Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 I 169



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

139 I 169

16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Politische Gemeinde Amriswil gegen X. und Departement für Justiz und Sicherheit
des Kantons Thurgau (subsidiäre Verfassungsbeschwerde)
1D_2/2012 vom 13. Mai 2013

Regeste

Art. 8 Abs. 2 und Art. 50 Abs. 1 BV, Art. 14, 33 und 34 BüG; Gemeindeautonomie
bei der ordentlichen Einbürgerung einer geistig Behinderten.
Tragweite der Gemeindeautonomie bei der ordentlichen Einbürgerung (E. 6).
Diskriminierung bei der Einbürgerung aufgrund einer geistigen Behinderung:
Geistig Behinderte mangels eigenen Willens zur Einbürgerung von derselben
auszuschliessen, entspricht nicht der gesetzlichen Ordnung und erweist sich
aufgrund der damit verbundenen generellen Wirkung als diskriminierend. Zu
prüfen ist, ob es dafür eine qualifizierte Rechtfertigung gibt (E. 7).
Ist die Sache im Falle, dass die Nichteinbürgerung als unzulässig erkannt wird,
an die Gemeinde oder an die kantonale Rechtsmittelinstanz zu neuem Entscheid
über die Einbürgerung zurückzuweisen (E. 8)?

Sachverhalt ab Seite 170

BGE 139 I 169 S. 170

A. Im Juli 2009 stellten die Eltern der geistig behinderten serbischen
Staatsangehörigen X., geb. 2. März 1993, für diese ein Gesuch um ordentliche
Erteilung des Schweizer Bürgerrechts. Am 7. Januar 2010 ergab sich bei einem
Gespräch auf der Wohnsitzgemeinde Amriswil, dass X. zwar die deutsche und
albanische Sprache versteht, sich aber nur mit Hilfe eines speziellen Computers
oder in Gebärdensprache ausdrücken kann und ein sehr tiefes Bildungsniveau
aufweist. Der Stadtrat Amriswil beschloss am 23. Februar 2010, das
Einbürgerungsgesuch nicht zu unterstützen. Im Wesentlichen wurde dies damit
begründet, X. habe keinen eigenen Willen zur Erlangung des Schweizer
Bürgerrechts, es dürfe bei behinderten Personen keinen
Einbürgerungsautomatismus geben und es seien keine klaren Vorteile ersichtlich,
die bei einer allfälligen Einbürgerung das Leben von X. erleichtern würden.
Nachdem die
BGE 139 I 169 S. 171
gesetzliche Vertreterin am Einbürgerungsgesuch festgehalten hatte, wurde dieses
dem Bundesamt für Migration weitergeleitet, das am 3. Mai 2011 die
eidgenössische Einbürgerungsbewilligung erteilte. Am 8. Dezember 2011 entschied
die Gemeindeversammlung der Stadt Amriswil, das Gesuch gemäss der Empfehlung
des Stadtrates abzulehnen.

B. X., vertreten durch ihre Schwester und Vormundin, Y., erhob beim Departement
für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau Rekurs. Am 30. März 2012 hiess
das Departement den Rekurs gut, hob den Entscheid der Gemeindeversammlung der
Stadt Amriswil auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die
Gemeindeversammlung zurück. Zur Begründung führte das Departement im
Wesentlichen aus, bei Gesuchstellern mit Behinderung sei jeder
Einbürgerungsfall besonders zu prüfen. Eine automatische Befreiung von den
Einbürgerungskriterien sei ausgeschlossen. Zwar verfüge die Gesuchstellerin
selbst aufgrund der geistigen Behinderung wohl über keinen eigenen Willen. Das
genüge aber als Begründung der Nichterteilung des Bürgerrechts nicht, denn es
müsse davon ausgegangen werden, dass sich die Gesuchstellerin wie ihre
Geschwister hätte einbürgern lassen wollen. Sodann müssten mit der Einbürgerung
keine materiellen Vorteile verbunden sein, könnten doch bereits solche ideeller
Natur eine Einbürgerung rechtfertigen. Insgesamt sei die Gesuchstellerin
einzubürgern. Die reformatorische Erteilung des Gemeindebürgerrechts sei jedoch
ausgeschlossen, da die Politische Gemeinde Trägerin desselben sei, weshalb die
Sache an dieselbe zurückgewiesen werden müsse.

