Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 I 229



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Urteilskopf

139 I 229

22. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. und
Mitb. sowie Y. und Mitb. gegen Regierung des Kantons Graubünden (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_806/2012 / 2C_807/2012 vom 12. Juli 2013

Regeste

Art. 4, 18 und 70 BV; Art. 3 KV/GR, Art. 2, 7 und 8 der Europäischen Charta der
Regional- oder Minderheitssprachen: Der Beschluss der Bündner Regierung vom 5.
Dezember 2011, wonach ein Wechsel der Schulsprache vom Rumantsch Grischun zum
Idiom oder umgekehrt grundsätzlich nur auf den Beginn der 1. Primarschulklasse
erfolgen kann, berührt den Schutzbereich der Sprachenfreiheit nicht und erweist
sich auch nicht als konventionswidrig.
Die individuelle Sprachenfreiheit garantiert das Recht, sowohl Rumantsch
Grischun als auch ein romanisches Idiom zu sprechen (E. 5.4). Einschränkung der
Sprachenfreiheit durch das Amtssprachen- und Territorialitätsprinzip (E. 5.5)
sowie durch die staatliche Festlegung der Unterrichtssprache (E. 5.6). Der
Verfassungsbegriff des "Rätoromanischen" lässt offen, ob damit "Rumantsch
Grischun" oder die Idiome gemeint sind (E. 5.7). Daher ist der Schutzbereich
der Sprachenfreiheit durch den angefochtenen Beschluss nicht berührt (E. 5.8
und 5.9). Der Charta der Regional- oder Minderheitssprachen ist hinreichend
Rechnung getragen worden (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 231

BGE 139 I 229 S. 231

A. Der Grosse Rat des Kantons Graubünden beschloss im August 2003 die
Herausgabe der rätoromanischen Lehrmittel in Rumantsch Grischun und beauftragte
die Regierung, ein Konzept für dessen Einführung in den Schulen auszuarbeiten.
Am 21. Dezember 2004 verabschiedete die Regierung des Kantons Graubünden ein
Grobkonzept betreffend Rumantsch Grischun in der Schule. Danach sollte dieses
als "Alphabetisierungssprache" bereits ab der 1. Primarklasse eingeführt
werden. Am 24. April 2007 erliess die Regierung unter dem Titel "Rumantsch
Grischun in der Schule: Ausgestaltungsphase 'Pionier' in den Schuljahren 2007/
08-2010/11" einen weiteren Beschluss, worin sie diese Ausgestaltungsphase als
Schulversuch bewilligte. In der Folge beschlossen zahlreiche Gemeinden,
namentlich im Münstertal und in der Surselva, sich als Pioniergemeinden im
Sinne dieses Beschlusses zu betätigen. Später jedoch formierte sich Widerstand
gegen Rumantsch Grischun in der Schule. Im Münstertal und in der Surselva
wurden kommunale Volksinitiativen lanciert mit dem Ziel, das Rumantsch Grischun
als "Alphabetisierungssprache" wieder abzuschaffen und diese durch das Idiom zu
ersetzen.

B. Am 5. Dezember 2011 beschloss die Regierung des Kantons Graubünden:
"Es wird festgestellt, dass ein allfälliger Wechsel der Schulsprache vom
Rumantsch Grischun zum Idiom oder umgekehrt grundsätzlich auf Beginn der 1.
Primarklasse zu erfolgen hat. Ausnahmsweise kann ein entsprechender Wechsel in
der Schulsprache auch für Schüler und Schülerinnen, die derzeit die 1.
Primarklasse besuchen, bis spätestens zu Beginn des Schuljahres 2012/2013
vorgenommen werden, sofern dies von der
Schulträgerschaft beschlossen wird. Diese Feststellung erfolgt im Sinne einer
Ergänzung der Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit dem von der Regierung am
24. April 2007 bewilligten Schulversuch betreffend Ausgestaltungsphase
'Pionier' 2007 bis 2011 des Projekts 'Rumantsch Grischun in der Schule'."
Am 19. Januar 2012 erhoben X. und Mitbeteiligte, allesamt Eltern von
schulpflichtigen Kindern aus dem Münstertal, Beschwerde beim Verwaltungsgericht
des Kantons Graubünden mit dem Antrag, der Beschluss der Regierung vom 5.
Dezember 2011 sei aufzuheben.
Ebenfalls am 19. Januar 2012 erhoben Y. und Mitbeteiligte, allesamt Eltern von
schulpflichtigen Kindern aus der Surselva, Beschwerde beim Verwaltungsgericht
des Kantons Graubünden mit dem gleichen Antrag.
Mit zwei Urteilen vom 22. Mai 2012 wies das Verwaltungsgericht die beiden
Beschwerden ab.
BGE 139 I 229 S. 232

C.

