Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 143



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Urteilskopf

139 V 143

21. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Stadt
Schaffhausen gegen Bundesamt für Gesundheit (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_765/2012 vom 19. März 2013

Regeste

Art. 61 Abs. 2 und 5 KVG; Art. 91 Abs. 1 KVV; kantonale und regionale Abstufung
der Krankenversicherungsprämien.
Die Kompetenz zur Festlegung der Prämienregionen und zur Zuordnung der
Gemeinden liegt ausschliesslich beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Die
Gemeinde ist nicht legitimiert, die vom BAG festgelegten Prämienregionen
anzufechten. Es steht ihr auch kein Anspruch auf Erlass einer
Feststellungsverfügung zu (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 144

BGE 139 V 143 S. 144

A. Die Stadt Schaffhausen und die (ehemalige) Gemeinde Hemmental haben sich auf
den 1. Januar 2009 zusammengeschlossen. Vor der Fusion war Hemmental der
Prämienregion 2 zugeordnet. Nach Berücksichtigung der neuen politischen
Situation teilte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Ortschaft ab 1. Januar
2011 der Prämienregion 1 (teuerster Tarif) zu und bestätigte dies mit
Feststellungsverfügung vom 27. Dezember 2011.

B. Das Bundesverwaltungsgericht trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht
ein (Entscheid vom 10. August 2012). Zur Begründung führte es im Wesentlichen
aus, die Zuordnung zur Prämienregion sei nicht als anfechtbare Verfügung zu
qualifizieren.

C. Die Stadt Schaffhausen reicht gegen den Nichteintretensentscheid vom 10.
August 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein und
beantragt, dieser und die Feststellungsverfügung des BAG vom 27. Dezember 2011
seien aufzuheben. Die Ortschaft Hemmental sei in der Liste des BAG wieder in
die Prämienregion 2 einzustufen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Nach Art. 48 Abs. 1 VwVG (SR 172.021), welche Norm die
Beschwerdelegitimation vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt (Art. 37 des
Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht
[Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG; SR 173.32]), ist zur Beschwerde berechtigt,
wer (kumulativ) vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine
Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a), durch die angefochtene
Verfügung besonders berührt ist (lit. b) und ein schutzwürdiges Interesse an
deren Aufhebung oder Änderung hat (lit. c).

1.2 Nach Art. 5 Abs. 1 VwVG sind Verfügungen Anordnungen der Behörden im
Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes
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stützen und die Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten oder Pflichten
(lit. a), die Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von
Rechten und Pflichten (lit. b) oder die Abweisung von Begehren auf Begründung,
Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten und Pflichten oder das
Nichteintreten auf ein solches Begehren zum Gegenstand haben (lit. c). Als
Verfügungen gelten mithin autoritative, einseitige, individuell-konkrete
Anordnungen der Behörde, die in Anwendung von Verwaltungsrecht ergangen, auf
Rechtswirkungen ausgerichtet sowie verbindlich und erzwingbar sind (vgl. etwa
BGE 131 II 13 E. 2.2 S. 17; AEMISEGGER/SCHERRER REBER, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 30 zu Art. 82 BGG; MOSER/BEUSCH/
KNEUBÜHLER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 2008, S. 24 Rz. 2.3;
TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2009, S. 224
ff., insbes. S. 229 ff.).
Eine Allgemeinverfügung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich einerseits an
einen (relativ) unbestimmten Personenkreis richtet, also genereller Natur ist,
anderseits einen konkreten Tatbestand regelt (statt vieler BGE 125 I 313 E. 2a
S. 316). Sie werden in Bezug auf ihre Anfechtbarkeit zumindest dann wie
Verfügungen behandelt, wenn sie ohne konkretisierende Anordnung einer Behörde
angewendet und vollzogen werden können (Urteil 2C_104/2012 vom 25. April 2012
E. 1.2 mit Hinweisen).