C. Mit Urteil vom 5. September 2012 wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau eine dagegen gerichtete Beschwerde der Politischen Gemeinde Amriswil
ab. In den Erwägungen wird dazu ausgeführt, grundsätzlich bestehe kein Anspruch
auf Einbürgerung, der entsprechende Entscheid der Gemeindebehörde dürfe aber
nicht diskriminierend sein. Die Argumentation der Gemeindebehörden führe dazu,
dass geistig behinderte Menschen ab einem bestimmten intellektuellen Defizit
nie eingebürgert werden könnten, was diskriminierend sei. Es sei daher richtig,
auf den mutmasslichen Willen abzustellen. Aus den konkreten Umständen sei
abzuleiten, dass der Gesuchstellerin, die offensichtlich mit den
schweizerischen Verhältnissen vertraut sei, ein solcher mutmasslicher Wille
nicht abgesprochen werden könne.
BGE 139 I 169 S. 172

D. Mit Beschwerde vom 26. November 2012 an das Bundesgericht beantragt die
Politische Gemeinde Amriswil, den Entscheid des Thurgauer Verwaltungsgerichts
aufzuheben und denjenigen der Amriswiler Gemeindeversammlung vom 8. Dezember
2011 zu bestätigen; eventuell sei das Departement anzuweisen, die Einbürgerung
von X. ohne Rückweisung an die Gemeindeversammlung vorzunehmen. In der
Begründung (...) wird ausgeführt, die Gemeinde Amriswil habe schon
verschiedentlich Behinderte eingebürgert, weshalb der Vorwurf der
Diskriminierung von Behinderten zurückgewiesen werde. Im zu beurteilenden Fall
sei es unzulässig, bei der Gesuchstellerin auf einen mutmasslichen
Einbürgerungswillen zu schliessen. Ihre Hauptbezugspersonen seien weiterhin die
Eltern, die sich nie vollständig integriert und auch nie Anstrengungen
unternommen hätten, die Schweizer Staatsangehörigkeit zu erlangen. Die
Begründung des Verwaltungsgerichts führe zu einem Einbürgerungsautomatismus
geistig behinderter Personen. Das ursprünglich von den Eltern eingereichte
Gesuch sei lediglich damit begründet worden, dass eine "langfristige
Sicherheit" für die behinderte Tochter angestrebt werde, was aber nicht für die
Erteilung des Schweizer Bürgerrechts genüge.

E. X. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden
könne. Das Departement für Justiz und Sicherheit und das Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau stellen Antrag auf Abweisung der Beschwerde. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

6.

6.1 Art. 50 Abs. 1 BV gewährleistet die Gemeindeautonomie nach Massgabe des
kantonalen Rechts. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Gemeinden
in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht diesen nicht
abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung
überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt.
Der geschützte Autonomiebereich kann sich auf die Befugnis zum Erlass oder
Vollzug eigener kommunaler Vorschriften beziehen oder einen entsprechenden
Spielraum bei der Anwendung kantonalen oder eidgenössischen Rechts betreffen.
Der Schutz der Gemeindeautonomie setzt eine solche nicht in einem ganzen
Aufgabengebiet,
BGE 139 I 169 S. 173
sondern lediglich im streitigen Bereich voraus. Im Einzelnen ergibt sich der
Umfang der kommunalen Autonomie aus dem für den entsprechenden Bereich
anwendbaren kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht (BGE 138 I 242 E. 5.2 S.
244 f. mit Hinweisen). Die Gemeinde kann sich dagegen zur Wehr setzen, dass
eine kantonale Behörde ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder die
einschlägigen Vorschriften unrichtig auslegt und anwendet. Sie kann überdies
geltend machen, die kantonale Behörde habe die Tragweite von
verfassungsmässigen Rechten missachtet. Schliesslich kann sie sich im
Zusammenhang mit der behaupteten Autonomieverletzung auch auf das Willkürverbot
und auf Verfahrensgarantien berufen (NICCOLÒ RASELLI, Die Einbürgerung zwischen
Politik und Justiz - unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Bundesgerichts, ZBl 112/2011 S. 587). Die Anwendung von eidgenössischem und
kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit freier Kognition, die
Handhabung von Gesetzes- und Verordnungsrecht unter dem Gesichtswinkel des
Willkürverbots (BGE 138 I 242 E. 5.2 S. 245 mit Hinweisen).

