Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 199



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

139 IV 199

27. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen X. und Y. (Beschwerde in
Strafsachen)
6B_611/2012 / 6B_693/2012 vom 19. April 2013

Regeste

Entschädigung für die amtliche Verteidigung; Rechtsmittellegitimation der
Staatsanwaltschaft; Rechtsmittelweg; Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG; Art. 81
Abs. 3 lit. a und Abs. 4 lit. b, Art. 135 Abs. 2 und 3, Art. 351 Abs. 1, Art.
381 f., Art. 394 lit. a, Art. 398 Abs. 1, Art. 422 Abs. 1 und 2 lit. a StPO.
Die Staatsanwaltschaft kann die Höhe der Entschädigung für die amtliche
Verteidigung mit Beschwerde in Strafsachen anfechten (E. 2). Entsprechend steht
ihr auch der Rechtsmittelweg im Kanton offen (E. 4).
Das Gericht hat über die Entschädigung des amtlichen Verteidigers im Sachurteil
zu befinden. Die Staatsanwaltschaft und die anderen Parteien, die für die
Kosten der amtlichen Verteidigung aufzukommen haben, müssen die Reduktion der
Entschädigung im Berufungsverfahren verlangen, während sich der amtliche
Verteidiger gegen die Höhe der Entschädigung mit Beschwerde zur Wehr setzen
muss (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 199

BGE 139 IV 199 S. 199

A. Das Kreisgericht St. Gallen verurteilte X. am 15. September 2011 wegen
Sachbeschädigung, Landfriedensbruchs (Sachverhalt St. Gallen) sowie Gewalt und
Drohung gegen Behörden und Beamte zu einer bedingten Geldstrafe von 210
Tagessätzen zu Fr. 30.-. Vom Vorwurf
BGE 139 IV 199 S. 200
des Landfriedensbruchs im Sachverhalt Wil und der Widerhandlung gegen das
Sprengstoffgesetz sprach es ihn frei. Die Verfahrenskosten (ausgenommen die
Kosten der amtlichen Verteidigung) auferlegte es je zur Hälfte X. bzw. dem
Staat (Dispositiv-Ziff. 7). Es entschädigte die amtliche Verteidigerin,
Rechtsanwältin Y., mit Fr. 13'090.- und verpflichtete X., die Entschädigung im
Betrag von Fr. 6'090.- an den Staat zurückzuzahlen, sobald es seine
wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben (Dispositiv-Ziff. 8).

B.

B.a Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen legte gegen die Höhe der
Entschädigung der amtlichen Verteidigerin beim Kantonsgericht St. Gallen
Berufung ein. Gleichzeitig erhob sie vorsorglich Beschwerde bei der
Anklagekammer des Kantons St. Gallen. Sie beantragte in beiden Verfahren, Ziff.
8 des Entscheids des Kreisgerichts aufzuheben, die Entschädigung der amtlichen
Verteidigerin auf max. Fr. 6'000.- zuzüglich Barauslagen festzulegen und X. zu
verpflichten, max. Fr. 2'670.- an den Staat zurückzuzahlen, sobald es seine
wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben. Im Berufungsverfahren verlangte sie
zudem, Ziff. 7 des angefochtenen Entscheids sei in der Position amtliche
Verteidigung entsprechend anzupassen.

B.b Das Kantonsgericht trat am 13. September 2012 auf die Berufung nicht ein.
Die Anklagekammer erliess am 26. September 2012 ebenfalls einen
Nichteintretensentscheid.

C. Die Staatsanwaltschaft führt gegen beide Entscheide Beschwerde in
Strafsachen mit dem Antrag, das Kantonsgericht bzw. die Anklagekammer
anzuweisen, in der Sache materiell zu entscheiden.