C.a X. und Mitbeteiligte erheben mit gemeinsamer Eingabe vom 27. August 2012
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Verfahren 2C_806/2012)
mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts und den mitangefochtenen
Beschluss der Regierung aufzuheben, eventualiter die Angelegenheit zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)

C.b Y. und Mitbeteiligte erheben ebenfalls Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten (Verfahren 2C_807/2012) mit dem nämlichen Antrag. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen kantonal
letztinstanzliche Endentscheide in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts
sind zulässig (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Art. 90 BGG). Die
Beschwerdeführer sind als Eltern schulpflichtiger Kinder durch den
vorinstanzlichen Entscheid besonders berührt, haben ein schutzwürdiges
Interesse an dessen Aufhebung und sind damit zur Anfechtung beim Bundesgericht
befugt (Art. 89 Abs. 1 BGG). Auf die form- und fristgerecht eingereichten
Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist einzutreten.

2.2 Das Bundesgericht wendet das Recht grundsätzlich von Amtes wegen an (Art.
106 Abs. 1 BGG). Die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und
interkantonalem Recht prüft es aber nur insofern, als eine solche Rüge in der
Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). In der
Beschwerde ist klar und detailliert anhand der Erwägungen des angefochtenen
Entscheids darzulegen, inwiefern verfassungsmässige Rechte verletzt worden sein
sollen (BGE 135 III 232 E. 1.2; BGE 134 I 83 E. 3.2; BGE 133 III 393 E. 6, BGE
133 III 439 E. 3.2; BGE 133 II 249 E. 1.4.2); wird eine solche Verfassungsrüge
nicht vorgebracht, kann das Bundesgericht eine Beschwerde selbst dann nicht
gutheissen, wenn eine Verfassungsverletzung tatsächlich vorliegt (BGE 131 I 377
E. 4.3).

2.3 Im Verfahren vor Bundesgericht haben die Parteien, die Beteiligten und zur
Beschwerde berechtigten Behörden das Recht, sich zu äussern (Art. 102 BGG).
Eingaben unbeteiligter Dritter sind unbeachtlich. Die Eingaben von Z. sind aus
den Akten zu weisen.
(...)
BGE 139 I 229 S. 233

4.

4.1 Das Verwaltungsgericht geht davon aus, dass im Kanton Graubünden die
Gemeinden zuständig sind, über die Schulsprache zu entscheiden. Das wird auch
von der Regierung bestätigt . Der streitige Beschluss stellt diese
Zuständigkeit nicht prinzipiell in Frage, hat aber zur Folge, dass es den
Gemeinden zwar freisteht, von der Schulsprache Rumantsch Grischun auf das Idiom
zu wechseln (oder umgekehrt), dass aber dieser Wechsel für diejenigen Schüler,
welche bereits eingeschult wurden, nicht mehr zum Tragen kommt. Dies ist
Streitthema.

4.2 Das Verwaltungsgericht hat dazu erwogen, es gehe um einen vom Kanton
initiierten und finanzierten Schulversuch nach Art. 6 des Gesetzes vom 26.
November 2000 für die Volksschulen des Kantons Graubünden (SchulG; BR 421.000)
in Verbindung mit Art. 33 des Gesetzes vom 30. August 2007 über den
Finanzhaushalt und die Finanzaufsicht des Kantons Graubünden (FFG; per 1.
Dezember 2012 aufgehoben). Der angefochtene Beschluss finde in Art. 6 SchulG
eine hinreichende gesetzliche Grundlage. Die Gemeindeautonomie sei nicht
verletzt, weil den Gemeinden die freie Entscheidung über die Wahl der
Schulsprache nicht beschränkt worden sei. Sodann werde die Sprachenfreiheit
nicht missachtet, da kein Wechsel vom Romanischen auf Deutsch oder Italienisch
angeordnet worden sei, sondern ein solcher innerhalb des Romanischen. Zudem sei
der angefochtene Beschluss auch pädagogisch sinnvoll, damit kein Schüler
gezwungen werde, während der obligatorischen Schulzeit die Schulsprache zu
wechseln; dies wäre für die Schüler verwirrend und würde die Spracherlernung
und die Chancengleichheit bei den Aufnahmeprüfungen gefährden. Ferner habe der
Grosse Rat im Dezember 2011 ein neues Schulgesetz erlassen, wobei die von der
Regierung getroffene Lösung akzeptiert worden sei.