6.2 Gemäss der Verfassung des Kantons Thurgau vom 16. März 1987 (SR 131.228)
sind die Gemeinden selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 57
Abs. 1 KV/TG). Die politischen Gemeinden sind Trägerinnen des Bürgerrechts (§
57 Abs. 2 letzter Satz KV/TG; vgl. auch § 3 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes
vom 14. August 1991 über das Kantons- und Gemeindebürgerrecht [KBüG; RB 141.1]
in der hier anwendbaren Fassung vom 5. Mai 1999). Sie erfüllen die Aufgaben im
eigenen Bereich selbständig (§ 59 Abs. 3 KV/TG), sind mithin insoweit und
insbesondere in Belangen des Bürgerrechts mit Autonomie ausgestattet.

6.3 Die Voraussetzungen an die Eignung einer Person zur Einbürgerung sind als
Mindestvorschriften (vgl. Art. 38 Abs. 2 BV) in Art. 14 des
Bürgerrechtsgesetzes vom 29. September 1952 (BüG; SR 141.0) umschrieben. Die
Kantone sind in der Ausgestaltung der Einbürgerungsvoraussetzungen insoweit
frei, als sie hinsichtlich der Wohnsitzerfordernisse oder der Eignung
Konkretisierungen vornehmen können (BGE 138 I 242 E. 5.3 S. 245). Nach § 6 KBüG
(in Umsetzung von Art. 14 BüG) setzt die Einbürgerung einer ausländischen
Person voraus, dass sie dazu geeignet ist. Dabei ist durch die zuständige
Gemeindebehörde insbesondere zu prüfen, ob die gesuchstellende Person in die
örtlichen, kantonalen und schweizerischen Verhältnisse eingegliedert ist, mit
den Lebensgewohnheiten,
BGE 139 I 169 S. 174
Sitten und Gebräuchen des Landes vertraut ist, die Rechtsordnung beachtet und
die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet sowie über eine
ausreichende Existenzgrundlage verfügt.

7.

7.1 Die Beschwerdeführerin sieht sinngemäss darin eine Verletzung ihrer
Autonomie, dass die Vorinstanz die rechtliche Tragweite des
Diskriminierungsverbots falsch beurteilt habe.

7.2 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht
wegen seiner Herkunft und der religiösen, weltanschaulichen oder politischen
Überzeugung oder ausdrücklich auch wegen einer körperlichen, geistigen oder
psychischen Behinderung.

7.2.1 Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person ungleich behandelt wird
allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche
historisch oder in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell
ausgegrenzt oder als minderwertig angesehen wird. Die Diskriminierung stellt
eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren
Situationen dar, indem sie eine Benachteiligung von Menschen bewirkt, die als
Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an
Unterscheidungsmerkmalen anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur
schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Personen
ausmachen; insofern beschlägt das Diskriminierungsverbot auch Aspekte der
Menschenwürde nach Art. 7 BV. Eine indirekte oder mittelbare Diskriminierung
liegt demgegenüber vor, wenn eine Regelung, die keine offensichtliche
Benachteiligung von spezifisch gegen Diskriminierung geschützten Gruppen
enthält, in ihren tatsächlichen Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe
besonders benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre (BGE 138 I 305
E. 3.3 S. 316 f.; BGE 135 I 49 E. 4.1 S. 53 f. mit Hinweisen).

