Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 265



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Urteilskopf

139 IV 265

40. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. SE-ARGUS
Nr. 1 und 5 gegen a.o. Staatsanwalt und Oberstaatsanwaltschaft des Kantons
Aargau (Beschwerde in Strafsachen)
1B_49/2013 / 1B_65/2013 vom 10. Oktober 2013

Regeste

Art. 149 Abs. 1 und 2 lit. a sowie Art. 150 Abs. 1 StPO, Art. 98 BGG;
Zusicherung der Anonymität im Strafverfahren.
Frage offengelassen, ob die Zusicherung der Anonymität eine vorsorgliche
Massnahme darstellt (E. 2.5).
Die Zusicherung der Anonymität setzt ernsthafte Anzeichen einer konkreten
Gefährdung des Betroffenen voraus. Solche hat die Vorinstanz im zu
beurteilenden Fall ohne Bundesrechtsverletzung verneint (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 265

BGE 139 IV 265 S. 265

A. Am Abend des 25. Mai 2009 kam es zwischen X. (im Folgenden: Privatkläger)
und seiner Ehefrau in ihrer gemeinsamen Wohnung in Wohlen/AG zu einem Streit.
Um 19.15 Uhr alarmierte die Ehefrau von einer Nachbarwohnung aus die Polizei.
Der ausrückende Regionalpolizist konnte die Situation nicht bereinigen, weshalb
er Verstärkung anforderte. Um ca. 21.00 Uhr wurde die Sondereinheit "Argus" der
Kantonspolizei Aargau aufgeboten. Diese stürmte um
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21.48 Uhr die eheliche Wohnung. Dabei setzte das Mitglied Nr. 1 der
Sondereinheit eine Elektroschockpistole ("Taser") gegen den Privatkläger ein.
Das Mitglied Nr. 5 der Sondereinheit gab zwei Schüsse aus der Dienstwaffe auf
den Privatkläger ab und traf diesen im Bauch. Der Privatkläger musste in der
Folge längere Zeit in Spitalpflege verbringen.
Der vom Regierungsrat des Kantons Aargau eingesetzte ausserordentliche
Staatsanwalt führt eine Strafuntersuchung gegen die Mitglieder Nr. 1 und 5
wegen des Vorwurfs der Körperverletzung.
Am 7. bzw. 9. Mai 2012 ersuchten diese um Zusicherung der Anonymität.
Mit Verfügung vom 13. Juni 2012 wies der ausserordentliche Staatsanwalt die
Gesuche ab.
Die von den Mitgliedern Nr. 1 und 5 dagegen erhobenen Beschwerden wies das
Obergericht des Kantons Aargau (Beschwerdekammer in Strafsachen) am 19.
Dezember 2012 ab. Es kam zum Schluss, die Beschwerdeführer hätten nicht
hinreichend aufgezeigt, dass sie durch die Bekanntgabe ihrer Personalien an den
Privatkläger einer Gefahr für Leib und Leben oder einem anderen schweren
Nachteil ausgesetzt seien. Eine solche Bedrohung sei auch aus den Akten nicht
ersichtlich.

