Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 108



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Urteilskopf

139 V 108

16. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. G. gegen
Basler Versicherung AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_730/2012 vom 28. März 2013

Regeste

Art. 69 Abs. 2 ATSG.
Anwaltskosten sind Mehrkosten im Sinne von Art. 69 Abs. 2 ATSG (E. 5 und 6).

Erwägungen ab Seite 108

BGE 139 V 108 S. 108
Aus den Erwägungen:

2. Streitig und zu prüfen ist einzig die Frage, ob (und allenfalls inwieweit)
Anwaltskosten Mehrkosten im Sinne von Art. 69 Abs. 2 ATSG (SR 830.1)
darstellen.
BGE 139 V 108 S. 109
Das Bundesgericht hat sich zur Frage bis anhin nicht umfassend geäussert. Die
Problematik wurde zwar im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 108/05 vom
28. August 2006 angesprochen. Es handelt sich dabei aber nicht um ein
Grundsatzurteil, da es in Dreierbesetzung ergangen ist (vgl. die damals
geltende Ordnung gemäss Art. 125 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 und 2 des
Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der
Bundesrechtspflege [OG; AS 1992 288, 289 und 297]; heute: Art. 20 Abs. 1 und 2
BGG). Die dortigen - nicht weiter begründeten - Ausführungen sind als obiter
dictum zu betrachten, und das ATSG war in jenem Verfahren gar nicht anwendbar.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich sprach sich gegen die
Anerkennung von Anwaltskosten als Mehrkosten aus (Entscheid UV 2003.00253 vom
24. Juni 2005); dieser Entscheid war ans Eidg. Versicherungsgericht
weitergezogen worden (Urteil U 325/05 vom 5. Januar 2006), welches sich zur
Anrechenbarkeit von Anwaltskosten als Mehrkosten im Sinne von Art. 69 ATSG
nicht zu äussern hatte, da der vorinstanzliche Entscheid diesbezüglich nicht
angefochten worden war; insofern lässt sich daraus nichts Verbindliches
ableiten (Urteil U 325/05 vom 5. Januar 2006 E. 3.4, nicht publ. in: BGE 132 V
27, aber in: SVR 2006 UV Nr. 13 S. 45 und RKUV 2006 S. 190).

3.

3.1 Bezüglich der streitigen Frage der Überentschädigung bestimmte aArt. 40 UVG
(SR 832.20; in der ab 1. Januar 1985 bis zuletzt in Kraft gestandenen Fassung)
für die Belange der Unfallversicherung Folgendes: Wenn keine Koordinationsregel
dieses Gesetzes eingreift, so werden Geldleistungen, ausgenommen
Hilflosenentschädigungen, soweit gekürzt, als sie mit den anderen
Sozialversicherungsleistungen zusammentreffen und den mutmasslich entgangenen
Verdienst übersteigen; Art. 34 Abs. 2 BVG (SR 831.40) bleibt vorbehalten. Mit
Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 wurde aArt. 40 UVG aufgehoben (Ziff.
12 Anhang ATSG, AS 2002 3427). Die Überentschädigung ist nunmehr - auch für die
Unfallversicherung - wie folgt geregelt: Gemäss Art. 68 ATSG werden Taggelder
unter Vorbehalt der Überentschädigung kumulativ zu Renten anderer
Sozialversicherungen gewährt. Nach Art. 69 ATSG darf das Zusammentreffen von
Leistungen verschiedener Sozialversicherungen nicht zu einer Überentschädigung
der berechtigten Person führen. Bei der Berechnung der Überentschädigung werden
nur Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung berücksichtigt, die der
anspruchsberechtigten Person
BGE 139 V 108 S. 110
auf Grund des schädigenden Ereignisses gewährt werden (Abs. 1). Eine
Überentschädigung liegt in dem Masse vor, als die gesetzlichen
Sozialversicherungsleistungen den wegen des Versicherungsfalls mutmasslich
entgangenen Verdienst zuzüglich der durch den Versicherungsfall verursachten
Mehrkosten und allfälliger Einkommenseinbussen von Angehörigen übersteigen
(Abs. 2). Die Leistungen werden um den Betrag der Überentschädigung gekürzt.
Von einer Kürzung ausgeschlossen sind die Renten der AHV und der IV sowie alle
Hilflosen- und Integritätsentschädigungen. Bei Kapitalleistungen wird der
Rentenwert berücksichtigt (Abs. 3).