5.

5.1 Drei Normen der Bundesverfassung enthalten Regeln über die Sprachen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft: Art. 4 BV bestimmt die Landessprachen,
darunter auch das "Rätoromanisch". Art. 18 BV garantiert ausdrücklich die
Sprachenfreiheit. Art. 70 BV schliesslich regelt die Fragen der Amtssprachen,
jene des Territorialitätsprinzips und jene der Kompetenzen von Bund und
Kantonen im Bereich der Sprache.

5.2 Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung der Sprachenfreiheit (Art. 18 BV
); entgegen der Auffassung der Vorinstanz falle auch
BGE 139 I 229 S. 234
der Gebrauch des rätoromanischen Idioms in den Geltungsbereich der
Sprachenfreiheit. Der streitige Beschluss greife ohne genügende gesetzliche
Grundlage und in unverhältnismässiger Weise in die Sprachenfreiheit ein.

5.3 Zu prüfen ist also zunächst, ob die Sprachenfreiheit (Art. 18 BV) einen
Anspruch darauf gibt, im Idiom anstatt in Rumantsch Grischun unterrichtet zu
werden.

5.4 Die Sprachenfreiheit (Art. 18 BV) garantiert das Recht, eine Sprache nach
eigener Wahl zu benützen, insbesondere auch die Muttersprache (BGE 138 I 123 E.
5.1; BGE 136 I 149 E. 4.1; BGE 122 I 236 E. 2b; BGE 121 I 196 E. 2a; so
genannte "aktive Seite der Sprachenfreiheit", vgl. REGULA KÄGI-DIENER, in: Die
Schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 13 zu Art. 18 BV
). Als Individual-Grundrecht schützt sie den Gebrauch sowohl der
rätoromanischen Idiome (GIOVANNI BIAGGINI, BV, 2007, N. 6 zu Art. 70 BV) als
auch des Rumantsch Grischun (MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4.
Aufl. 2008, S. 294; STEPHAN HÖRDEGEN, Der Freiburger Sprachenfall - Kontroverse
über die Unterrichtssprache in der Schule im Lichte der Sprachenfreiheit und
der Bildungschancengleichheit, AJP 2003 S. 769 f.). In diesen privaten Bereich
der Sprachenfreiheit - d. h. wenn es um die Freiheit der einzelnen Bürgerinnen
und Bürger geht, welche Sprache sie benützen und in welcher sie untereinander
kommunizieren wollen - hat sich der Staat nicht einzumischen. Im öffentlichen
Bereich der Sprachenfreiheit - wozu die Festlegung der Unterrichtssprache an
den Schulen zweifellos gehört - können und müssen Bund, Kantone und Gemeinden
dagegen tätig werden (vgl. dazu sogleich). Es geht hier um die so genannte
"passive Seite der Sprachenfreiheit", also die Frage, in welcher Sprache sich
die staatlichen Behörden an die Bevölkerung wenden. Dabei gilt es vorab - was
gerade auch für den hier zu beurteilenden Fall mitentscheidend ist - zu
beachten, dass die staatliche Festlegung der Unterrichtssprache die einzelnen
Bürgerinnen und Bürger in ihrer Wahlfreiheit, in welcher Sprache sie
untereinander sprechen möchten, nicht beeinträchtigt (vgl. zum Ganzen AUER/
MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, 2013, S. 310).