B. Die Mitglieder Nr. 1 und 5 führen mit separaten Eingaben je Beschwerde in
Strafsachen mit dem übereinstimmenden Antrag, der Entscheid des Obergerichts
sei aufzuheben und ihnen für das vorliegende Strafverfahren die Anonymität
zuzusichern. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.5 Der Staatsanwalt bringt vor, auf die Beschwerden könne nicht eingetreten
werden, weil es um eine vorsorgliche Massnahme gehe. Die Beschwerdeführer
könnten somit nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügen, was sie
nicht hinreichend substanziiert täten.
Gemäss Art. 98 BGG kann mit der Beschwerde gegen Entscheide über vorsorgliche
Massnahmen nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden.
Insoweit gelten die erhöhten
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Anforderungen an die Begründung der Beschwerde nach Art. 106 Abs. 2 BGG (BGE
135 III 232 E. 1.2 S. 234 mit Hinweisen).
Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, bei der Zusicherung der Anonymität
gemäss Art. 149 Abs. 1 und 2 lit. a sowie Art. 150 StPO handle es sich um eine
vorsorgliche Massnahme nach Art. 98 BGG (NIKLAUS SCHMID, Schweizerische
Strafprozessordnung, Praxiskommentar [nachfolgend: Praxiskommentar], 2. Aufl.
2013, N. 4 und 15 zu Art. 150 StPO; STEFAN WEHRENBERG, in: Basler Kommentar,
Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 11 zu Art. 150 StPO).
Wird die Anonymität zugesichert, gilt das nicht nur bis zum Abschluss des
Strafverfahrens, sondern darüber hinaus. Dies sieht Art. 151 Abs. 1 lit. a StPO
beim verdeckten Ermittler ausdrücklich vor, muss aber auch sonst gelten, da mit
dem Abschluss des Strafverfahrens die für den Betroffenen bestehende Gefahr für
Leib und Leben nicht entfällt (SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 11 zu Art.
150 StPO; WEHRENBERG, a.a.O., N. 19 zu Art. 150 StPO). Ist die Zusicherung der
Anonymität somit wesensgemäss nicht nur vorläufiger Natur, sondern auf Dauer
angelegt, ist zweifelhaft, ob man sie den vorsorglichen Massnahmen zuordnen
kann.
Wie es sich damit verhält, braucht hier nicht abschliessend beurteilt zu
werden, da die Beschwerden auch dann unbehelflich wären, wenn keine
Beschränkung der Beschwerdegründe nach Art. 98 BGG gegeben wäre.
(...)

4.

4.1 Die Beschwerdeführer machen geltend, sie wären bei Offenlegung ihrer
Personalien einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder einem anderen
schweren Nachteil ausgesetzt. Die Anonymität hätte ihnen daher zugesichert
werden müssen.

4.2 Besteht Grund zur Annahme, unter anderem eine beschuldigte Person könnte
durch die Mitwirkung im Verfahren sich oder eine Person, die mit ihr in einem
Verhältnis nach Art. 168 Abs. 1-3 steht, einer erheblichen Gefahr für Leib und
Leben oder einem anderen schweren Nachteil aussetzen, so trifft gemäss Art. 149
Abs. 1 StPO die Verfahrensleitung auf Gesuch hin oder von Amtes wegen die
geeigneten Schutzmassnahmen.
Nach Art. 149 Abs. 2 StPO kann die Verfahrensleitung dazu die Verfahrensrechte
der Parteien angemessen beschränken, namentlich
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indem sie die Anonymität zusichert (lit. a). Dies wiederholt Art. 150 Abs. 1
StPO.
Wird jemandem die Anonymität zugesichert, werden seine Personalien im Verfahren
nicht bekannt gegeben. Seine wahre Identität erscheint nicht in den
Verfahrensakten, sondern typischerweise nur eine Decknummer oder ein Deckname (
BGE 138 IV 178 E. 3.1 S. 182 mit Hinweis).
Sinn und Zweck der Zusicherung der Anonymität ist nach der Rechtsprechung die
Geheimhaltung der Identität des Betroffenen gegenüber Personen, die ihm Schaden
zufügen könnten. Gegenüber den Behörden besteht kein Recht auf Anonymität (BGE
138 IV 178 E. 3.2.4 S. 185 mit Hinweisen).
Eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben nach Art. 149 Abs. 1 StPO ist etwa
anzunehmen, wenn Morddrohungen gegen den Verfahrensbeteiligten selbst oder
einen Angehörigen nach Art. 168 Abs. 1-3 StPO ausgesprochen wurden, bereits
entsprechende Angriffe erfolgten oder solche angesichts des Milieus, in dem
sich die betreffende Person bewegt, ernsthaft zu befürchten sind. Ein anderer
schwerer Nachteil kann namentlich drohen, wenn jemand eine erhebliche
Vermögensschädigung - z.B. die Sprengung seines Ferienhauses - gewärtigen muss.
Erforderlich sind ernst zu nehmende Anzeichen einer konkreten Gefährdung (vgl.
NIKLAUS SCHMID, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013,
S. 341 N. 836; derselbe, Praxiskommentar, a.a.O., N. 2 f. zu Art. 149 StPO;
WEHRENBERG, a.a.O., N. 12 zu Art. 149 StPO; WOLFGANG WOHLERS, in: Kommentar zur
Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch und andere [Hrsg.], 2010, N. 7
ff. zu Art. 149 StPO;BERTRAND PERRIN, in: Commentaire romand, Code de procédure
pénale suisse, 2011, N. 7 ff. zu Art. 149 StPO).
Die Zusicherung der Anonymität stellt die einschneidendste Schutzmassnahme dar
und kommt nur als "ultima ratio" in Betracht (SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O.,
N. 6 zur Art. 149 StPO; WOHLERS, a.a.O., N. 1 und 4 zu Art. 150 StPO).