3.2 Die Vorinstanz geht unter Hinweis auf die Materialien von einer engen
Auslegung des Begriffs "Mehrkosten" aus. Sie gelangt zum Schluss, dass solche
Kosten auf die gesundheitliche Beeinträchtigung des Versicherten zurückzuführen
sein müssen. Anwaltskosten seien demnach nicht anrechenbar.

3.3 Der Versicherte ist der Auffassung, eine derartige Einschränkung ergebe
sich aus der genannten Gesetzesbestimmung nicht. Die Anwaltskosten seien ihm
tatsächlich als Unfallfolge erwachsen, um die Sozialversicherungsleistungen
geltend machen zu können. Weder aus der ratio legis noch aus den Materialien
ergäben sich Hinweise für eine enge Auslegung des Begriffes.

3.4 Die Basler unterstützt die Auffassung der Vorinstanz und hält zusätzlich
fest, falls Anwaltskosten als Mehrkosten anerkannt würden, seien diese auf ein
vertretbares Mass zu beschränken.

4.

4.1 Aus den Materialien zum ATSG ergibt sich vorerst, dass die Frage der
Überentschädigung im Laufe der parlamentarischen Beratung Änderungen erfahren
hat. Durchgesetzt hat sich mit Blick auf die hier zu beantwortende Frage die
Fassung der ständerätlichen Kommission. Eine inhaltliche Beschränkung des
Begriffs der Mehrkosten kann daraus nicht entnommen werden (vgl. etwa AB 1999 N
1250 ff. und AB 2000 S 186 sowie Protokoll der nationalrätlichen Kommission für
soziale Sicherheit und Gesundheit vom 14./15. Januar 1999, S. 33 ff. und
Protokoll der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit
vom 6. September 1999, S. 23, gemäss welchen sich die Kontroverse um den
Einbezug des Erwerbsausfalls der Angehörigen drehte). Vielmehr ergibt sich aus
dem Bericht der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und
Gesundheit vom 26. März 1999 "Parlamentarische Initiative
Sozialversicherungsrecht" (BBl 1999
BGE 139 V 108 S. 111
4523, 4642 zu Art. 76 Abs. 2 E-ATSG), die Frage der Auslegung des Begriffs
Mehrkosten werde durch die Gerichtspraxis zu klären sein; der Hinweis im
ständerätlichen Bericht sowie das durch FRANZ SCHLAURI (Die
Leistungskoordination im neuen Krankenversicherungsrecht, in: LAMal-KVG,
Recueil de travaux en l'honneur de la société suisse de droit des assurances,
1997, S. 639, 653 f.) vertretene Verständnis der geltenden Regelungen sprächen
zwar dafür, die Mehrkosten auf behandlungs- oder betreuungsbedingte Kosten
einzuschränken, der Wortlaut der Bestimmung lasse aber eine andere Deutung
offen.

4.2 Das Schrifttum äussert sich zur strittigen Frage eher zurückhaltend (vgl.
etwa KIESER/LANDOLT, Unfall - Haftung - Versicherung, 2011, S. 331 f. Rz. 996
ff.; BETTINA KAHIL-WOLFF, in: Droit suisse de la sécurité sociale, Pierre-Yves
Greber und andere [Hrsg.], Bd. I, 2010, S. 32 f. Rz. 54 ff.; UELI KIESER,
ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 17 ff. zu Art. 69 ATSG; FRÉSARD/
MOSER-SZELESS, L'assurance-accidents obligatoire, in: Soziale Sicherheit, SBVR
Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 946 f. Rz. 360 ff.; GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, Le
recours subrogatoire de l'assurance-accidents sociale contre le tiers
responsable ou son assureur, 2007, S. 480 f. Rz. 1448). Insbesondere finden
sich kaum Ausführungen zur Frage, weshalb Anwaltskosten nicht als Mehrkosten
anerkannt werden dürfen.
Am deutlichsten gegen die Anerkennung von Anwaltskosten als Mehrkosten im Sinne
von Art. 69 Abs. 2 ATSG spricht sich GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY aus. Sie sieht
darin eine Ausweitung des Schadensbegriffs über das im Sozialversicherungsrecht
anerkannte Mass hinaus. Demgegenüber bejahen KIESER/LANDOLT die Anerkennung der
Anwaltskosten als Mehrkosten bei der Berechnung der Überentschädigung, da der
Gesetzgeber ein offenes Kriterium, nämlich die Verursachung durch den Unfall,
gewählt habe.

