Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 170



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Urteilskopf

139 V 170

25. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. D. und F.
gegen Gemeinde A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_77/2013 / 9C_78/2013 vom 11. April 2013

Regeste

Art. 58 Abs. 1 ATSG; Art. 21 ELG.
Die örtliche Zuständigkeit richtet sich bei Leistungsstreitigkeiten
grundsätzlich nach dem Wohnsitz der versicherten Person. Der Wohnsitz des
Beschwerde führenden Dritten ist nur massgebend, wenn ein solcher der
versicherten Person nicht besteht (E. 5.3).

Sachverhalt ab Seite 170

BGE 139 V 170 S. 170

A. D. (geboren 1997) und F. (geboren 1996) sind bevormundet und wohnen in einer
Pflegefamilie in X./SZ. Ihr Vater, H., wohnhaft in A./ZH, bezieht eine
Invalidenrente und zwei ausserordentliche
BGE 139 V 170 S. 171
Kinderrenten. Mit Wirkung ab 1. Dezember 2004 sprach die Gemeinde A.,
Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV, D. und F. Zusatzleistungen
zu. Am 15. März 2012 stellten D. und F. ein Gesuch auf höhere Zusatzleistungen
mit der Begründung, der von ihrer Pflegefamilie im Kanton Schwyz erbrachte
Betreuungsaufwand habe stark zugenommen. Mit Einspracheentscheiden vom 26. Juli
2012 verneinte die Durchführungsstelle einen Anspruch auf höhere
Zusatzleistungen als Fr. 2'073.- resp. Fr. 2'071.- pro Monat.

B. Auf die hiegegen erhobenen Beschwerden trat das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich mit Entscheiden vom 7. Dezember 2012 mangels örtlicher
Zuständigkeit nicht ein und ordnete die Überweisung der Akten nach Eintritt der
Rechtskraft an das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz zur Weiterbehandlung
an. Ferner wies es die Gesuche von D. und F. um unentgeltliche Verbeiständung
wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde ab.

C. D. und F. lassen je mit einer separaten Eingabe Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit den Rechtsbegehren, der
Nichteintretensentscheid sei aufzuheben und die Sache an das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zur materiellen Behandlung der
Beschwerde zurückzuweisen. Ferner sei ihnen in Aufhebung von Dispositiv-Ziffer
3 des angefochtenen Entscheids für das kantonale Beschwerdeverfahren die
unentgeltliche Rechtsvertretung zu gewähren. Schliesslich beantragen sie für
das letztinstanzliche Verfahren die unentgeltliche Prozessführung und
Verbeiständung.
Das kantonale Gericht, die Gemeinde A. und das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die vereinigten Beschwerden gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerde ist unter anderem zulässig gegen Entscheide, die das
Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), sowie gegen selbstständig eröffnete Vor-
und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit (Art. 92 Abs. 1 BGG). Gegen
andere selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist laut Art. 93
Abs. 1 BGG die Beschwerde nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken können (lit. a) oder wenn die Gutheissung der
Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden
Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde
(lit. b).
BGE 139 V 170 S. 172

2.2 Selbstständig eröffnete Zwischenentscheide, mit denen das angerufene
Gericht seine Zuständigkeit bejaht, sind nach Art. 92 BGG anfechtbar. Verneint
hingegen das Gericht seine Zuständigkeit, erlässt es nicht einen
Zwischenentscheid, sondern einen Nichteintretensentscheid, welcher einen
Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG darstellt (BGE 135 V 153 E. 1.3 S. 156).
Ob der Entscheid allenfalls als Zwischenentscheid zu qualifizieren ist, wenn -
wie hier - das angerufene Gericht in Anwendung von Art. 58 Abs. 3 ATSG (SR
830.1) die Sache zugleich an das seines Erachtens zuständige Gericht
übermittelt, oder ob auch in diesem Fall von einem Endentscheid auszugehen ist,
kann offenbleiben, da der Entscheid so oder anders selbstständig anfechtbar ist
(Urteil 9C_1000/2009 vom 6. Januar 2010 E. 1.2 mit weiteren Hinweisen, in: SVR
2010 IV Nr. 40 S. 126; 8C_162/2010 vom 11. März 2011 E. 1.2).
(...)