4.3 Der heute 34-jährige Privatkläger ist im Strafregister nicht verzeichnet.
Wie sich aus den Akten der Polizei ergibt, wurden im Jahr 1995 gegen ihn
Ermittlungen wegen des Verdachts des Bargelddiebstahls geführt. 2009 wurde
gegen ihn Anzeige wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand in einem leichten Fall
erstattet. In den polizeilichen Akten vermerkt ist er zudem wegen Nichtabgabe
des
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Fahrzeugausweises und der Kontrollschilder trotz amtlicher Aufforderung.
Anzeichen für eine Gewalttätigkeit des Privatklägers ergeben sich daraus nicht.
Nach den Angaben seiner Ehefrau hat der Privatkläger sie und die Tochter nie
geschlagen. Auch den befragten Nachbarn und Arbeitskollegen war nichts über
eine Gewalttätigkeit des Privatklägers bekannt. Dies lässt ebenfalls nicht auf
seine Gefährlichkeit schliessen.
Nach dem Leumundsbericht und den Aussagen der Ehefrau scheint der Privatkläger
unter Alkoholeinfluss ein anderer Mensch zu werden und zu selbstzerstörerischem
Verhalten zu neigen. Dies spricht eher für Eigen-, nicht für Fremdgefährdung.
Was sich beim Vorfall vom 25. Mai 2009 in der Wohnung des Privatklägers genau
abgespielt hat, ist umstritten und Gegenstand der laufenden Untersuchung.
Soweit die Beschwerdeführer vorbringen, der Privatkläger habe sich mit
erhobenem Messer auf den Beschwerdeführer 2 gestürzt, gehen sie von einem
Sachverhalt aus, den die Vorinstanz nicht festgestellt hat. Darauf kann nicht
eingetreten werden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Dass die Vorinstanz den Sachverhalt
gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG offensichtlich unrichtig bzw. unvollständig
festgestellt habe, machen sie nicht hinreichend substanziiert geltend (zu den
qualifizierten Begründungsanforderungen insoweit BGE 133 II 249 E. 1.4.2 f. S.
254 f.). Klar ist, dass am Abend des 25. Mai 2009 für den Privatkläger eine
besondere Situation gegeben war, als Polizisten Zugang zu seiner Wohnung
verlangten und er sich in dieser plötzlich mehreren Beamten der Sondereinheit
in Kampfausrüstung gegenübersah. Selbst wenn er damals das Messer nicht nur
gegen sich selber, sondern - was er bestreitet - auch gegen Polizisten
gerichtet haben sollte, kann daraus nicht geschlossen werden, dass er heute -
mehrere Jahre später und ausserhalb der erwähnten besonderen Situation - für
die Beschwerdeführer eine ernstliche und konkrete Gefahr darstellt. Dagegen
spricht, dass er - soweit aktenkundig - vor dem 25. Mai 2009 gegen andere nie
Gewalt angewandt oder auch nur angedroht hat. Dass er dies danach getan habe,
stellt die Vorinstanz nicht fest. Insbesondere legt sie nicht dar, er habe
gedroht, er werde sich an den Beschwerdeführern rächen. Dass er noch am Abend
des 25. Mai 2009 und in der Einvernahme wenige Tage später danach fragte, wer
auf ihn geschossen hat, ist nachvollziehbar. Dies stellt noch kein
hinreichendes Indiz für Rachepläne dar.
BGE 139 IV 265 S. 270
Würdigt man dies gesamthaft, hält es vor Bundesrecht stand, wenn die Vorinstanz
ernsthafte Anzeichen für eine konkrete Gefährdung der Beschwerdeführer verneint
und die Zusicherung der Anonymität daher abgelehnt hat.