Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 246



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Urteilskopf

139 IV 246

36. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen
Eidgenössische Steuerverwaltung (Beschwerde in Strafsachen)
1B_637/2012 vom 8. Mai 2013

Regeste

Art. 67 Abs. 1 VStG; Art. 50 Abs. 3 VStrR; Art. 37 Abs. 2 lit. b StBOG; Art. 79
BGG; Entsiegelungsverfahren nach VStrR, Zuständigkeiten und Rechtsmittel.
Auch nach Inkrafttreten der StPO und des StBOG am 1. Januar 2011 bleibt das
VStrR auf Fälle der Bundesgerichtsbarkeit in Verwaltungsstrafsachen anwendbar.
Im Gegensatz zur Regelung des Entsiegelungsverfahrens nach StPO entscheidet
nach dem VStrR die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichtes (endgültig) über
Entsiegelungsgesuche der untersuchenden Verwaltungsbehörde. Gegen den Entscheid
der Beschwerdekammer ist die Zwangsmassnahmenbeschwerde (Art. 79 BGG) ans
Bundesgericht zulässig (E. 1).

Art. 31 Abs. 2 und Art. 50 Abs. 3 VStrR; Art. 5 Abs. 1 und Art. 248 Abs. 2 StPO
; 20-tägige Frist zur Einreichung des Entsiegelungsgesuches.
Zwar ist die Fristbestimmung von Art. 248 Abs. 2 StPO auf Entsiegelungen im
Untersuchungsverfahren nach VStrR nicht unmittelbar anwendbar. Die
untersuchende Verwaltungsbehörde hat jedoch dem strafprozessualen
Beschleunigungsgebot ausreichend Rechnung zu tragen (E. 3.1-3.3).

Sachverhalt ab Seite 247

BGE 139 IV 246 S. 247

A. Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) führt ein
Verwaltungsstrafverfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts von Abgabebetrug,
eventuell Hinterziehung von Verrechnungssteuern im Umfang von ca. 21,3 Mio.
Fr., begangen im Geschäftsbereich der X. SA (nachfolgend: Gesellschaft). Im
Rahmen der Untersuchung fand am 4. April 2012 am Wohnort von A. (dem
Co-Geschäftsführer der Gesellschaft) eine Hausdurchsuchung statt, bei der
Unterlagen und elektronische Datenträger sichergestellt und auf Einsprache des
Betroffenen hin versiegelt wurden. Im Einverständnis mit dem Betroffenen wurden
die Dateien eines sichergestellten Laptops elektronisch kopiert (gespiegelt),
der Laptop an den Betroffenen retourniert und die Kopien versiegelt.

B. Mit Gesuch vom 7. Mai 2012 beantragte die ESTV beim Bundesstrafgericht die
Entsiegelung der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände bzw. deren
Freigabe zur Durchsuchung. Mit Beschluss vom 19./21. September 2012 hiess das
Bundesstrafgericht, Beschwerdekammer, das Entsiegelungsgesuch gut.
BGE 139 IV 246 S. 248

C. Gegen den Entsiegelungsentscheid der Beschwerdekammer gelangte A. mit
Beschwerde vom 24. Oktober 2012 an das Bundesgericht. Er beantragt im
Hauptstandpunkt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. (...) Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Gemäss Art. 67 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 13. Oktober 1965 über die
Verrechnungssteuer (VStG; SR 642.21) findet auf Strafverfahren im Rahmen des
VStG das Bundesgesetz vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR;
SR 313.0) Anwendung. Im vorliegenden Fall ermittelt die ESTV wegen Abgabebetrug
(Art. 14 VStrR) bzw. massiver Hinterziehung von Verrechnungssteuern (Art. 61
VStG).

1.2 Auch nach Inkrafttreten der Eidgenössischen Strafprozessordnung (StPO; SR
312.0) und des Strafbehördenorganisationsgesetzes des Bundes (StBOG; SR 173.71)
am 1. Januar 2011 bleibt das VStrR auf Fälle der Bundesgerichtsbarkeit in
Verwaltungsstrafsachen weiterhin anwendbar. Das VStrR wurde durch die StPO
(Anhang 1 Ziff. II/11) und das StBOG (Anhang Ziff. II/9) teilweise geändert.
Die neuen VStrR-Bestimmungen sind auf den vorliegenden Fall anwendbar, da der
angefochtene erstinstanzliche Entscheid nach dem 1. Januar 2011 erging (vgl.
Art. 454 Abs. 1 StPO; BGE 137 IV 145 E. 1.1 mit Hinweisen). Soweit das VStrR
einzelne Fragen nicht abschliessend regelt, sind die Bestimmungen der StPO
grundsätzlich (vgl. dazu unten, E. 3.2) analog anwendbar.