5.5 Die Sprachenfreiheit wird eingeschränkt durch das Amtssprachen- und
Territorialitätsprinzip: Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen, wobei sie das
Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften wahren, auf die herkömmliche
sprachliche Zusammensetzung der
BGE 139 I 229 S. 235
Gebiete achten und auf die angestammten sprachlichen Minderheiten Rücksicht
nehmen (Art. 70 Abs. 2 BV); der Einzelne hat kein Recht, mit den Behörden in
einer beliebigen Sprache zu verkehren, sondern hat - unter Vorbehalt besonderer
Ansprüche (z.B. Art. 31 Abs. 2 BV; Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK)
- die jeweilige Amtssprache zu benützen (BGE 138 I 123 E. 5.2; BGE 136 I 149 E.
4.3; BGE 124 III 205 E. 4; BGE 122 I 236 E. 2c). Art. 70 Abs. 2 BV verbietet
auch die bewusste Verschiebung hergebrachter Sprachgrenzen oder die
Unterdrückung von hergebrachten Minderheitssprachgruppen (BGE 100 Ia 462 E. 2b
S. 466; BGE 122 I 236 E. 2h; BIAGGINI, a.a.O., N. 9 zu Art. 70 BV; KÄGI-DIENER,
a.a.O., N. 26 zu Art. 70 BV; GIORGIO MALINVERNI, in: Kommentar zur
Bundesverfassung [...] vom 29. Mai 1874, Stand: Juni 1987, N. 28 f. zur
Sprachenfreiheit; DANIEL THÜRER, Zur Bedeutung des sprachenrechtlichen
Territorialprinzips für die Sprachenlage im Kanton Graubünden, ZBl 85/1984 S.
241 ff., 249). Diese Grundsätze gelten insbesondere für den Schutz der
traditionellen sprachlichen Minderheiten wie des Italienischen und des
Rätoromanischen (vgl. Art. 70 Abs. 5 BV; BGE 138 I 123 E. 8; CHRISTINE
MARTI-ROLLI, La liberté de la langue en droit suisse, 1978, S. 37; MÜLLER/
SCHEFER, a.a.O., S. 298; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, 3. Aufl. 2011, S. 223 Rz. 7).