7.2.2 Auch wenn die Abgrenzung von direkter und indirekter Diskriminierung
nicht leicht fällt, wird etwa von Letzterer ausgegangen, wenn ein Rechtsakt
bzw. dessen Anwendung nicht der Form nach, sondern aufgrund der Auswirkungen
für eine bestimmte geschützte Personengruppe eine qualifiziert rechtsungleiche
Schlechterstellung zur Folge haben kann. Gleichermassen wird eine solche
angenommen, wenn eine Norm neutrale Differenzierungen aufweist und besonders
geschützte Personengruppen in spezifischer Weise rechtsungleich trifft oder
aber wenn mangels erforderlicher
BGE 139 I 169 S. 175
Differenzierung eine des Schutzes bedürftige Gruppe besonders benachteiligt
wird (BGE 135 I 49 E. 4.3 S. 55).

7.2.3 Das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 Abs. 2 BV schliesst die
Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal nicht absolut aus. Eine solche begründet
zunächst lediglich den blossen Verdacht einer unzulässigen Differenzierung.
Dieser kann durch eine qualifizierte Rechtfertigung umgestossen werden (BGE 138
I 305 E. 3.3 S. 316 f.; BGE 135 I 49 E. 4.1 S. 53 f. mit Hinweisen).

7.2.4 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV bilden Personen mit einer körperlichen, geistigen
oder psychischen Behinderung eine spezifische Gruppe. Es zählen dazu Personen,
die in ihren körperlichen, geistigen oder psychischen Fähigkeiten auf Dauer
beeinträchtigt sind und für welche die Beeinträchtigung je nach ihrer Form
schwerwiegende Auswirkungen auf elementare Aspekte der Lebensführung hat. Mit
Blick auf die Einbürgerung von Behinderten ist mithin entscheidend, ob ihnen
insgesamt oder einer bestimmten abgrenzbaren Untergruppe von ihnen durch eine
anwendbare Regelung oder durch die Umsetzung derselben in der Praxis rechtlich
oder faktisch dauernd verunmöglicht wird, sich einbürgern zu lassen. Trifft
dies zu, ist zu prüfen, ob die Nichteinbürgerung ein gewichtiges und legitimes
öffentliches Interesse verfolgt, als geeignet und erforderlich betrachtet
werden kann und sich gesamthaft als verhältnismässig erweist (vgl. BGE 135 I 49
E. 6.1 S. 58 f.). Für diese Prüfung der allfälligen Rechtfertigung einer
nachteiligen Massnahme ist entscheidend auf die gesamten massgeblichen Umstände
des Einzelfalles und die entsprechenden konkreten Schutzbedürfnisse abzustellen
(vgl. MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 757 f.).
Bei der Umsetzung der gesetzlichen Einbürgerungskriterien sind dabei die
konkreten Fähigkeiten der behinderten Personen zu berücksichtigen bzw. die
Einhaltung der entsprechenden Voraussetzungen ist in einer an den spezifischen
Möglichkeiten ausgerichteten und diese angemessen würdigenden Art und Weise zu
prüfen.

7.3 Die Beschwerdeführerin macht geltend, schon wiederholt Behinderte
eingebürgert zu haben, weshalb sie den Vorwurf der Diskriminierung derselben
zurückweise. Sie habe der Beschwerdegegnerin die Erteilung des Bürgerrechts im
Wesentlichen deshalb verweigert, weil diese aufgrund ihrer geistigen
Behinderung gar keinen Willen zur Einbürgerung habe. Die Vorinstanz beurteilte
dies als diskriminierend. Während die Beschwerdeführerin darin einen
BGE 139 I 169 S. 176
Einbürgerungsautomatismus sieht, erachtete das Verwaltungsgericht das Kriterium
der Beschwerdeführerin als undifferenzierten Ausschluss einer ganzen Gruppe von
der Einbürgerung. Das Verwaltungsgericht leitete aus verschiedenen Umständen
bei der Beschwerdegegnerin einen mutmasslichen Einbürgerungswillen ab.

