Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 122



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Urteilskopf

139 V 122

18. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle
Basel-Landschaft gegen R. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_682/2012 vom 7. März 2013

Regeste

Art. 35 Abs. 1 IVG; Kinderrente für volljährige Kinder.
Der Anspruch auf eine Kinderrente der Invalidenversicherung kann auch für ein
über 18 Jahre altes Kind, welches in seinem zukünftigen Lehrbetrieb ein weder
gesetzlich noch reglementarisch vorgeschriebenes Praktikum absolviert, bestehen
(E. 3 und 4).

Erwägungen ab Seite 123

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Aus den Erwägungen:

2. Streitig ist der Anspruch auf Kinderrente ab 1. August 2011. Dabei steht
fest und ist unbestritten, dass die Tochter des Versicherten ab 1. August 2011
ein einjähriges Praktikum bei ihrem zukünftigen Lehrbetrieb, der Firma X. AG,
absolvierte. Ebenfalls liegt ausser Streit, dass dieses Praktikum für die von
ihr angestrebte Verkaufslehre weder gesetzlich noch reglementarisch
vorgeschrieben war, ihr aber zugesichert worden war, bei erfolgreicher
Tätigkeit als Praktikantin einen Lehrvertrag zu erhalten. Streitig und zu
prüfen ist demgegenüber, ob ein solches Praktikum als Ausbildung im Sinne des
Gesetzes anerkannt werden kann.

3.

3.1 Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, haben in Anwendung
von Art. 35 Abs. 1 IVG für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine
Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte,
Anspruch auf eine Kinderrente. Anspruch auf eine Waisenrente haben nach Art. 25
Abs. 1 AHVG Kinder, deren Vater oder Mutter gestorben ist. Der Anspruch auf die
Waisenrente entsteht gemäss Art. 25 Abs. 4 AHVG am ersten Tag des dem Tode des
Vaters oder der Mutter folgenden Monats. Er erlischt mit der Vollendung des 18.
Altersjahres oder mit dem Tod der Waise. Für Kinder, die noch in Ausbildung
sind, dauert der Rentenanspruch nach Art. 25 Abs. 5 AHVG bis zu deren
Abschluss, längstens aber bis zum vollendeten 25. Altersjahr. Der Bundesrat
kann festlegen, was als Ausbildung gilt.

3.2 Der Bundesrat hatte von seiner Kompetenz, festzulegen, was als Ausbildung
gilt, ursprünglich keinen Gebrauch gemacht. Auf den 1. Januar 2011 hat er die
AHVV (SR 831.101) um die Art. 49^bis und Art. 49^ter ergänzt. Gemäss Art. 49^
bis Abs. 1 AHVV ist ein Kind
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nunmehr in Ausbildung, wenn es sich auf der Grundlage eines ordnungsgemässen,
rechtlich oder zumindest faktisch anerkannten Bildungsganges systematisch und
zeitlich überwiegend entweder auf einen Berufsabschluss vorbereitet oder sich
eine Allgemeinausbildung erwirbt, die Grundlage bildet für den Erwerb
verschiedener Berufe.
Grund für diese Ergänzung war gemäss den Erläuterungen des Bundesamtes für
Sozialversicherungen (BSV) zu dieser Verordnungsbestimmung die Zunahme unklarer
Fälle. Angesichts der vielfältigen Ausbildungswege der jungen Leute sei nicht
mehr immer eindeutig, ob sie sich in Ausbildung befinden oder nicht. Unter
anderem solle durch den Erlass von Art. 49^bis AHVV die Möglichkeit genutzt
werden, Brückenangebote wie Motivationssemester und Vorlehren als Ausbildung
anzuerkennen. Allerdings könne längst nicht jede praktische Tätigkeit mit
tiefem Lohn als Ausbildung im Sinne der AHV gelten. Insbesondere bei Praktika,
bei denen nicht von vornherein ein bestimmter Berufsabschluss angepeilt werde,
sei besonders zu prüfen, ob eine systematische Vorbereitung auf ein Berufsziel
hin erfolge, und zwar auf der Grundlage eines ordnungsgemässen Lehrganges.

3.3

3.3.1 Auf den 1. Januar 2011 hat das BSV Rz. 3361 seiner Wegleitung über die
Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/75/
lang:deu/category:23 wie folgt neu gefasst:
"Ein Praktikum wird als Ausbildung anerkannt, wenn es
- eine Voraussetzung bildet für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu
einer Prüfung, oder
- zum Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt wird."

3.3.2 Diese Randziffer der RWL wurde auf den 1. Januar 2012 abermals revidiert
und lautet nunmehr:
"Ein Praktikum wird als Ausbildung anerkannt, wenn es gesetzlich oder
reglementarisch
- für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu einer Prüfung vorausgesetzt
ist, oder
- zum Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt wird."

3.3.3 Darüber hinaus wurde die RWL ebenfalls auf den 1. Januar 2012 um eine Rz.
3361.1 mit folgendem Wortlaut ergänzt:
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"Sind die Voraussetzungen von Rz. 3361 nicht erfüllt, so wird ein Praktikum
trotzdem als Ausbildung anerkannt, wenn
- vom Betrieb schriftlich zugesichert wird, dass das Kind bei Eignung nach
Abschluss des Praktikums eine Lehrstelle im betreffenden Betrieb erhält und
- das Praktikum im betreffenden Betrieb höchstens ein Jahr dauert."