5.6 Das Territorialitätsprinzip gilt auch für den Unterricht an staatlichen
Schulen: Die Sprache ist sowohl für das Individuum als auch für das Kollektiv,
die Schulsprache für die Identitätsbildung des einzelnen Kindes wie auch für
den Fortbestand einer Sprachgemeinschaft von erheblicher Bedeutung (BGE 100 Ia
462 E. 4 S. 469 f.; THOMAS FLEINER, Sprachenfreiheit, in: Handbuch der
Grundrechte, Bd. VII/2: Grundrechte in der Schweiz [...], Merten/Papier
[Hrsg.], 2007, S. 406 f., 412 f.; HÖRDEGEN, a.a.O., S. 770 f.; MÜLLER/SCHEFER,
a.a.O., S. 302; TSCHANNEN, a.a.O., S. 230 Rz. 30; BARBARA WILSON, La liberté de
la langue des minorités dans l'enseignement, 1999, S. 113 f.). Das Interesse am
Fortbestand einer Sprachgemeinschaft kann dem Interesse des Einzelnen, in einer
bestimmten Sprache unterrichtet zu werden, entgegenstehen (BGE 138 I 123 E. 5.2
und 8). Zudem geht es beim Unterricht an staatlichen Schulen nicht um eine
Einschränkung der Sprachenfreiheit als Abwehrgrundrecht, sondern um einen
Leistungsanspruch gegenüber dem Staat im Rahmen von Art. 19 und 62 Abs. 2 BV,
wobei neben dem Anliegen der Bewahrung sprachlich homogener Territorien auch
der Aspekt der finanziellen Belastung des Gemeinwesens zu beachten ist (vgl.
generell zu Art. 19 und 62 BV:
BGE 139 I 229 S. 236
BGE 138 I 162 E. 3.2 und 4.6.2; BGE 130 I 352 E. 3.3; BGE 129 I 12 E. 6.4). Die
Sprachenfreiheit gibt aus diesen Gründen kein Recht, an den staatlichen Schulen
in einer beliebigen (Mutter-)Sprache unterrichtet zu werden; vielmehr findet
der Unterricht in derjenigen Sprache statt, welche die Kantone - oder gemäss
kantonalem Recht die Gemeinden - entsprechend den Grundsätzen von Art. 70 Abs.
2 BV festlegen (vgl. noch zur alten BV: BGE 100 Ia 462 E. 2a; BGE 122 I 236 E.
2d; BGE 125 I 347 E 5c; zur geltenden BV: BGE 138 I 123 E. 5.2; Urteil 2P.112/
2001 vom 2. November 2001 E. 2; PASCAL MAHON, in: Petit commentaire de la
Constitution fédérale [...], Aubert/Mahon [Hrsg.], 2003, N. 8 zu Art. 19 BV;
MARCO BORGHI, in: Kommentar zur Bundesverfassung [...] vom 29. Mai 1874, Stand:
Juni 1988, N. 35 zu Art. 27 BV; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit
constitutionnel suisse, Bd. II, 2. Aufl. 2006, S. 689 Rz. 1542; FLEINER,
a.a.O., S. 433 f.; MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 302 f.). So ist die
Sprachenfreiheit nicht verletzt, wenn ein Kind romanischer Muttersprache, das
in einer mehrheitlich deutschsprachigen Gemeinde lebt, dort in deutscher
Sprache unterrichtet wird (BGE 100 Ia 462 E. 4). In späteren Urteilen wurde
erkannt, in zwei- oder mehrsprachigen Gebieten könne sich aus der
Sprachenfreiheit ein Anspruch darauf ergeben, in einer der mehreren
traditionellen Sprachen unterrichtet zu werden, sofern dies nicht zu einer
unverhältnismässigen Belastung des Gemeinwesens führt (BGE 125 I 347 E. 5c; BGE
122 I 236 E. 2d S. 240; BGE 106 Ia 299 E. 2b/cc S. 306). Insoweit besteht ein
verfassungsmässiges Recht auf Schulunterricht in derjenigen Sprache, die am
betreffenden Ort gesprochen wird (KÄGI-DIENER, a.a.O., N. 13 zu Art. 18 BV;
GIUSEP NAY, Romanischdebatte: die rechtlichen Pflichten und Einschränkungen für
die Politik, ZGRG 2011 S. 133; KIENER/KÄLIN, Grundrechte, 2007, S. 261; MÜLLER/
SCHEFER, a.a.O., S. 303). In der Lehre wird es - unter Verweis auf § 24 des
Zürcher Volksschulgesetzes vom 7. Februar 2005 - als zulässig erachtet, als
Schulsprache "grundsätzlich die Standardsprache" festzulegen (BIAGGINI, a.a.O.,
N. 8 zu Art. 18 BV), wobei sich der Begriff der Standard- oder Amtssprache in
Bezug auf das Rätoromanische auf Rumantsch Grischun beziehe (BORGHI, a.a.O., N.
27 zu Art. 27 BV; NAY, a.a.O., S. 136).

5.7 Vorliegend ist nicht in Frage gestellt, dass die romanischsprachigen Kinder
der Beschwerdeführer in romanischer Sprache unterrichtet werden. Umstritten ist
aber, ob sich die Garantie der Unterrichtssprache auf das Idiom oder auf
Rumantsch Grischun bezieht (vgl. auch vorne E. 5.3).
BGE 139 I 229 S. 237

5.7.1 Das Verhältnis zwischen den rätoromanischen Idiomen und dem in den
1980er-Jahren geschaffenen Rumantsch Grischun lässt sich nicht ohne weiteres
mit dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Sprachen vergleichen: Rumantsch
Grischun ist zwar eine künstliche Schöpfung, die aber nicht mit dem Ziel
geschaffen wurde, die herkömmlichen Sprachgebiete zu verändern, sondern um eine
gemeinsame Schriftsprache für alle romanischen Idiome zu gewinnen (Botschaft
vom 4. März 1991 über die Revision des Sprachenartikels der Bundesverfassung,
BBl 1991 II 309, 316 Ziff. 122.4, 322 Ziff. 124.1).