7.3.1 Es ist erstellt und nicht strittig, dass die Beschwerdegegnerin in
geistiger Hinsicht ein Niveau aufweist, das dem Stand eines Kleinkindes
entspricht. Es ist daher davon auszugehen, dass sie die Tragweite einer
Einbürgerung tatsächlich nicht bzw. jedenfalls nicht vollumfänglich erfasst.
Wird gestützt darauf die Einbürgerung verweigert, wird indessen eine ganze
Untergruppe von Behinderten, nämlich diejenige, die sich aus solchen Menschen
zusammensetzt, denen es an der Urteilsfähigkeit hinsichtlich einer Einbürgerung
fehlt, von der Erteilung des Bürgerrechts ausgeschlossen. Auch wenn sich die
Praxis der Beschwerdeführerin an einem grundsätzlich objektiven Kriterium
ausrichtet und nicht auf eine Benachteiligung abzielt, hat sie doch zumindest
indirekt diesen diskriminierenden Effekt. Das wird zusätzlich dadurch
unterstrichen, dass das Gesetz die Einbürgerung mangels Urteilsfähigkeit nicht
nur nicht ausschliesst, sondern sogar ausdrücklich vorsieht. In diesem Sinne
bestimmen die Art. 33 und 34 BüG, dass Unmündige durch ihren gesetzlichen
Vertreter ein Gesuch um Einbürgerung zu stellen vermögen. In Konkretisierung
des Bundesrechts regeln die §§ 8 und 9 KBüG die Einbürgerung unmündiger Kinder
im Kanton Thurgau. Gemäss § 8 KBüG können ebenfalls entmündigte Personen über
ihren gesetzlichen Vertreter um selbständige Einbürgerung ersuchen. § 8 Abs. 2
KBüG schreibt vor, dass Urteilsfähige das Gesuch mitzuunterzeichnen haben.
Urteilsunfähige sind davon e contrario dispensiert, nicht aber von der
Einbürgerung als solcher ausgeschlossen. Die Gesetzesordnung von Bund und
Kanton stellt die Einbürgerung demnach nicht unter den Vorbehalt der
entsprechenden Urteilsfähigkeit beim Einzubürgernden selbst. Diese gesetzliche
Ordnung dient nicht zuletzt der Chancengleichheit von wegen geistiger
Behinderung Urteilsunfähigen bei der Einbürgerung und ist in den Zusammenhang
mit dem in Art. 8 Abs. 4 BV enthaltenen Gesetzgebungsauftrag zur Beseitigung
von Benachteiligungen wegen Behinderung zu stellen (vgl. BERNHARD WALDMANN, Das
Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz,
2003, S. 428 ff.). Der im Einzelfall gefällte Entscheid, die Beschwerdegegnerin
als geistig Behinderte mangels eigenen Willens
BGE 139 I 169 S. 177
zur Einbürgerung von derselben auszuschliessen, entspricht mithin nicht der
gesetzlichen Ordnung und erweist sich aufgrund seiner generellen Wirkung, die
zumindest alle dem Kleinkindalter entwachsenen Personen trifft, denen die
Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Einbürgerung abgeht, als diskriminierend.

7.3.2 Die Beurteilung der Praxis der Beschwerdeführerin als grundsätzlich
diskriminierend führt entgegen deren Auffassung nicht zu einem
Einbürgerungsautomatismus bei geistiger Behinderung ohne nähere Prüfung des
Einzelfalles. Vielmehr ist in jedem Fall aufgrund der konkreten Umstände zu
prüfen, ob die Nichteinbürgerung ein gewichtiges und legitimes öffentliches
Interesse verfolgt, als geeignet und erforderlich betrachtet werden kann und
sich gesamthaft als verhältnismässig erweist. Nicht das einzige, aber ein
wichtiges Kriterium spielt dabei der mutmassliche Wille der betroffenen Person
zur Einbürgerung.

