Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 310



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Urteilskopf

139 IV 310

48. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Stiftung
Sicherheitsfonds BVG gegen X. (Beschwerde in Strafsachen)
1B_157/2013 vom 29. August 2013

Regeste

Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5 BGG, Art. 52, 56 und 56a BVG, Art. 115
und 121 StPO; Teilnahmerecht der Stiftung Sicherheitsfonds BVG als
Zivilklägerin am Strafverfahren, Befugnis zur Beschwerde ans Bundesgericht.
Befugnis der Stiftung Sicherheitsfonds BVG, als Zivilklägerin am Strafverfahren
gegen denjenigen teilzunehmen, der einer Vorsorgestiftung in strafbarer Weise
Mittel entzog mit der Folge, dass die Stiftung Sicherheitsfonds BVG die
offengebliebenen Versicherungsleistungen übernehmen musste. Legitimation zur
Beschwerde in Strafsachen (E. 1 und 2).

Sachverhalt ab Seite 311

BGE 139 IV 310 S. 311

A. X. veranlasste als Einzelzeichnungsberechtigter der Y. Vorsorgestiftung und
als Verwaltungsratspräsident der Z. AG, dass Erstere der sich in geschäftlichen
Schwierigkeiten befindlichen Letzteren ein de facto ungesichertes Darlehen von
1 Mio. Franken zukommen liess. Die Z. AG fiel am 2. September 2003 in Konkurs.
Die Y. Vorsorgestiftung konnte die Darlehensforderung nicht mehr eintreiben,
wurde zahlungsunfähig und am 23. September 2004 vom Amt für Sozialversicherung
und der Stiftungsaufsicht des Kantons Bern in Liquidation gesetzt.
Am 23. Februar 2005 gewährte die Stiftung Sicherheitsfonds BVG der Y.
Vorsorgestiftung in Liquidation einen Vorschuss von Fr. 700'000.- für die
Sicherstellung von Versichertenleistungen gemäss Art. 26 Abs. 1 der Verordnung
vom 22. Juni 1998 über den Sicherheitsfonds BVG (SFV; SR 831.432.1). Ein Teil
des Vorschusses wurde zurückbezahlt. Insgesamt hat die Stiftung
Sicherheitsfonds BVG Insolvenzleistungen von Fr. 615'590.45 ausgerichtet.
Am 15. Dezember 2011 konstituierte sich die Stiftung Sicherheitsfonds BVG im
Strafverfahren der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Berner
Jura-Seeland, gegen X. wegen qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung zum
Nachteil der Y. Vorsorgestiftung in Liquidation als Privatklägerin im
Zivilpunkt. Sie beantragte, X. gestützt auf Art. 52 i.V.m. Art. 56a Abs. 1 des
Bundesgesetzes vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen-
und Invalidenvorsorge (BVG; SR 831.40) zu verpflichten, ihr Fr. 615'590.45
nebst Zinsen zu bezahlen. Anlässlich der Hauptverhandlung im Strafverfahren
gegen X. vom 8. Januar 2013 wies das Wirtschaftsstrafgericht des Kantons Bern
die Stiftung Sicherheitsfonds BVG als Privatklägerin vorfrageweise aus dem
Verfahren. Tags darauf verurteilte es X. wegen qualifizierter ungetreuer
Geschäftsbesorgung zu einer Geldstrafe.
Die Stiftung Sicherheitsfonds BVG beschwerte sich gegen ihren Ausschluss aus
dem Verfahren beim Obergericht des Kantons Bern und
BGE 139 IV 310 S. 312
beantragte in der Sache, diesen Beschluss des Wirtschaftsstrafgerichts
aufzuheben, sie als Privatklägerin zum Verfahren zuzulassen und die Sache zur
Beurteilung der Zivilklage ans Wirtschaftsstrafgericht zurückzuweisen.
Am 19. März 2013 wies das Obergericht die Beschwerde ab.

B. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die Stiftung Sicherheitsfonds BVG,
diesen Beschluss des Obergerichts aufzuheben, sie als Privatklägerin zum
Strafverfahren zuzulassen und die Sache zur Beurteilung der Zivilklage ans
Wirtschaftsstrafgericht zurückzuweisen.
(...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist das Wirtschaftsgericht
an, die Zivilklage der Beschwerdeführerin adhäsionsweise zu beurteilen.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Der angefochtene Entscheid bestätigt den Ausschluss der Beschwerdeführerin
als Privatklägerin vom Strafverfahren. Er schliesst damit das Verfahren für sie
ab. Es handelt sich um den Endentscheid einer letzten kantonalen Instanz in
einer Strafsache, gegen den die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist (Art. 78
Abs. 1, Art. 80 Abs. 1, Art. 90 BGG). Die Beschwerdeführerin ist somit zur
Beschwerde befugt, wenn sie sich als Privatklägerin am kantonalen Verfahren
beteiligt oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat und sich der
angefochtene Entscheid auf die Beurteilung allfälliger Zivilansprüche auswirken
kann (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5 BGG).