5.7.2 Traditionell umfasste der rechtliche Begriff des Rätoromanischen alle
rätoromanischen Idiome, zumindest diejenigen, die eine eigene Schriftsprache
entwickelt hatten, namentlich die vorliegend interessierenden Idiome Vallader
und Sursilvan (zit. Botschaft, BBl 1991 II 316 Ziff. 122.4; DAGMAR RICHTER,
Sprachenordnung und Minderheitenschutz im schweizerischen Bundesstaat, 2005, S.
884 f.; RUDOLF VILETTA, Grundlagen des Sprachenrechts, 1978, S. 147; GIAN-RETO
GIERÉ, Die Rechtsstellung des Rätoromanischen in der Schweiz, 1956, S. 60;
MARTI-ROLLI, a.a.O., S. 26, 101; THÜRER, a.a.O., S. 259). Diese waren in den
entsprechenden Kreisen und Gemeinden auch Rechtssprache (ARNO BERTHER, Elements
d'in nov linguatg giuridic Rumantsch, in: Mehrsprachige Gesetzgebung in der
Schweiz, Schweizer/Borghi [Hrsg.], 2011, S. 243 f.) und traditionelle
Unterrichtssprache (GIERÉ, a.a.O., S. 60, 74, 78).

5.7.3 Bereits in der Botschaft vom 1. Juni 1937 über die Anerkennung des
Rätoromanischen als Nationalsprache (BBl 1937 II 1) wies der Bundesrat darauf
hin, dass das Rätoromanische verschiedene Idiome mit eigenen Schriftsprachen
kennt und sich bisher keine einheitliche Schriftsprache herauszubilden
vermochte, was einerseits einer künftigen Nationalsprache auf den ersten Blick
Schwierigkeiten zu bereiten scheine, anderseits eine wertvolle Bereicherung des
Sprachschatzes darstelle (a.a.O., S. 3 f.). Er hielt es aber nicht für
erforderlich, die Frage zu regeln, welche von den verschiedenen romanischen
Idiomen als Nationalsprache erklärt werden sollte, da die neue Nationalsprache
ja nicht als offizielle Sprache erklärt werden sollte; im übrigen erscheine es
auch vom sprachlichen Standpunkte aus gerechtfertigt, diesem Umstand keine
allzu grosse Bedeutung beizulegen, da es sich trotz der dialektalen
Abweichungen mit ihren Besonderheiten und Verschiedenheiten doch um eine
Sprache handle, die sich in verschiedenen Ausdrucksformen als Einheit darstelle
(a.a.O., S. 10 f., 25).
BGE 139 I 229 S. 238

5.7.4 Die geltende Bundesverfassung anerkennt nach ihrem Wortlaut "das
Rätoromanische" als eine der vier Landessprachen (Art. 4 BV) und - im Verkehr
mit Personen rätoromanischer Sprache - auch als Amtssprache des Bundes (Art. 70
Abs. 1 BV). Der Bund unterstützt zudem kantonale Massnahmen zur Förderung der
rätoromanischen Sprache (Art. 70 Abs. 5 BV). Auch die bundesgerichtliche
Rechtsprechung anerkennt den Schutz des Rätoromanischen als erhebliches
öffentliches Interesse (BGE 100 Ia 462 E. 4 S. 469; BGE 116 Ia 345 E. 5b;
Urteil 1P.554/1991 vom 12. Oktober 1992 E. 4, in: ZBl 94/1993 S. 133). Die
Angehörigen der rätoromanischen Sprachgruppe haben ein Recht darauf, dass ihre
Sprache als Amtssprache verwendet wird (Urteil 1P.82/1999 vom 8. Juli 1999 E.
4b, in: ZBl 101/2000 S. 610; Urteil P.1295/1981 vom 7. Mai 1982 E. 3, in: ZBl
83/1982 S. 356 E. 3c). Weder aus der Bundesverfassung noch aus der zitierten
Rechtsprechung ergibt sich aber, ob mit dem Rätoromanischen die Idiome oder
Rumantsch Grischun gemeint ist (KÄGI-DIENER, a.a.O., N. 17 zu Art. 70 BV). Nach
dem Wortlaut der Bundesverfassung ist aber eher davon auszugehen, dass "das
Rätoromanische" auf eidgenössischer Ebene als eine Sprache behandelt wird.
Dort verwenden die Behörden die Amtssprachen in ihren Standardformen (Art. 5
Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 5. Oktober 2007 über die Landessprachen und die
Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften [Sprachengesetz, SpG; SR
441.1]), worunter grundsätzlich die Hochsprache gemeint ist (SÉBASTIEN MORET,
Vielsprachigkeit und Sprachenordnung am Beispiel der Schweiz: ein Beitrag unter
Berücksichtigung des neuen Sprachengesetzes; in: Kultur und Kunst, 2010, S.
92). In Bezug auf das Rätoromanische legt Art. 6 Abs. 3 SpG fest, dass sich
Personen rätoromanischer Sprache in ihren Idiomen oder in Rumantsch Grischun an
die Bundesbehörden wenden können; diese antworten in Rumantsch Grischun. Vor
Bundesgericht wird das Verfahren auf Rumantsch Grischun geführt (Art. 54 Abs. 1
BGG; vgl. BGE 139 II 145; BGE 122 I 93 E. 1).