3.3.4 Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind
für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei
seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall
angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen
Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von
Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der
rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung,
durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten,
Rechnung getragen (BGE 133 V 587 E. 6.1 S. 591, BGE 133 V 257 E. 3.2 S. 258 mit
Hinweisen; vgl. BGE 133 II 305 E. 8.1 S. 315).

4.

4.1 Es steht fest, dass das Praktikum, welches die Tochter des
Beschwerdegegners in der Zeit ab 1. August 2011 absolvierte, den Erfordernissen
der auf den 1. Januar 2012 in die RWL eingefügten Rz. 3361.1 entspricht.
Streitig ist einerseits die Anwendung dieser Randziffer auf den Zeitraum vor
dem 1. Januar 2012, andererseits die grundsätzliche Gesetzes- und
Verordnungskonformität dieser Wegleitungsbestimmung.

4.2 In seiner zwischen 1. Januar 2011 und 31. Dezember 2011 geltenden Fassung
unterschied Rz. 3361 RWL nicht zwischen gesetzlich oder reglementarisch
vorgeschriebenen Praktika einerseits und faktisch notwendigen Praktika
andererseits (vgl. E. 3.3.1 hievor). Diese Unterscheidung wurde erst auf den 1.
Januar 2012 in die RWL aufgenommen. Gemäss dem Wortlaut der jeweils geltenden
RWL war demnach sowohl vor wie auch nach dem 1. Januar 2012 eine Anerkennung
lediglich faktisch notwendiger Praktika möglich. Somit ist das kantonale
Gericht nicht von der jeweils geltenden RWL abgewichen, wenn es einen Anspruch
auf Kinderrente bereits ab 1. August 2011 zugesprochen hat.

4.3 Zu prüfen ist somit, ob die Anerkennung bloss faktisch notwendiger Praktika
als Ausbildung durch die RWL gegen Art. 49^bis Abs. 1 AHVV verstösst. In dieser
Verordnungsbestimmung werden nicht bloss rechtlich, sondern auch faktisch
anerkannte Bildungsgänge als
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Ausbildung qualifiziert. Zudem ergibt sich aus den Erläuterungen des BSV zu
dieser Verordnungsbestimmung, dass nicht jede Form von Praktika ausgeschlossen
werden sollte, sondern dass "echte" Praktika durchaus als Ausbildung anerkannt
werden können. Damit stellt sich die Frage, wie ein solches der Ausbildung
dienendes Praktikum von bloss niedrig bezahlter Erwerbsarbeit unterschieden
werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage erscheint es als zweckmässig, bei
der Notwendigkeit dieser Praktika für das angestrebte Berufszielanzusetzen.
Akzeptiert man notwendige Praktika als zur Ausbildung gehörend, so wirkt es als
zweitrangig, ob diese gesetzlich oder reglementarisch vorgeschrieben oder bloss
faktisch geboten sind. Die entsprechende Regelung in der RWL stellt somit eine
dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren
Verordnungsbestimmung dar. Triftige Gründe, sich über diese überzeugende
Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben hinwegzusetzen, sind keine erkennbar.
Zwar vermag in der Tat die Tendenz potenzieller Lehrbetriebe, jungen
Lehrinteressierten nicht direkt einen Lehrvertrag anzubieten, sondern von
diesen zunächst ein Praktikum zu verlangen, als bildungspolitisch bedenklich
erscheinen. Wie das BSV in seiner Vernehmlassung jedoch zutreffend ausführt,
kann es nicht Aufgabe der Invalidenversicherung sein, dieser Tendenz auf Kosten
der Versicherten entgegenzuwirken. Zweck der Kinderrente der
Invalidenversicherung für volljährige Kinder ist - wie jener der Waisenrenten
der AHV für volljährige Waisen (vgl. EVGE 1950 S. 61 E. 1 S. 62 ff.) - die
Förderung der beruflichen Ausbildung. Das volljährige Kind eines invaliden
Elternteils soll durch die Invalidität seines Vaters oder seiner Mutter in
seinem beruflichen Weiterkommen nicht behindert sein. Würde aus den genannten
bildungspolitischen Überlegungen ein Anspruch bei einem bloss faktisch
notwendigen Praktikum verneint, so hätte dies unter Umständen zur Folge, dass
ein solches Kind die von ihm gewünschte Ausbildung nicht antreten könnte. Es
wäre alsdann gezwungen, eine Lehrstelle in einem Beruf zu suchen, welcher
weniger seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Dies würde aber dem Zweck
der Kinderrente im Ergebnis zuwiderlaufen.

4.4 Die Qualifikation eines bloss faktisch notwendigen Praktikums als
Ausbildung im Sinne von Art. 49^bis Abs. 1 AHVV ist demnach nicht zu
beanstanden; die Beschwerde der IV-Stelle Basel-Landschaft im Hauptpunkt ist
demgemäss abzuweisen.