5.

5.1 Die Auslegung des Gesetzes ist auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers
und die von ihm erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten.
Ausgangspunkt der Auslegung einer Norm bildet ihr Wortlaut. Vom daraus
abgeleiteten Sinne ist jedoch abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen,
dass der Gesetzgeber diesen nicht gewollt haben kann (vgl. BGE 136 V 84 E.
4.3.2.1 S. 92). Solche Gründe können sich insbesondere aus der
Entstehungsgeschichte der Norm, aus ihrem Zweck oder aus dem Zusammenhang mit
anderen Vorschriften ergeben (BGE 135 IV 113 E. 2.4.2 S. 116; BGE 135 V 382 E.
11.4.1 S. 404).
BGE 139 V 108 S. 112
Insoweit wird vom historischen, teleologischen und systematischen
Auslegungselement gesprochen. Bei der Auslegung einer Norm sind daher neben dem
Wortlaut diese herkömmlichen Auslegungselemente zu berücksichtigen (BGE 135 V
319 E. 2.4 S. 321; BGE 134 III 273 E. 4 S. 277 mit Hinweisen).

5.2 Aus dem Wortlaut lässt sich eine restriktive Auslegung im Sinne der
Vorinstanz nicht ableiten, spricht doch Art. 69 Abs. 2 ATSG von "durch den
Versicherungsfall verursachten" Mehrkosten. Dass darunter ausschliesslich
gesundheitsbedingte Mehrkosten zu verstehen sind, erscheint schon deshalb nicht
naheliegend, weil der Gesetzgeber eine derartige Einschränkung ohne Weiteres
selber hätte vornehmen können, wenn er sie so gewollt hätte. Aus dem offenen
Wortlaut ("der durch den Versicherungsfall verursachten Mehrkosten"; "du fait
de la réalisation du risque ... les frais supplémentaires"; "in seguito
all'evento assicurato, incluse le spese supplementari provocate") lässt sich
eher schliessen, dass - im Sinne eines natürlichen Kausalzusammenhanges - alle
Kosten, die ohne Versicherungsfall nicht entstanden wären, gemeint sind. Der
Wortlaut ist demnach einer Auslegung im Sinne des Versicherten ohne Weiteres
zugänglich.

5.3 Eine Beschränkung im vorinstanzlichen Sinne ergibt sich auch nicht aus der
Entstehungsgeschichte. Zwar wurde in den Materialien eine solche erwähnt (vgl.
E. 4.1). Letztlich hat der Gesetzgeber die Auslegung des Begriffes der
Mehrkosten aber explizit der Rechtsprechung überlassen, ohne inhaltliche
Vorgaben vorzunehmen. Insbesondere wurde darauf verzichtet, den Begriff auf
behandlungs- oder betreuungsbedingte Mehrkosten einzuschränken. Den gemeinsamen
Empfehlungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), des
Schweizerischen Versicherungsverbandes (SVV) und der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) zum ATSG und Versorgungsschaden lässt sich
ein einschränkendes Verständnis des Begriffs "Mehrkosten" entnehmen (vgl. HAVE
2003 S. 346 ff., v.a. S. 350); dabei handelt es sich jedoch um
Verwaltungsweisungen, welche für das Bundesgericht nicht verbindlich sind (BGE
133 V 587 E. 6.1 S. 591, BGE 133 V 257 E. 3.2 S. 258).

5.4 Nach Art. 69 Abs. 2 ATSG liegt eine Überentschädigung erst dann vor, wenn
die Sozialversicherungsleistungen den mutmasslich entgangenen Verdienst
übersteigen. Das Gesetz sieht demnach keine Beschränkung in dem Sinne vor, dass
die Sozialversicherungsleistungen den durch Arbeit erzielten Verdienst nicht
erreichen dürfen, wie dies etwa das Komplementärrentensystem der
BGE 139 V 108 S. 113
Unfallversicherung mit einer Begrenzung auf 90 % des versicherten Einkommens
vorsieht (Art. 20 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 4 UVG). Daraus ist zu schliessen,
dass der Gesetzgeber bewusst eine eher grosszügige Lösung getroffen hat. Aus
dieser ratio legis kann demnach nicht geschlossen werden, der Begriff der
Mehrkosten sei eng auszulegen.