5.7.5 Was das kantonale Verfassungsrecht betrifft, so lautet Art. 3 der
Verfassung des Kantons Graubünden vom 18. Mai/14. September 2003 (KV/GR; SR
131.226) wie folgt:
^1 Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch sind die gleichwertigen Landes- und
Amtssprachen des Kantons.
^2 Kanton und Gemeinden unterstützen und ergreifen die erforderlichen
Massnahmen zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der
italienischen Sprache. Sie fördern die Verständigung und den Austausch zwischen
den Sprachgemeinschaften.
BGE 139 I 229 S. 239
^3 Gemeinden und Kreise bestimmen ihre Amts- und Schulsprachen im Rahmen ihrer
Zuständigkeiten und im Zusammenwirken mit dem Kanton. Sie achten dabei auf die
herkömmliche sprachliche Zusammensetzung und nehmen Rücksicht auf die
angestammten sprachlichen Minderheiten.
Die Beschwerdeführer machen nicht geltend (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG), dass in
dem von ihnen angerufenen Art. 3 der Verfassung mit dem Rätoromanischen nur die
Idiome gemeint seien. Nach der Entstehungsgeschichte der Kantonsverfassung
wollte sich der Verfassungsgeber offenbar in der Frage Idiome/Rumantsch
Grischun nicht festlegen, sondern Flexibilität bewahren (RICHTER, a.a.O., S.
890 ff.).
Angesichts dieser Umstände kann nicht gesagt werden, dass sich der
verfassungsrechtliche Anspruch auf Schulunterricht in rätoromanischer Sprache
spezifisch auf die Idiome bezieht. Vielmehr lässt das kantonale
Verfassungsrecht (wie soeben erwähnt bewusst) offen, welche Version des
Rätoromanischen gemeint ist. Die Wahl zwischen Idiom und Rumantsch Grischun ist
daher eher eine sprachpolitische als eine grundrechtliche Frage. Dafür spricht
auch, dass es neben den Beschwerdeführern, welche die Rückkehr zum Idiom
anstreben, vermutlich auch (wenn auch wohl minderheitlich) Eltern gibt, welche
lieber beim Rumantsch Grischun bleiben möchten. Die Situation ist insoweit
derjenigen in der deutschsprachigen Schweiz ähnlich, wo es auch Familien gibt,
welche den schweizerdeutschen Dialekt als Unterrichtssprache (zumindest in der
Grundschule, wie dies in der Vergangenheit häufig, wenn nicht sogar
mehrheitlich der Fall war) bevorzugen würden. Andere Eltern wiederum begrüssen,
dass sich heute auch dort Hochdeutsch als Unterrichtssprache durchgesetzt hat.
Würde die Festlegung einer der Versionen als Grundrechtseingriff betrachtet,
hätte dies zur Folge, dass zwangsläufig immer ein Teil der Kinder in ihren
Grundrechten eingeschränkt würde, da es aus finanziellen Gründen für die
Gemeinden kaum als zumutbar erscheint, einen Unterricht in zwei Sprachen
parallel anzubieten.