7.3.3 Die Vorinstanz stellte fest, dass die Beschwerdegegnerin seit ihrem
fünften Altersjahr in der Schweiz lebt und unter der Woche in einer geeigneten
Institution untergebracht ist. Sie ist mit den schweizerischen Verhältnissen
vertraut, versteht offenbar, soweit dies ihrem geistigen Niveau entspricht,
Schweizer- und Hochdeutsch und kann sich unter Benutzung eines speziellen
Computers auch in diesen Sprachen äussern. Diese Feststellungen sind unstrittig
und für das Bundesgericht verbindlich (nicht publ. E. 5). Zwar haben die Eltern
offenbar nie für sich selbst ein Einbürgerungsgesuch eingereicht. Dasjenige für
die Beschwerdegegnerin wurde aber ursprünglich, als diese noch minderjährig
war, von ihnen gestellt. Die Schwester und der Bruder der Beschwerdegegnerin
sind bereits eingebürgert. Die Schwester, die bei Volljährigkeit der
Beschwerdegegnerin als ihre Vormundin (heute: umfassende Beiständin) bestellt
wurde, übernahm auch ihre Vertretung im Einbürgerungsverfahren und äusserte
sich deutlich dazu, das Einbürgerungsgesuch zu befürworten. Dieser
Willensäusserung kommt mit Blick auf Art. 34 Abs. 1 BüG sowie § 8 KBüG
entscheidende Bedeutung zu. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, die
Beschwerdegegnerin unterhalte weiterhin zu ihren Eltern, wo sie sich
insbesondere regelmässig am Wochenende aufhalte, die engere Beziehung als zur
Schwester und der Umstand, dass sich die Eltern nicht hätten einbürgern lassen,
spreche gegen den mutmasslichen Einbürgerungswillen bei der Beschwerdegegnerin.
Dem ist entgegenzuhalten, dass es gerade die Eltern waren, die ursprünglich das
BGE 139 I 169 S. 178
Einbürgerungsgesuch für die Beschwerdegegnerin eingereicht und dabei vermutlich
deren Situation von der eigenen sehr wohl unterschieden hatten. Insgesamt ist
daher davon auszugehen, dass urteilsfähige Personen in einer ähnlichen
Lebenssituation mit vergleichbarem Lebenshintergrund selbst ebenfalls ein
Einbürgerungsgesuch gestellt hätten.

7.3.4 Im Übrigen liegt es im Interesse der Beschwerdegegnerin, in der Schweiz,
wo sie seit Kindheit lebt und wo sie höchstwahrscheinlich bleiben wird,
diejenige wirtschaftliche, politische und soziale Stabilität und Sicherheit
anzustreben, die ihr als Staatsbürgerin in besonderem Mass zuteil wird. Selbst
wenn die soziale Sicherheit in materieller Hinsicht nicht von der
Staatsangehörigkeit abhängt, hat die Beschwerdegegnerin nicht nur ein ideelles,
sondern auch ein eigentlich rechtliches Interesse an der Einbürgerung. Eine
solche würde ihr insbesondere - nur schon mit Blick auf den Ausweisungsschutz
gemäss Art. 25 Abs. 1 BV - einen gesicherteren Status in der Schweiz einräumen
als derjenige, über den sie bisher als Ausländerin verfügt (vgl. BGE 135 I 49
E. 6.3 S. 62).

7.3.5 Die Beschwerdeführerin vermag keine Argumente gegen die Einbürgerung
vorzubringen ausser demjenigen, dass es der Beschwerdegegnerin am
Einbürgerungswillen fehle. Dass dies anhand der konkreten Umstände mutmasslich
widerlegt werden kann und die Einbürgerung im klaren Interesse der
Beschwerdegegnerin steht, wurde bereits dargelegt. Insgesamt verfolgt die
Verweigerung des Bürgerrechts an die Beschwerdegegnerin weder ein gewichtiges
und legitimes öffentliches Interesse noch erscheint sie als erforderlich sowie
als gesamthaft verhältnismässig, um die erkannte Diskriminierung der
Beschwerdegegnerin als geistig Behinderte zu rechtfertigen. Schliesslich gibt
es keine Anhaltspunkte dafür und es ist auch nicht ersichtlich, dass der
angefochtene Entscheid willkürlich wäre. Insbesondere stellte die Vorinstanz
zumindest implizite fest, dass die Beschwerdegegnerin, soweit dies
zugeschnitten auf ihre Situation beurteilt wird, durchaus in der Schweiz
integriert ist. Das bestreitet auch die Beschwerdeführerin nicht. Analoges gilt
grundsätzlich für die übrigen Voraussetzungen einer ordentlichen Einbürgerung.