4.

4.1 Nach Art. 58 Abs. 1 ATSG (in Verbindung mit Art. 1 ELG [SR 831.30]) ist das
Versicherungsgericht desjenigen Kantons zuständig, in dem die versicherte
Person oder der Beschwerde führende Dritte zur Zeit der Beschwerdeerhebung
Wohnsitz hat.
Das kantonale Gericht hat in für das Bundesgericht verbindlicher Weise
festgestellt, dass der Vater der beiden Beschwerde führenden Kinder im Kanton
Zürich, Letztere im Kanton Schwyz Wohnsitz haben.

4.2 Das kantonale Gericht verneinte seine örtliche Zuständigkeit gestützt auf
BGE 138 V 292. Mit diesem Entscheid habe das Bundesgericht die Stellung des
Kindes im EL-Verfahren gestärkt. Es sei daraus zu schliessen, dass das Kind
zwar weiterhin nicht direkt anspruchsberechtigt sei, aber dennoch über eine
eigene Beschwerdebefugnis verfüge. Dies rechtfertige es, dem Kind nicht nur ein
eigenes Beschwerderecht zuzuerkennen, sondern an seinem Wohnsitz eine eigene
Zuständigkeit zu begründen, was im Übrigen im Einklang mit dem Wortlaut des
Gesetzes stehe, das nicht nur den Wohnsitz der versicherten Person, sondern
auch denjenigen des Beschwerde führenden Dritten als massgebend erachtet. Dabei
falle ins Gewicht, dass bei der hier in Frage stehenden gesonderten Berechnung
des Anspruches das Gericht am Wohnsitz des Kindes einen näheren Bezug zur
Beschwerde führenden Person habe. Zudem sei hier der Vater der
Beschwerdeführenden auch gar nicht in das Verfahren miteinbezogen worden, seien
ihm doch weder die Verfügung noch der
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angefochtene Einspracheentscheid eröffnet worden. Das ELG sehe auch nicht vor,
dass der Entscheid einer Gemeinde eines bestimmten Kantons die örtliche
Zuständigkeit des entsprechenden Versicherungsgerichts nach sich ziehe. Da der
Anspruch auf Zusatzleistungen vom Bundesrecht geregelt werde, habe die Gemeinde
kein (finanzpolitisches) Interesse an der Beurteilung der Ansprüche durch das
Gericht des eigenen Kantons.