1.1 Der Beschwerdegegner hat der Y. Vorsorgestiftung nach der Überzeugung des
Wirtschaftsstrafgerichts in strafbarer bzw. vertragswidriger Weise 1 Mio.
Franken entzogen, womit eine Letzterer zustehende, zivilrechtliche
Schadenersatzforderung entstanden ist (Art. 52 Abs. 1 BVG; ISABELLE
VETTER-SCHREIBER, BVG/FZG, Kommentar, 3. Aufl. 2013, N. 1 zu Art. 52 BVG). Die
Beschwerdeführerin hat gestützt auf Art. 56 Abs. 1 lit. b BVG die
offengebliebenen Leistungen der Y. Vorsorgestiftung in Liquidation übernommen
und ist nach Art. 56a Abs. 1 BVG in diesem Umfang in deren Ansprüche
eingetreten. Sowohl die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin als auch die
gesetzliche Subrogation haben somit ihre Grundlage im öffentlichen Recht; das
ändert aber nichts daran, dass es sich bei der Forderung der Y.
Vorsorgestiftung in Liquidation
BGE 139 IV 310 S. 313
gegen den Beschwerdegegner, in die sie im Umfang ihrer Insolvenzleistungen
eingetreten ist, um eine zivilrechtliche Forderung handelt. Der Ausgang des
Strafverfahrens gegen den Beschwerdegegner kann sich somit im Sinn von Art. 81
Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG auf die Beurteilung der Zivilansprüche der
Beschwerdeführerin auswirken.

1.2 Als Rechtsnachfolgerin der unmittelbar geschädigten Y. Vorsorgestiftung ist
die Beschwerdeführerin zwar nur mittelbar geschädigt, was zur Begründung der
Befugnis zur Geltendmachung von Zivilforderungen im Strafverfahren
grundsätzlich nicht ausreicht (Art. 115 Abs. 1 StPO; MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 26 zu Art. 115
StPO; VIKTOR LIEBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung
[StPO], Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2010, N. 9 zu Art. 121 StPO). Als
gesetzliche Rechtsnachfolgerin ist die Beschwerdeführerin dagegen kraft der
besonderen Bestimmung von Art. 121 Abs. 2 StPO zur Teilnahme am Strafverfahren
befugt, wobei ihr nur jene Verfahrensrechte zustehen, die sich unmittelbar auf
die Durchsetzung der Zivilklage beziehen. Die Beschwerdeführerin hätte somit im
Strafverfahren als Zivilklägerin zugelassen werden müssen. Sie ist damit
befugt, sich gegen ihren Ausschluss vom Strafverfahren vor Bundesgericht zur
Wehr zu setzen (Art. 81 Abs. 1 lit. a BGG).

1.3 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass,
womit auf die Beschwerde einzutreten ist.

2. Mit der Beantwortung dieser Eintretensfrage ist zugleich auch der dem
Bundesgericht unterbreitete Rechtsstreit materiell entschieden: Das Obergericht
hat Bundesrecht verletzt, indem es den vom Wirtschaftsstrafgericht
vorgenommenen Ausschluss der Beschwerdeführerin als Zivilklägerin vom
Strafverfahren schützte.
Insbesondere kann der vorinstanzlichen Argumentation nicht gefolgt werden,
wonach adhäsionsfähig lediglich Zivilansprüche seien, die auf dem Zivilweg vor
einem Zivilgericht eingeklagt werden können. Nach Art. 73 Abs. 1 lit. c BVG
entscheidet das Gericht, das für die Beurteilung von Streitigkeiten zwischen
Vorsorgeeinrichtungen, Arbeitgebern und Anspruchsberechtigten zuständig ist,
auch über Verantwortlichkeitsansprüche nach Art. 52 BVG. Im Kanton Bern kommt
diese Befugnis dem Verwaltungsgericht zu (Art. 87 lit. c VRPG [BSG 155.21]).
Mit dieser Regelung soll die prozessuale Durchsetzung von
Verantwortlichkeitsansprüchen vereinfacht
BGE 139 IV 310 S. 314
werden (vgl. den Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit
des Nationalrats vom 24. August 1995 zur Parlamentarischen Initiative
"Verbesserung der Insolvenzdeckung in der beruflichen Vorsorge", BBl 1996 576
zu Art. 73 Abs. 1). Diese Zielsetzung steht der Zulassung von Adhäsionsklagen
gemäss Art. 122 ff. StPO für Verantwortlichkeitsansprüche nach Art. 52 BVG
nicht entgegen. Letztere ermöglichen es, Zivilansprüche gewissermassen "im
Schlepptau des Strafverfahrens" geltend zu machen, ohne dafür einen gesonderten
und damit in der Regel wesentlich aufwendigeren Zivilprozess führen zu müssen
(vgl. LIEBER, a.a.O., N. 1 zu Art. 122 StPO). Adhäsionsklagen dienen damit
ebenfalls der vereinfachten Geltendmachung der Ansprüche nach Art. 52 BVG. Wo
allerdings eine vollständige Beurteilung durch den Strafrichter
unverhältnismässig aufwendig ist, kann dieser über die Ansprüche nur im
Grundsatz entscheiden und im Übrigen die Sache an die normalerweise zuständige
Instanz, hier also an das Verwaltungsgericht, verweisen (Art. 126 Abs. 3 StPO).