5.5 Ähnliches lässt sich aus dem Umstand schliessen, dass Art. 69 ATSG bei der
Festlegung der Überentschädigungsgrenze nicht nur den entgangenen Verdienst des
Versicherten selber, sondern auch die durch den Versicherungsfall verursachten
Einkommenseinbussen Angehöriger miteinbezieht. Mit andern Worten hat der
Gesetzgeber beim entgangenen Verdienst eine für die versicherte Person günstige
Lösung getroffen. Aus systematischer Sicht kann daher nicht angenommen werden,
er habe dies bei den Mehrkosten gerade nicht beabsichtigt.

5.6 Ein Blick auf die Regelung des Haftpflichtrechts (Art. 41 ff. OR) lässt
eine enge Auslegung des Begriffes Mehrkosten ebenso wenig als angezeigt
erscheinen (vgl. dazu die Ausführungen von HARDY LANDOLT, Zürcher Kommentar,
Teilbd. V 1c, 3. Aufl. 2007, N. 112 ff. zu Art. 46 OR sowie die Urteile 4C.215/
2001 vom 15. Januar 2002 E. 4 und 4C.55/2006 vom 12. Mai 2006 E. 4, wo der
vorprozessuale Anwaltsaufwand grundsätzlich als schadenersatzpflichtig
bezeichnet wird; so schon BGE 97 II 259). Einzuräumen ist indessen, dass aus
dem Haftpflichtrecht nicht ohne Weiteres auf das Sozialversicherungsrecht
geschlossen werden darf, liegt jenem doch ein weiterer Schadensbegriff zu
Grunde. Jedenfalls aber schliesst die Praxis zu Art. 41 ff. OR eine offene
Auslegung im Sinne des Versicherten nicht aus.

5.7 Insgesamt führen weder der Wortlaut, die ratio legis, die Materialien, die
Systematik noch der Vergleich mit der Regelung aus einem verwandten
Rechtsgebiet zu einer engen Auslegung des Begriffs der Mehrkosten im Sinne der
Vorinstanz. Vielmehr ist aufgrund des offenen Wortlautes anzunehmen, dass
darunter grundsätzlich alle durch den Versicherungsfall entstandenen Mehrkosten
zu verstehen sind. Der im Schrifttum geäusserte Einwand, dadurch werde der
Schadensbegriff über das im Sozialversicherungsrecht anerkannte Mass
ausgeweitet, ist deshalb nicht zu hören, weil es sich bei den Mehrkosten im
Sinne von Art. 69 Abs. 2 ATSG stets um Kosten handeln muss, welche durch
Sozialversicherungsleistungen nicht gedeckt werden können.
BGE 139 V 108 S. 114

6. Unter die Mehrkosten sind daher grundsätzlich auch die dem Versicherten
entstandenen Anwaltskosten zu subsumieren. Einschränkend ist anzufügen, dass es
sich dabei einzig um Anwaltskosten handeln darf, die durch den
Versicherungsfall entstanden sind. Konkret sind dies die Aufwendungen, die zur
Erlangung der für die Überentschädigungsberechnung massgebenden
Sozialversicherungsleistungen notwendig waren. Daher können beispielsweise
keine anwaltlichen Bemühungen für Haftpflichtversicherungsleistungen darunter
verstanden werden. Anrechenbar sind im Weiteren nur die notwendigen
Aufwendungen. Auszuschliessen ist daher der Einbezug von Anwaltskosten, welche
ausserhalb des üblicherweise zu erwartenden Vorgehens (so KIESER, a.a.O., N. 20
zu Art. 69 ATSG) entstanden sind. Das gilt sowohl für den vorprozessualen
Aufwand als auch für die Anwaltskosten in einem Gerichtsverfahren. Letztere
können ohnehin nur geltend gemacht werden, soweit sie nicht durch eine
Parteientschädigung abgegolten worden sind. Schliesslich stellt sich die Frage,
inwiefern eine allfällige Rechtsschutzversicherung, welche der versicherten
Person Anwaltskosten erstattet, zu berücksichtigen ist.