Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 II 243



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Urteilskopf

139 II 243

16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. und
Mitb. gegen L. AG und Gemeinde Breil/Brigels (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_646/2012 vom 22. Mai 2013

Regeste

Beschränkung des Zweitwohnungsbaus (Art. 75b und 197 Ziff. 9 BV); unmittelbare
Anwendbarkeit der neuen Verfassungsbestimmungen seit dem 11. März 2012.
Überblick über den Meinungsstand (E. 2-7).
Inkrafttreten der neuen Verfassungsbestimmungen am 11. März 2012 (E. 8).
Art. 75b Abs. 1 i.V.m. Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV enthält ein unmittelbar
anwendbares Baubewilligungsverbot für Zweitwohnungen in Gemeinden, in denen der
20-%-Anteil erreicht oder überschritten ist (E. 9 und 10).
Dieses Verbot gilt für alle Baubewilligungen, die seit dem 11. März 2012 in den
betroffenen Gemeinden erstinstanzlich erteilt worden sind: Vor dem 1. Januar
2013 erteilte Bewilligungen sind auf Anfechtung hin aufzuheben; später erteilte
Baubewilligungen sind nach Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV nichtig (E. 11).

Sachverhalt ab Seite 244

BGE 139 II 243 S. 244

A. Am 13. Juli 2012 reichte die L. AG ein Baugesuch für ein Mehrfamilienhaus
(...) in der Dorferweiterungszone D3 der Gemeinde Breil/Brigels ein. (...)
Gegen das Bauvorhaben erhoben mehrere Stockwerkeigentümer der benachbarten
Grundstücke (...) Einsprache. Sie beriefen sich insbesondere auf die Verletzung
der neuen Verfassungsbestimmung über Zweitwohnungen (Art. 75b BV).
Mit Bau- und Einspracheentscheid vom 20. August 2012 wies der Gemeindevorstand
Breil/Brigels die Einsprache ab und erteilte der Bauherrschaft am 21. August
2012 die Baubewilligung unter Auflagen und Bedingungen.

B. Dagegen reichten die Einsprecher Beschwerde beim Verwaltungsgericht des
Kantons Graubünden ein. Dieses wies die Beschwerde am 12. November 2012 ab. Es
ging davon aus, Art. 75b BV und seine Übergangsbestimmungen (Art. 197 Ziff. 9
BV) seien erst auf Baubewilligungen anwendbar, die ab dem 1. Januar 2013
erteilt würden.

C. Dagegen haben die Einsprecher am 13. Dezember 2012 Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiäre Verfassungsbeschwerde ans
Bundesgericht erhoben. (...)
Am 22. Mai 2013 hat das Bundesgericht die Beschwerde in öffentlicher Sitzung
gutgeheissen. Es hob die angefochtenen Entscheide auf und verweigerte die
Baubewilligung.
(Auszug)

Erwägungen

BGE 139 II 243 S. 245
Aus den Erwägungen:

2. Das Verwaltungsgericht führte aus, dass die neue Verfassungsbestimmung
gemäss Art. 195 BV an dem Tag in Kraft getreten sei, an dem sie von Volk und
Ständen angenommen wurde, mithin am 11. März 2012. Das Stimmvolk habe jedoch
dem in Art. 75b BV angelegten faktischen Baustopp für Zweitwohnungen in
Gemeinden mit einem Zweitwohnungsanteil von über 20 % nur unter
Berücksichtigung der übergangsrechtlichen Regelung von Art. 197 Ziff. 9 BV (in
den Abstimmungsunterlagen noch Art. 197 Ziff. 8 BV) zugestimmt. Der neue Art.
75b BV dürfe deshalb nur zusammen mit dem neuen Art. 197 Ziff. 9 BV gelesen und
verstanden werden. (...)
Daraus ergebe sich, dass bis zum 31. Dezember 2012 schweizweit noch das
bestehende Recht gelte. Dies habe zur Folge, dass auch in jenen Gemeinden wie
Breil/Brigels, welche die kritische Grenze von 20 % Zweitwohnungen
überschritten haben, im Jahr 2012 noch Baubewilligungen für Zweitwohnungen
erteilt werden durften. (...)

3. Im gleichen Sinne haben auch die verwaltungsgerichtlichen Abteilungen der
Kantone Wallis (Urteil A1 12 176 vom 23. Oktober 2012) und Waadt (Urteil
AC.2012.0127 vom 22. November 2012) entschieden. (...)