1.3 Die in der Sache zuständige Behörde kann über den Bestand, den Nichtbestand
oder den Umfang öffentlichrechtlicher Rechte oder Pflichten von Amtes wegen
oder auf Begehren eine Feststellungsverfügung treffen. Dem Begehren um eine
Feststellungsverfügung ist zu entsprechen, wenn der Gesuchsteller ein
schutzwürdiges Interesse nachweist. Keiner Partei dürfen daraus Nachteile
erwachsen, dass sie im berechtigten Vertrauen auf eine Feststellungsverfügung
gehandelt hat (Art. 25 Abs. 1-3 VwVG).

2.

2.1 Gemäss Art. 61 Abs. 2 KVG kann der Versicherer die Prämien nach den
ausgewiesenen Kostenunterschieden kantonal und regional abstufen. Massgebend
ist der Wohnort der versicherten Person. Das BAG legt die Regionen für
sämtliche Versicherer einheitlich fest.

2.2 Die Festlegung der Prämienregionen innerhalb der Kantone wird vom BAG
ausgehend von den Kostenunterschieden zwischen den Regionen vorgenommen. Nimmt
der Versicherer Abstufungen nach Regionen vor, so darf gemäss Art. 91 Abs. 1
KVV (SR 832.102) die
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Differenz für die Prämie innerhalb des gleichen Kantons höchstens 15 Prozent
zwischen den Regionen 1 und 2 sowie höchstens 10 Prozent zwischen den Regionen
2 und 3 betragen.
Der Kanton Schaffhausen verfügte sowohl vor als auch nach der Gemeindefusion
über 2 Prämienregionen (www.bag.admin.ch unter: Themen/Krankenversicherung/
Prämien/Prämienrechner/Prämienarchiv/Prämienregionen). Das BAG unterzieht die
Einteilung der Prämienregionen regelmässig einer umfassenden Neubeurteilung.
Die Zuordnung im System der Prämienregionen steht insbesondere unter dem
Vorbehalt einer notwendigen Anpassung auf Grund von Änderungen in der
Organisation der Kantone. Zu denken ist an Gemeindefusionen oder die
Erweiterung der Agglomerationen (vgl. Antwort des Bundesrates vom 30. November
2012 auf die Interpellation Nr. 12.3941 von Kathy Riklin betreffend
"Krankenkassen-Prämienregionen. Kompetenzen für die Kantone schaffen" [
www.parlament.ch unter: Dokumentation/Curia Vista]).

2.3 Mit der Teilrevision des Krankenversicherungsrechts per 1. Januar 2001
wurde den Versicherern das Recht zur autonomen Prämienregioneneinteilung
entzogen (vgl. Art. 61 Abs. 2 KVG in der bis Ende 2000 in Kraft gewesenen
Fassung). Zum einen sollten künftig sehr kleinräumige örtliche Prämientarife
vermieden werden. Zum andern sollten sich die Prämienunterschiede nach den
regionalen Kostenunterschieden und nicht etwa nach kommerziellen Überlegungen
der Versicherer richten (Botschaft vom 6. November 1991 über die Revision der
Krankenversicherung, BBl 1992 I 93, 194 oben zu Art. 53 KVG). Indes sind die
Krankenversicherer nach wie vor frei, auf regionale Prämienabstufungen zu
verzichten. Bei Art. 61 Abs. 2 KVG handelte und handelt es sich weiterhin um
eine Kann-Vorschrift (GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale
Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 739 Rz. 1004).
Sinn und Zweck der Schaffung einheitlicher Prämienregionen, die für sämtliche
Versicherer schweizweit Allgemeingültigkeit haben, ist, den Versicherten den
Prämienvergleich und dem Bundesrat die Prämienkontrolle zu erleichtern
(EUGSTER, a.a.O.). Zudem soll die Solidarität verstärkt werden (BBl 1992 I 93,
134 Mitte Ziff. 241). So erhebt der Versicherer von seinen Versicherten die
gleichen Prämien (Art. 61 Abs. 1 KVG), wobei die Prämientarife der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung der Genehmigung durch den Bundesrat
bedürfen; vor der Genehmigung können die Kantone zu den für ihre
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Bevölkerung vorgesehenen Prämientarifen Stellung nehmen (Art. 61 Abs. 5 KVG).