1.3 Über das Entsiegelungsgesuch der untersuchenden Verwaltungsbehörde des
Bundes entscheidet die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (Art. 50 Abs. 3
VStrR i.V.m. Art. 37 Abs. 2 lit. b StBOG). Entsiegelungsentscheide der
Beschwerdekammer sind beim Bundesgericht anfechtbar (Art. 79 BGG; vgl. BGE 137
IV 189; Urteil 1B_232/2009 vom 25. Februar 2010 E. 1).

1.4 Auch die Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 80 ff. BGG sind grundsätzlich
erfüllt und geben zu keinen Vorbemerkungen Anlass.
(...)
BGE 139 IV 246 S. 249

3.

3.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, das Entsiegelungsgesuch sei verspätet
gestellt worden, nämlich nach Ablauf der 20-tägigen Verwirkungsfrist von Art.
248 Abs. 2 StPO, weshalb auf das Gesuch nicht eingetreten werden dürfe. Gemäss
Art. 31 Abs. 2 VStrR sei diese Fristbestimmung auch in
verwaltungsstrafrechtlichen Untersuchungen "analog" anwendbar. Ausserdem
verletze die Beschwerdekammer das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), indem
sie ihre Rechtsbehauptung, Art. 248 Abs. 2 StPO sei hier nicht anwendbar, mit
"keiner einzigen Überlegung" begründe. Diesbezüglich stelle sich hier eine
Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.

3.2 Bei Durchsuchungen in Strafverfahren nach VStrR ist dem Inhaber der
"Papiere" (bzw. der zu durchsuchenden Aufzeichnungen und Gegenstände) wenn
immer möglich Gelegenheit zu geben, sich zuvor über ihren Inhalt auszusprechen.
Erhebt er gegen die Durchsuchung Einsprache, so werden die Papiere versiegelt
und verwahrt, und es entscheidet die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts
über die Zulässigkeit der Durchsuchung (Art. 50 Abs. 3 i.V.m. Art. 25 Abs. 1
VStrR und Art. 37 Abs. 2 lit. b StBOG). Eine förmliche Frist zur Einreichung
des Entsiegelungsgesuches der Untersuchungsbehörde kennt das VStrR nicht.
Insbesondere hat der Gesetzgeber bei Erlass der StPO (per 1. Januar 2011) keine
Anpassung von Art. 50 VStrR an Art. 248 Abs. 2 StPO (20-Tages-Frist für
Entsiegelungsgesuche) vorgenommen. Lediglich die Fristen im gerichtlichen
Verfahren richten sich nach der StPO (Art. 31 Abs. 2 und Art. 82 VStrR, in der
Fassung gemäss Anhang 1 Ziff. II/11 zur StPO). Das gerichtliche Verfahren nach
VStrR ist im Dritten Abschnitt des Dritten Titels (Art. 73-82 VStrR) geregelt.
Das Entsiegelungsverfahren vor der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts in
der Untersuchung nach VStrR (Art. 37-61 VStrR) fällt nicht darunter. Die Art.
73-82 VStrR regeln das Verfahren vor dem erkennenden kantonalen Strafgericht
bzw. vor der Strafkammer des Bundesstrafgerichts nach erfolgter Überweisung
(Anklage). Die untersuchende Verwaltungsbehörde hat allerdings - gerade bei
Entsiegelungsgesuchen - dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen ausreichend
Rechnung zu tragen (Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 5 Abs. 1 StPO). Die allgemeinen
strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Grundsätze sind jedenfalls auch im
Verwaltungsstrafverfahren zu berücksichtigen.

3.3 Im vorliegenden Fall erfolgte das Entsiegelungsgesuch einen Monat nach der
Hausdurchsuchung und Siegelung. Damit hat die
BGE 139 IV 246 S. 250
ESTV dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen genügend Rechnung getragen. Die
Rüge, das Entsiegelungsgesuch sei zu spät gestellt worden und verletze
bundesrechtliche Fristbestimmungen, erweist sich als unbegründet. Es kann
offenbleiben, ob Art. 248 Abs. 2 StPO überhaupt als Verwirkungsfrist anzusehen
wäre, deren Missachtung (in jedem Fall) zum Nichteintreten auf das
Entsiegelungsgesuch führen müsste.