4.3 Die Beschwerde führenden Kinder lassen zusammenfassend geltend machen, zwar
bestimme Art. 58 ATSG tatsächlich, das Gericht am Wohnsitz der versicherten
Person sei zuständig. Als versicherte Person im Sinne von Art. 58 ATSG sei hier
aber der Vater der Beschwerde führenden Kinder zu verstehen, welcher Wohnsitz
im Kanton Zürich habe. Die Kinder seien gar nicht selber versicherte Person. In
Fällen von Drittbeschwerdebefugnissen werfe die Bestimmung der örtlichen
Zuständigkeit besondere Probleme auf (Hinweis auf UELI KIESER, ATSG-Kommentar,
2. Aufl. 2009, N. 10 zu Art. 58 ATSG). Der Wortlaut von Art. 58 Abs. 1 ATSG
lasse für die Ordnung der örtlichen Zuständigkeit eine Parallelität der
Anknüpfung an die Wohnsitze der versicherten Person oder der Drittperson
erkennen. Mit der Bestimmung, welche die Regelung von aArt. 86 Abs. 3 KVG
übernommen habe, habe am bestehenden Rechtszustand nichts geändert werden
sollen (Hinweis auf das Protokoll der nationalrätlichen Subkommission ATSG vom
3./4. September 1998, S. 17; Bericht der Kommission des Nationalrates für
soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4621 zu Art. 64
E-ATSG). Nach der bisherigen Rechtsprechung strebte der Gesetzgeber nicht eine
Ausweitung der Anknüpfungstatbestände auf andere Beteiligte an, sondern wollte
- bei Leistungsstreitigkeiten - eine einheitliche Anknüpfung am Wohnsitz der
versicherten Person schaffen. Damit werde dem Gedanken Rechnung getragen, dass
sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit einer Streitigkeit befassen
sollten, die dem zu beurteilenden Sachverhalt am nächsten stünden (Hinweis auf
KIESER, a.a.O., N. 11 zu Art. 58 ATSG mit Hinweisen). Dass der Gesetzgeber von
dieser, einen einheitlichen Gerichtsstand auf kantonaler Ebene festlegenden
Rechtsprechung nicht abweichen wollte, werde daran erkennbar, dass er in Art.
58 Abs. 1 ATSG auf den "Wohnsitz" (und nicht etwa auf den Sitz einer
Amtsstelle) Bezug genommen habe. Er habe offensichtlich festlegen wollen, dass
jedenfalls dasjenige Gericht örtlich zuständig sei, das einen besonderen Bezug
zur Beschwerde führenden natürlichen Person habe (Hinweis auf KIESER, a.a.O.,
N. 11 Abs. 2 zu Art. 58 ATSG). Es sei also mit KIESER
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davon auszugehen, dass - jedenfalls bei Leistungsstreitigkeiten - zur
Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit der Wohnsitz der Beschwerde führenden
Drittperson nur dann von Belang sei, wenn ein solcher der versicherten Person
nicht bestehe. Dies verhalte sich etwa so, wenn der Anspruch auf
Versicherungsleistungen der Hinterlassenen strittig sei. Der "besondere Bezug"
ergebe sich auch aus folgenden Überlegungen: Zuständig für die Ausrichtung der
Ergänzungsleistung (EL) sei hier unbestrittenermassen der Kanton Zürich. Weil
die Zuständigkeit der Behörde sich also ebenfalls nach dem Kriterium des
Wohnsitzes richte (Hinweis auf Art. 21 Abs. 1 ELG), könne für die Ausrichtung
der EL bzw. für die Beurteilung einer Beschwerde gegen einen Entscheid der
EL-Behörde gar kein unterschiedlicher Kanton bzw. ein anderes
Versicherungsgericht zuständig sein. Schliesslich sei dem Gedanken Rechnung zu
tragen, dass sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit einer Streitigkeit
befassen sollten, die dem zu beurteilenden Sachverhalt am nächsten stünden. Es
wäre kaum sinnvoll, wenn sich nun das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit
dieser Streitigkeit befassen müsste, welches Gericht die Verhältnisse im Kanton
Zürich gar nicht näher kenne.

5.

5.1 Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben u.a. Personen (mit Wohnsitz und
gewöhnlichem Aufenthalt [Art. 13 ATSG] in der Schweiz), wenn sie Anspruch auf
eine Rente der Invalidenversicherung haben (Art. 4 Abs. 1 lit. c ELG). Die
Berechnung der jährlichen Ergänzungsleistung ist in den Art. 9 ff. ELG und Art.
1 ff. ELV (SR 831.301) geregelt. Hat die EL-ansprechende oder -beziehende
Person Kinder, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründen, gilt
insbesondere Folgendes: Lebt das Kind nicht bei den Eltern oder lebt es bei
einem Elternteil, der nicht rentenberechtigt ist und für den auch kein Anspruch
auf eine Zusatzrente besteht, so ist die Ergänzungsleistung gesondert zu
berechnen. Dabei ist das Einkommen der Eltern so weit zu berücksichtigen, als
es deren eigenen Unterhalt und den der übrigen unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen übersteigt (Art. 7 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ELV in
Verbindung mit Art. 9 Abs. 5 lit. a ELG). Vorliegend geht es um einen
Anwendungsfall gesonderter Berechnung der Ergänzungsleistung im Sinne dieser
Verordnungsregelung.