3. Nach dem Gesagten sind die Versicherer in erster Linie Adressat der vom BAG
festgelegten Prämienregionen. Einen Einbezug der einzelnen Kantone und Regionen
hinsichtlich deren Einteilung hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Weder dem
KVG noch den Materialien lässt sich etwas Gegenteiliges entnehmen. Wie denn
auch aus der Antwort des Regierungsrates des Kantons Bern auf die
Interpellation Nr. 155-2012 im Grossen Rat betreffend die Einteilung der
Prämienregionen erhellt (Geschäftsnummer 2012.0835 [www.gr.be.ch unter:
Geschäfte]), gehen die Kantone selber davon aus, dass die Kompetenz zur
Festlegung der Prämienregionen ausschliesslich beim BAG liegt. Erst im Rahmen
der konkreten Prämiengestaltung durch die Versicherer werden (allein) sie
angehört. Dabei können die Versicherer - müssen aber nicht - ihre Prämien
kantonal und regional abstufen. Mit anderen Worten lassen sich die
Prämienregionen des BAG nicht ohne konkretisierende Prämienfestsetzung
unmittelbar anwenden und vollziehen.
Unabhängig von der Frage nach der (Allgemein-)Verfügungsqualität der vom BAG
festgelegten Prämienregionen, die nach dem soeben Dargelegten wohl zu verneinen
wäre (vgl. E. 1.2 Abs. 2), womit für eine vorgängige Anhörung von vornherein
kein Raum verbliebe (vgl. Art. 30 Abs. 1 VwVG), kommt der Beschwerdeführerin
bei der Regioneneinteilung keine Rolle zu. Gemäss der klaren gesetzlichen
Konzeption sind ausschliesslich die Kantone ermächtigt, zu den für ihre
Bevölkerung vorgesehenen Prämientarifen, deren Gestaltung eine kantonale und
regionale Abstufung zu Grunde liegen kann, aber nicht muss, Stellung zu nehmen.
Der Legitimation der Beschwerdeführerin zur Anfechtung der vom BAG festgelegten
Prämienregionen gebricht es somit schon an der ersten Bedingung von Art. 48
Abs. 1 (lit. a) VwVG (vgl. E. 1.1). Gleichzeitig folgt daraus, dass der
Beschwerdeführerin auch kein Anspruch auf Erlass einer Feststellungsverfügung
zusteht. Dies gilt hier umso mehr, als keine materielle Beschwer (Art. 48 Abs.
1 lit. b und c VwVG) gegeben ist: Die Beschwerdeführerin vermag sich nicht über
ein rechtsgenügliches (Feststellungs-)Interesse auszuweisen. Es ist nicht
ersichtlich, dass die tatsächliche "Umsetzung" der vom BAG festgelegten
Prämienregionen durch die Versicherer genügend wahrscheinlich ist (vgl. Urteil
9C_143/2012 vom 22. März 2012 E. 4.2 mit Hinweisen; vgl. auch ISABELLE HÄNER,
in: Praxiskommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Waldmann/
Weissenberger [Hrsg.], 2009,
BGE 139 V 143 S. 148
N. 18 zu Art. 25 VwVG). Ebenso wenig ist solches dargetan. Die
Beschwerdeführerin bringt lediglich vor, die Zuteilung von Hemmental zur
Prämienregion 1 lasse die Prämienverbilligungsbeiträge und die
Sozialhilfekosten der Stadt ansteigen. Ausserdem beruft sie sich auf
finanzielle Nachteile, die den Einwohnerinnen und Einwohnern der ehemaligen
Gemeinde Hemmental drohen. Dem ist entgegenzuhalten, dass das
Rechtsschutzinteresse ein eigenes zu sein hat (vgl. Urteil 9C_321/2012 vom 11.
Juli 2012 E. 4 mit Hinweisen) (...). Schliesslich fehlen hinreichende
Anhaltspunkte, dass die geltend gemachten wirtschaftlichen Nachteile in
unmittelbarem Zusammenhang mit der (Neu-)Einteilung der Prämienregionen stehen.