5.8 Aus dem bisher Gesagten folgt, dass - was die aktive Seite der
Sprachenfreiheit (vorne E. 5.4) betrifft - die lokalen Minderheiten durchaus
einen verfassungsrechtlichen Anspruch haben, ihre Idiome zu verwenden und sich,
zumal die Kantonsverfassung das "Rätoromanische" nicht näher definiert, auch in
diesen Idiomen an die Behörden zu wenden (vgl. so auch ausdrücklich Art. 3 Abs.
5 des kantonalen Sprachengesetzes vom 19. Oktober 2006 [SpG/GR; BR 492.100]).
Was die passive Seite der Sprachenfreiheit (wozu auch die Festlegung der
Unterrichtssprache gehört, vorne E. 5.4) betrifft,
BGE 139 I 229 S. 240
ist dem grundrechtlichen Anspruch der Minderheiten hingegen Genüge getan, wenn
der Unterricht in Beachtung des Territorialitätsprinzips in romanischer Sprache
- sei dies nun in den Idiomen oder in Rumantsch Grischun - angeboten wird. Der
Beschluss der Regierung, wonach es den am Schulversuch beteiligten Gemeinden
zwar freisteht, von der Schulsprache Rumantsch Grischun auf das Idiom zu
wechseln (oder umgekehrt), dass aber dieser Wechsel für diejenigen Schüler,
welche bereits eingeschult wurden, nicht mehr zum Tragen kommt, berührt den
Schutzbereich von Art. 18 BV nicht.
Damit ergibt sich insgesamt, dass der streitige Beschluss, mit welchem die
Freiheit der Gemeinden, zwischen Idiom und Rumantsch Grischun zu wählen, in
zeitlicher Hinsicht eingeschränkt wird, keinen Eingriff in die Sprachenfreiheit
darstellt.

5.9 Ist der Schutzbereich der Sprachenfreiheit nicht berührt, ist die Rüge, der
streitige Beschluss greife ohne genügende gesetzliche Grundlage und in
unverhältnismässiger Weise in die Sprachenfreiheit ein (Art. 36 Abs. 1 und 3 BV
), gegenstandslos. Die Rüge, die gesetzliche Grundlage (Art. 6 SchulG) des
streitigen Beschlusses sei ungenügend, könnte damit nur im Zusammenhang mit
anderen Grundrechten vorgebracht werden (z.B. Gewaltenteilung oder
Gemeindeautonomie); solche werden aber von den Beschwerdeführern nicht
angerufen, so dass darauf nicht einzugehen ist (E. 2.2).

6. Die Beschwerdeführer berufen sich (beiläufig) auf die Europäische Charta der
Regional- oder Minderheitssprachen vom 5. November 1992 (SR 0.441.2): Darin hat
sich die Schweiz verpflichtet, in Bezug auf Regional- und Minderheitssprachen
bestimmte Ziele und Grundsätze anzuwenden (Art. 2 Abs. 1 und Art. 7), u.a. die
Bereitstellung geeigneter Formen und Mittel für das Lehren und Lernen (Art. 7
lit. f). Sodann hat sich die Schweiz verpflichtet, den Grundschulunterricht auf
Rätoromanisch anzubieten (Art. 2 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 lit. b Ziff. i der
genannten Charta i.V.m. Erklärung der Schweiz lit. a.). Daraus ergibt sich aber
nicht, ob dies auf Rumantsch Grischun oder im Idiom erfolgt. Als Regional- oder
Minderheitensprache im Sinne der Charta gelten Sprachen, die herkömmlicherweise
in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates
gebraucht werden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung und
die sich von den Amtssprachen dieses Staates unterscheiden, nicht aber die
Dialekte der Amtssprachen und die Sprachen von Zuwanderern (Art. 1 lit. a).
BGE 139 I 229 S. 241
Abgesehen davon, dass die genannte Charta weitgehend programmatische
Bestimmungen enthält und sich in diesem Sinne in erster Linie an den
Gesetzgeber richtet (Botschaft vom 25. November 1996 über die Europäische
Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, BBl 1997 I 1165, 1179 Ziff. 6
a.E.; vgl. generell zum self-executing Charakter von Verträgen BGE 133 I 286 E.
3.2; BGE 130 I 113 E. 3.3), ist diesen Bestimmungen hinreichend Rechnung
getragen worden. Es geht hier in erster Linie darum, dass das Rätoromanische -
welches unter Berücksichtigung aller seiner Idiome selber eine
Minderheitssprache darstellt und von kaum einem Prozent der schweizerischen
Gesamtbevölkerung (ca. 40'000 Personen, vgl. AUER/MALINVERNI/HOTTELLIER,
a.a.O., S. 310) gesprochen wird - nicht verschwindet und eine
Unterrichtssprache bleibt, was hier der Fall ist.
Die von der Regierung erlassene angefochtene Übergangsregelung erweist sich
daher auch nicht als konventionswidrig.