D. Das Kantonsgericht und die Anklagekammer verzichteten auf eine
Stellungnahme. Rechtsanwältin Y. liess sich nicht vernehmen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Zur Beschwerde in Strafsachen ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG berechtigt, wer
vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur
Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der
Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b). Die
Staatsanwaltschaft hat ein rechtlich geschütztes Interesse (Art. 81 Abs. 1 lit.
b Ziff. 3 BGG). Ihr steht das Beschwerderecht in Strafsachen ohne Einschränkung
zu (BGE 134 IV 36 E. 1.4). Die Staatsanwaltschaft kann namentlich auch die Höhe
der Entschädigung für die private Verteidigung im
BGE 139 IV 199 S. 201
Sinne von Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO anfechten (Urteil 6B_168/2012 vom 27.
August 2012 E. 2 und 3). Gleich zu entscheiden ist, wenn es um die
Entschädigung des amtlichen Verteidigers geht. Die Beschwerdeführerin weist
zutreffend darauf hin, dass die Interessen des amtlichen Verteidigers bei der
Festsetzung des Honorars denjenigen des Verurteilten widersprechen. Der
Verurteilte, der die Verteidigerentschädigung bei günstigen wirtschaftlichen
Verhältnissen zurückzahlen muss, ist an einer tiefen Entschädigung
interessiert, während der Verteidiger einen hohen Betrag will. Dies
rechtfertigt die Rechtsmittellegitimation der Staatsanwaltschaft.
(...)

4. Gegen die Höhe der Entschädigung für die amtliche Verteidigung ist die
Staatsanwaltschaft zur Beschwerde in Strafsachen legitimiert (oben E. 2).
Entsprechend muss ihr auch der Rechtsmittelweg im Kanton offenstehen (vgl. Art.
80 Abs. 2 Satz 1 BGG). Die Rechtsmittellegitimation der Staatsanwaltschaft
gemäss Art. 381 Abs. 1 StPO bezieht sich auf alle Punkte des fraglichen
Entscheids, mit Ausnahme des Zivilpunkts (NIKLAUS SCHMID, Schweizerische
Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 2009, N. 2 zu Art. 381 StPO;
ähnlich MARTIN ZIEGLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische
Strafprozessordnung, 2011, N. 3 zu Art. 381 StPO; RICHARD CALAME, in:
Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 5 zu Art. 381
StPO). Die Staatsanwaltschaft kann ein Rechtsmittel zugunsten oder zuungunsten
der beschuldigten oder verurteilten Person ergreifen (Art. 381 Abs. 1 StPO). Zu
prüfen bleibt damit lediglich, ob sie gegen die Höhe der Entschädigung für die
amtliche Verteidigung Berufung (Art. 398 ff. StPO) oder Beschwerde (Art. 393
ff. StPO) erheben muss.

5.

5.1 Entscheide, in denen über Straf- und Zivilfragen materiell befunden wird,
ergehen in Form eines Urteils (Art. 80 Abs. 1 Satz 1 StPO). Im Urteil ist auch
über die Kosten- und Entschädigungsfolgen zu entscheiden (Art. 81 Abs. 3 lit. a
und Abs. 4 lit. b, Art. 351 Abs. 1 StPO). Zu den Verfahrenskosten gehören u.a.
die Auslagen für die amtliche Verteidigung und die unentgeltliche
Verbeiständung (Art. 422 Abs. 1 und 2 lit. a StPO). Art. 135 Abs. 2 StPO sieht
vor, dass das urteilende Gericht die Entschädigung des amtlichen Verteidigers
am Ende des Verfahrens festsetzt. Gleiches gilt für das Honorar des
unentgeltlichen Rechtsbeistands der Privatklägerschaft (Art. 138 Abs. 1 i.V.m.
Art. 135 Abs. 2 StPO). Da die Auslagen für
BGE 139 IV 199 S. 202
die amtliche Verbeiständung und die unentgeltliche Rechtspflege Bestandteil der
Verfahrenskosten bilden, hat das Gericht darüber im Sachurteil zu befinden.

5.2 Gegen Urteile erstinstanzlicher Gerichte, mit denen das Verfahren ganz oder
teilweise abgeschlossen wurde, können die Staatsanwaltschaft und die übrigen
Parteien gemäss Art. 398 Abs. 1 i.V.m. Art. 381 f. StPO Berufung erklären. Dies
gilt auch, wenn ausschliesslich Nebenfolgen des Urteils oder die Kosten-,
Entschädigungs- und Genugtuungsfolgen streitig sind (Art. 399 Abs. 4 lit. e und
f StPO; vgl. auch Art. 406 Abs. 1 lit. d StPO). Die Beschwerde ist im Vergleich
zur Berufung subsidiär (Art. 20 Abs. 1 und Art. 394 lit. a StPO; Botschaft vom
21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1312
zu Art. 402 Abs. 1 E-StPO). Die Staatsanwaltschaft und die anderen Parteien,
die für die Verfahrenskosten aufzukommen haben, müssen die Reduktion der
Entschädigung für die amtliche Verteidigung daher im Berufungsverfahren
verlangen.
Der amtliche Verteidiger und der unentgeltliche Rechtsbeistand der
Privatklägerschaft sind nicht Verfahrensparteien (Art. 104 Abs. 1 StPO). Ihre
Rechtsmittellegitimation hinsichtlich der Festsetzung des Honorars ergibt sich
nicht aus Art. 382 StPO, sondern aus der besonderen Regelung in Art. 135 Abs. 3
lit. a StPO bzw. Art. 138 Abs. 1 i.V.m. Art. 135 Abs. 3 lit. a StPO. Danach
steht dem amtlichen Verteidiger und dem unentgeltlichen Rechtsbeistand der
Privatklägerschaft gegen den Entschädigungsentscheid des erstinstanzlichen
Gerichts im Sinne von Art. 135 Abs. 2 StPO lediglich die Beschwerde offen.

