Belastbarkeit, gute körperliche
Verfassung, hohes Verantwortungsbewusstsein, ausgeprägtes Einfühlungsvermögen
und Hilfsbereitschaft, Geduld und Respekt, gute Umgangsformen bzw. Team-,
Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit, Offenheit und Organisationsfähigkeit,
Fähigkeit sich abzugrenzen, Sinn für Sauberkeit und Ordnung, gute
Beobachtungsgabe und rasches Reaktionsvermögen, Flexibilität im Sinne von
Bereitschaft zu unregelmässiger Arbeitszeit und Fähigkeit, in wechselnden
Situationen zu reagieren, verlangt. Daraus folgerte die Vorinstanz, dass das
Praktikum nicht in erster Linie dazu diene, sich eigene Branchenkenntnisse und
Fertigkeiten anzueignen, sondern dass die Institutionen dadurch die
Möglichkeiten erhielten, Lehrstelleninteressentinnen und -interessenten zu
finden, welche in persönlicher Hinsicht tatsächlich für die Ausbildung geeignet
seien. Demnach - so die Vorinstanz - sei das von der Tochter der
Beschwerdegegnerin absolvierte Praktikum als Teil des Ausbildungsganges im
Sinne von Art. 25 Abs. 5 AHVG in Verbindung mit Art. 49^bis Abs. 1 AHVV (SR
831.101) zu verstehen.

4.2 Demgegenüber hält die Beschwerdeführerin fest, dass die Ausbildung zur
Fachperson Betreuung gesetzlich kein Praktikum als Voraussetzung zur
Grundausbildung erfordere. Gemäss Art. 15 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 13.
Dezember 2002 über die Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz, BBG; SR 412.10)
werde lediglich die abgeschlossene obligatorische Schule vorausgesetzt. Deshalb
verstosse die Rz. 3361.1 der Wegleitung des Bundesamtes für
Sozialversicherungen (BSV) über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen
Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung www.bsv.admin.ch/vollzug/
documents/view/75/lang:deu/category:23, wonach ein Praktikum trotzdem als
Ausbildung anerkannt werden könne, wenn im Anschluss daran im selben Betrieb
eine Lehre gemacht werden könne, gegen Art. 49^bis Abs. 1 und 2 AHVV.

5.

5.1 In BGE 139 V 122 wurde die Frage, ob die Anerkennung bloss faktisch
notwendiger Praktika als Ausbildung durch die RWL gegen Art. 49^bis Abs. 1 AHVV
verstösst, verneint. Denn in dieser Verordnungsbestimmung werden nicht bloss
rechtlich, sondern auch faktisch anerkannte Bildungsgänge als Ausbildung
qualifiziert. Akzeptiert man notwendige Praktika als zur Ausbildung gehörend,
so wirkt es als
BGE 139 V 209 S. 211
zweitrangig, ob diese gesetzlich oder reglementarisch vorgeschrieben oder bloss
faktisch geboten sind; demnach ist auch ein bloss faktisch notwendiges
Praktikum als Ausbildung im Sinne von Art. 49^bis Abs. 1 AHVV zu qualifizieren
(BGE 139 V 122 E. 4.3 und 4.4 S. 125).

5.2 Gemäss Rz. 3361.1 RWL wird ein faktisch notwendiges Praktikum bloss dann
als Ausbildung anerkannt, wenn vom Betrieb schriftlich zugesichert wird, dass
das Kind bei Eignung nach Abschluss des Praktikums eine Lehrstelle im
betreffenden Betrieb erhält. Eine entsprechende Verknüpfung lässt sich indessen
aus dem Wortlaut von Art. 49^bis Abs. 1 AHVV nicht ableiten, wird doch darin
festgehalten: "In Ausbildung ist ein Kind, wenn es sich auf der Grundlage eines
ordnungsgemässen, rechtlich oder zumindest faktisch anerkannten Bildungsganges
systematisch und zeitlich überwiegend entweder auf einen Berufsabschluss
vorbereitet oder sich eine Allgemeinausbildung erwirbt, die Grundlage bildet
für den Erwerb verschiedener Berufe." In der Praxis würde die Umsetzung von Rz.
3361.1 RWL durch die Verknüpfung von Praktikum und Lehrstelle erheblich
erschwert oder gar verunmöglicht, weil Ausbildungsbetriebe nur über eine
begrenzte Anzahl von Lehrstellen verfügen, und deshalb Praktikum und Lehre
häufig nicht am selben Ort absolviert werden können. Auch bezüglich des
Zeitpunktes, eine entsprechende Bestätigung eines Lehrbetriebes zu erhalten,
können weitere Schwierigkeiten in der Erfüllung von Rz. 3361.1 RWL entstehen,
da bei einem einjährigen Praktikum eine Lehrstellenzusage eher an dessen Ende
zu erwarten ist. Eine Verknüpfung zwischen Praktikum und Lehrstelle im gleichen
Betrieb als Voraussetzung für die Qualifikation einer Ausbildung scheint
deshalb weder praktikabel, noch erfüllt sie das Ziel der Ausbildungszulagen,
welche in erster Linie der beruflichen Ausbildung von Jugendlichen dienen soll,
weshalb der Begriff der Ausbildung in diesem Zusammenhang weit verstanden
werden muss (KIESER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Familienzulagen,
Praxiskommentar, 2010, N. 38 zu Art. 3 FamZG).

5.3 Es steht demnach fest, dass die Anerkennung eines Praktikums als Ausbildung
im Sinne von Art. 49^bis Abs. 1 AHVV nicht davon abhängt, ob im Anschluss an
das Praktikum im selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb auch eine
Lehrstelle angetreten werden kann, sondern ob das Praktikum für die Ausbildung
faktisch notwendig ist. Hingegen soll nicht jedes Praktikum automatisch im
Sinne einer Ausbildung verstanden werden, sondern nur dann, wenn mit dem
Antritt eines Praktikums tatsächlich die Absicht besteht, die
BGE 139 V 209 S. 212
angestrebte Ausbildung zu realisieren. Diese Absicht ergibt sich bei der
Tochter der Beschwerdegegnerin aus der Bestätigung des Kinderhorts X. vom 18.
Juni 2012. Die Tatsache, dass ein einjähriges Praktikum eingegangen wird, zeugt
bereits durch die Dauer für die Ernsthaftigkeit, die angestrebte Ausbildung zu
absolvieren.

5.4 Gestützt auf die Tatsache, dass ein Praktikum bei der Ausbildung
Kinderbetreuung eine faktische Notwendigkeit ist (vgl. E. 4.1) und diese
Ausbildung von der Tochter der Beschwerdeführerin auch bewusst angestrebt
wurde, hat die Vorinstanz zu Recht einen Anspruch auf Ausbildungszulagen ab 1.
August 2012 bejaht.