7.4 Das Verwaltungsgericht verstiess mithin nicht gegen die Gemeindeautonomie
der Beschwerdeführerin, indem es die Nichteinbürgerung der Beschwerdegegnerin
wie das Departement als Verletzung des Diskriminierungsverbots beurteilte.
BGE 139 I 169 S. 179

8.

8.1 Schliesslich beantragt die Beschwerdeführerin, selbst bei Abweisung der
Beschwerde in der Sache diese zumindest in dem Sinne gutzuheissen, dass die
Angelegenheit an das kantonale Departement für Justiz und Sicherheit
zurückzuweisen und dieses anzuweisen sei, die Erteilung des
Gemeindebürgerrechts direkt zu verfügen. Eine Rückweisung an die
Gemeindeversammlung, wie vom Departement angeordnet, sei wenig sinnvoll, da
aufgrund der ursprünglich klaren Beschlussfassung derselben ein hohes Risiko
bestehe, dass die Einbürgerung erneut abgelehnt werde.

8.2 Der Antrag der Beschwerdeführerin zielt darauf ab, einen möglichen Konflikt
zwischen den Rechtsmittelentscheiden und der Gemeindeversammlung zu vermeiden.
Das ist zwar nachvollziehbar. Die vom Departement verfügte und vom
Verwaltungsgericht bestätigte Rückweisung an die Gemeindeversammlung bedeutet
aber nicht einen Eingriff in die oder gar eine Verletzung der
Gemeindeautonomie. Im Gegenteil beruht die Rückweisung darauf, dass im Kanton
Thurgau die politischen Gemeinden Trägerinnen des Bürgerrechts sind (vgl. § 57
Abs. 2 letzter Satz KV/TG und § 3 Abs. 1 KBüG). Sie dient demnach gerade der
Verwirklichung der Gemeindeautonomie und eine Ersatzvornahme durch den Kanton
wäre besonders zu rechtfertigen, wie dies etwa bei mehrmaliger erfolgloser
Rückweisung bzw. aufgrund der damit verbundenen wiederholten
Verfassungsverletzungen zutreffen kann (vgl. BGE 135 I 265 E. 4 S. 274 ff.).
Hingegen ist die Rückweisung an die Gemeinde bei Gutheissung eines
Rechtsmittels gegen einen erstmaligen kommunalen Nichteinbürgerungsentscheid
durchaus üblich (vgl. etwa das Urteil des Bundesgerichts 1D_11/2007 vom 27.
Februar 2008 E. 6, nicht publ. in: BGE 134 I 56).

8.3 Im vorliegenden Fall erging die Rückweisung erstmalig und sie wurde
überdies nicht unmittelbar mit der Weisung zur Erteilung des
Gemeindebürgerrechts verbunden; vielmehr erfolgte sie zur Neubeurteilung des
Falles, womit sie auch insoweit die Autonomie der Beschwerdeführerin wahrt
(vgl. dazu die Urteile des Bundesgerichts 1D_1/2011 vom 13. April 2011 E. 4,
nicht publ. in: BGE 137 I 235; 1C_246/2008 vom 17. November 2008 E. 5), obwohl
dieser aufgrund der Rechtslage kein grosser Spielraum mehr verbleiben dürfte,
sofern sich die Sachlage nicht entscheidend verändert hat. Fehlt es mithin an
einem Eingriff in die Gemeindeautonomie, steht von vornherein auch keine
Verletzung von Verfassungsrecht in
BGE 139 I 169 S. 180
Frage, welche die Beschwerdeführerin mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde
rügen und worauf sich ihr entsprechender Antrag stützen könnte. Dieser stösst
mithin ins Leere, und es kann ihm mangels massgeblichen Verfassungsverstosses
keine Folge geleistet werden.