5.3 In der Lehre wird die Auffassung vertreten, das Honorar des amtlichen
Verteidigers sei nicht im Urteil selbst, sondern nachträglich in einem
separaten Entscheid festzusetzen. Dies ergebe sich indirekt aus Art. 135 Abs. 3
StPO. Da gegen den Entscheid über die Entschädigung des amtlichen Verteidigers
die Beschwerde gegeben sei, müsse die Entschädigung Gegenstand einer Verfügung
oder eines Beschlusses bilden. Dieses Vorgehen empfehle sich nicht zuletzt
deshalb, weil bei Erlass des Endentscheids die vollständigen Kosten der
amtlichen Verteidigung noch nicht feststünden, da beispielsweise noch eine
Beratung betreffend Weiterzug des Entscheids anstehen könne (SCHMID, a.a.O., N.
4 zu Art. 135 StPO; NICKLAUS RUCKSTUHL, in: Basler Kommentar, Schweizerische
Strafprozessordnung, 2011, N. 12 zu Art. 135 StPO). Dessen ungeachtet sei die
Tragung der Verteidigungskosten im Kostendispositiv des Urteils aufzuführen
(SCHMID,
BGE 139 IV 199 S. 203
a.a.O., N. 2 zu Art. 426 StPO). Damit geht eine Spaltung des Rechtsmittelwegs
einher, da die Honorarfestsetzung mit Beschwerde, die Tragung der
Verteidigerkosten jedoch mit der Hauptsache, d.h. in der Regel mit Berufung
angefochten werden muss (SCHMID, a.a.O., N. 5 zu Art. 135 StPO; vgl. auch
RUCKSTUHL, a.a.O., N. 15 zu Art. 135 StPO).

5.4 Gegen die erwähnte Lehrmeinung spricht, dass der Gesetzgeber den Entscheid
über die Entschädigung des amtlichen Verteidigers ausdrücklich dem "urteilenden
Gericht" zuwies. Die im bundesrätlichen Entwurf (Art. 133 Abs. 2 und Art. 136
Abs. 1 E-StPO) noch vorgesehene Regelung, wonach immer die Verfahrensleitung
über die Entschädigung des amtlichen Verteidigers und des unentgeltlichen
Rechtsbeistands der Privatklägerschaft zu befinden hat, fand im Parlament keine
Zustimmung bzw. wurde vom Bundesrat anlässlich der parlamentarischen Beratungen
gar als falsch bezeichnet (AB 2006 S 1014). Die Festsetzung des Honorars für
die amtliche Verteidigung im Urteil entspricht der Praxis verschiedener
Gerichte und namentlich auch des Bundesstrafgerichts, auf dessen Vorschlag hin
das Parlament das urteilende Gericht für zuständig erklärte (AB 2006 S 1014).
Dies ist auch insofern sinnvoll, als über die Kostentragung, welche Bestandteil
des Urteils ist (vgl. Urteil 6B_112/2012 vom 5. Juli 2012 E. 1.3 betreffend die
Kosten der amtlichen Verteidigung und der unentgeltlichen Rechtspflege der
Privatklägerschaft), nur entschieden werden kann, wenn feststeht, welche Kosten
überhaupt entstanden sind. Eine Festsetzung der Kostenauflage in Unkenntnis von
Höhe und Ursache der betroffenen Kosten könnte im Einzelfall zu nicht
sachgerechten Ergebnissen führen. Das Gericht wäre zudem gezwungen, die Tragung
der Verteidigungskosten anteilsmässig oder in Prozenten zu regeln. Die
Festlegung eines fixen Betrags (wie vorliegend Fr. 6'090.- von Fr. 13'090.-,
was sich bei Teilfreisprüchen aufdrängen kann) wäre ausgeschlossen.
Auch die Entschädigung für die private Verteidigung ist zwingend im Urteil
festzusetzen (Urteil 6B_472/2012 vom 13. November 2012 E. 2.4). Nicht
einzusehen ist, weshalb die Auslagen für die private Rechtsverbeiständung vor
Ergehen des Urteils beziffert werden müssen (Art. 429 Abs. 2 und Art. 433 Abs.
2 StPO), dem amtlichen Verteidiger Gleiches aber nicht zumutbar sein soll.
Nicht praktikabel erscheint zudem die mit der vorgeschlagenen Lösung
einhergehende Spaltung des Rechtsmittelwegs. Das Gesetz sieht zugunsten der
Parteien für sämtliche Entscheide im
BGE 139 IV 199 S. 204
Zusammenhang mit dem Strafurteil das einheitliche Rechtsmittel der Berufung
vor. Das Gericht kann auf den Rechtsmittelweg nicht Einfluss nehmen, indem es
über zwingende Nebenfolgen des Strafurteils in einem separaten Entscheid
befindet.