5.2 Anrecht auf Ergänzungsleistungen haben, sofern die übrigen Voraussetzungen
gegeben sind, nur Personen, die einen selbständigen (originären) Anspruch auf
eine IV-Rente haben. Kinder, für die ein
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Anspruch auf eine Kinderrente nach Art. 35 Abs. 1 IVG besteht, können keinen
eigenen Anspruch auf Ergänzungsleistungen begründen (ZAK 1989 S. 224, P 39/86).
Das gilt auch bei gesonderter Berechnung der Ergänzungsleistung gestützt auf
Art. 7 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ELV. Die betreffenden Kinder können auch nicht,
etwa aufgrund einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise, als Destinatäre eines
Teils der Ergänzungsleistungen angesehen werden mit der Folge, dass ihnen ein
separat ausgeschiedener Teil davon auszurichten wäre (BGE 138 V 292 E. 3.2; SVR
2012 EL Nr. 2 S. 4, 9C_371/2011 E. 2.3 und 2.4.2; FamPra.ch 2010 S. 135, 8C_624
/2007 E. 5.2).
Mangels Anspruchs aus eigenem Recht können die Beschwerde führenden Kinder
nicht direkt, sondern nur als Dritte "pro Adressat" beschwerdeberechtigt sein.

5.3 Das kantonale Gericht geht zwar zutreffend davon aus, dass sich die Frage
nach der Zuständigkeit des kantonalen Versicherungsgerichts in einem
Beschwerdeverfahren gegen einen EL-Einspracheentscheid ausschliesslich nach
Art. 58 ATSG richtet, weil diese Norm im Recht der Ergänzungsleistungen
integral gilt, insbesondere nicht durch Art. 21 ELG modifiziert worden ist.
Art. 58 Abs. 1 ATSG knüpft an den Wohnsitz der versicherten Person oder des
Beschwerde führenden Dritten an. Bei der Auslegung von Art. 58 Abs. 1 ATSG hat
das kantonale Gericht das systematische Auslegungselement insofern
unberücksichtigt gelassen, als die - zur örtlichen Zuständigkeit führenden -
Begriffe der versicherten Person oder der Beschwerde führenden Dritten unter
Berücksichtigung der Umstände auszulegen sind, wie sie im jeweils in Frage
stehenden Leistungsbereich rechtlich massgeblich sind. Als Kinder, welche durch
ihren Vater als Invalidenrentner den Anspruch auf eine Kinderrente begründen,
können die beiden Beschwerdeführenden weder als versicherte Personen betrachtet
werden, noch verfügen sie über einen originären Anspruch auf
Ergänzungsleistungen (E. 5.1 und 5.2 hievor; BGE 138 V 292 E. 3.2). Aber auch
als Beschwerde führende Dritte sind sie - im EL-rechtlichen Kontext - nicht zu
betrachten, weil sie nicht ausserhalb, sondern innerhalb des streitigen
Rechtsverhältnisses stehen. Etwas anderes lässt sich entgegen der Auffassung
der Vorinstanz namentlich für die Frage der örtlichen Zuständigkeit aus BGE 138
V 292 nicht ableiten. Vor allem aber hätte die gesplittete örtliche
Gerichtszuständigkeit praktische Unzulänglichkeiten zur Folge, was im Sinne
praktischer Konkordanz bei der Auslegung von Vorschriften über die
Zuständigkeit durchaus mitzuberücksichtigen ist: Es müssten unter Umständen, je
nach Mass und Umfang in der Bestreitung der
BGE 139 V 170 S. 176
EL-Berechnungspositionen, zwei oder noch mehr Gerichte (z.B. wenn die Kinder in
verschiedenen Kantonen Wohnsitz haben) über die gleiche, jedenfalls rechtlich
untrennbar miteinander verbundene Anspruchsberechtigung befinden. In solchen
Fällen ist grundsätzlich nur ein einheitlicher Gerichtsstand praktikabel, um
sich widersprechende Urteile zu vermeiden und aus prozessökonomischen Gründen.
Bei Leistungsstreitigkeiten ist daher prioritär an den Wohnsitz der
versicherten Person anzuknüpfen. Zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ist
der Wohnsitz des Beschwerde führenden Dritten nur dann von Belang, wenn ein
solcher der versicherten Person nicht besteht (KIESER, a.a.O., N. 10-12 zu Art.
58 ATSG mit Hinweisen auf die Materialien).