5.5 Die Sichtweise, wonach die Staatsanwaltschaft und die übrigen Parteien
gegen das Honorar für die amtliche Verteidigung Berufung erheben können, steht
zudem im Einklang mit den Materialien. Der bundesrätliche Entwurf sah in Art.
436 E-StPO noch vor, dass der Entscheid über die Verfahrenskosten bei der
Beschwerdeinstanz anzufechten ist, "wenn er nicht im Rahmen eines anderen
Rechtsmittels geprüft werden kann". Gemäss der bundesrätlichen Botschaft bezog
sich die in diesem Artikel vorgesehene Anfechtung der Verfahrenskosten auch auf
den Betrag der Honorare der amtlichen Verteidigung (BBl 2006 1328 zu Art. 436
E-StPO). Art. 436 E-StPO wurde vom Parlament gestrichen. Dies wurde damit
begründet, dass die im Entwurf vorgesehene beschränkte Rechtsmittellegitimation
der Privatklägerschaft auf den Schuld- und Zivilpunkt (Art. 390 E-StPO) vom
Parlament erweitert und der Privatklägerschaft - ausser hinsichtlich der
ausgesprochenen Sanktion - die Rechtsmittellegitimation grundsätzlich zuerkannt
wurde (Art. 382 Abs. 2 StPO), womit sich Art. 436 E-StPO als überflüssig erwies
(AB 2006 S 1055 und 1059). Daraus ergibt sich unmissverständlich, dass die Höhe
des Honorars des amtlichen Verteidigers mit dem Entscheid über die
Verfahrenskosten angefochten werden kann und hierfür die allgemeinen Regeln von
Art. 381 f. StPO betreffend die Rechtsmittellegitimation der Parteien gelten,
wobei die Beschwerde subsidiär zur Berufung ist.

5.6 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber bewusst das urteilende
Gericht für die Festsetzung der Entschädigung des amtlichen Verteidigers für
zuständig erklärt. Dieser Entscheid - wie auch derjenige über die Entschädigung
für die private Verteidigung und die weiteren Verfahrenskosten - ist Gegenstand
des Urteils und kann von den Parteien mit Berufung angefochten werden, während
sich der amtliche Verteidiger gegen die Höhe der Entschädigung mit Beschwerde
zur Wehr setzen muss (Art. 135 Abs. 3 StPO).
Die Zuständigkeiten der beiden Rechtsmittelinstanzen können sich folglich
überschneiden, wenn eine Partei Berufung erhebt und der amtliche Verteidiger
die seines Erachtens zu tiefe Entschädigung mit Beschwerde anficht. Dabei ist
allerdings zu beachten, dass die Berufung ein reformatorisches Rechtsmittel
ist. Die Beschwerde ist im
BGE 139 IV 199 S. 205
Vergleich zur Berufung subsidiär. Tritt das Berufungsgericht auf die Berufung
ein, so fällt es ein neues Urteil, welches das erstinstanzliche Urteil ersetzt
(Art. 408 StPO). Damit entfällt das Anfechtungsobjekt des parallelen
Beschwerdeverfahrens. Ist dies der Fall, sind die Einwände des amtlichen
Verteidigers gegen die Höhe seiner Entschädigung jedoch mit der Berufung zu
behandeln.