4. Die Beschwerdeführer machen dagegen geltend, Art. 75b BV sei am 11. März
2012 in Kraft getreten und müsse ab diesem Zeitpunkt auch angewendet werden. Im
vorliegenden Fall sei völlig unstreitig, dass es sich beim Bauvorhaben um einen
Zweitwohnungsbau handle und dass der Anteil an Zweitwohnungen in Breil/Brigels
über 20 % liege; hieran ändere auch die Verordnung des Bundesrates nichts.
Die den Initianten der Zweitwohnungsinitiative nahestehende Vereinigung
Helvetia Nostra, die Beschwerde gegen zahlreiche Baubewilligungen für
Zweitwohnungen erhoben hat, vertritt die Auffassung, dass Art. 75b Abs. 1 BV
genügend präzise sei, um unmittelbar angewendet zu werden. (...) Aus Art. 197
Ziff. 9 Abs. 2 BV e contrario ergebe sich lediglich, dass Baubewilligungen, die
nach dem 11. März 2012 und vor dem 1. Januar 2013 erteilt worden sind, nicht
nichtig, sondern anfechtbar seien. Es sei nicht vorstellbar, dass das Volk mit
der Zustimmung zur Initiative die massive und missbräuchliche Erteilung von
Baubewilligungen für Zweitwohnungen bis zum 31. Dezember 2012 gewollt habe.
(...)
BGE 139 II 243 S. 246

5. Die Gemeinde Breil/Brigels schliesst sich der Rechtsauffassung des
Verwaltungsgerichts Graubünden an. (...) Art. 75b Abs. 1 i.V.m. Art. 197 Ziff.
9 Abs. 2 BV könne auch nicht erstmals im bundesgerichtlichen Verfahren
angewendet werden. Dem stehe bereits die Spezialregelung in Art. 197 Ziff. 9
Abs. 2 BV entgegen, die auf den Zeitpunkt der Erteilung der Baubewilligung
abstelle. (...)

6. In einer ersten Stellungnahme vom 15. März 2012 zur Annahme der
Zweitwohnungsinitiative ging das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) davon aus,
dass Art. 75b BV (...) auf alle Baugesuche anwendbar [sei], die nach dem 11.
März 2012 eingereicht werden. Gebe es Zweifel an der Übereinstimmung mit dem
neuen Verfassungsartikel, so seien die Baugesuchsverfahren zu sistieren, bis
die Ausführungsgesetzgebung in Kraft sei und das Gesuch beurteilt werden könne.
(...)
In seinem Erläuternden Bericht zur Verordnung über Zweitwohnungen vom 17.
August 2012 (S. 17 f. zu Art. 9) führt das ARE aus, dass Art. 75b BV mindestens
teilweise direkt anwendbar sei. Namentlich Art. 75b Abs. 1 BV, wonach der
Anteil an Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten und der für
Wohnzwecke genutzten Bruttogeschossfläche einer Gemeinde auf 20 % beschränkt
sei, lasse sich direkt anwenden, noch bevor das in Art. 75b BV vorgesehene
Ausführungsrecht erlassen sei. Die Spielräume bei der Auslegung des Begriffs
der Zweitwohnung hinderten die direkte Anwendbarkeit nicht. Zwar nehme die
Verordnung bloss auf die Gesamtheit der Wohneinheiten und nicht auch auf die
Bruttogeschossfläche Bezug (weil die nötigen Daten für die Bruttogeschossfläche
nicht innert nützlicher Frist beschafft werden könnten); die 20 %-Quote sei
jedoch bereits erreicht bzw. überschritten, wenn sie auch nur für einen der
beiden Parameter, nämlich den Gesamtbestand der Wohnungen, erfüllt sei.

7. In der Literatur werden unterschiedliche Auffassungen vertreten.

7.1 [Zusammenfassung: Gegen die unmittelbare Anwendbarkeit der neuen
Verfassungsbestimmungen für Baubewilligungen, die vor dem 1. Januar 2013
erteilt wurden, plädieren:
- ERIC BRANDT, Résidences secondaires: premières jurisprudences cantonales,
Plaidoyer 6/2012 S. 38 ff., insb. 42 f.;
- JEANRENAUD/SULC, Lex Weber: premiers commentaires de l'ordonnance dans
l'attente de la législation d'exécution, Not@lex, Revue de droit privé et
fiscal du patrimoine 4/2012 S. 165 ff., insb. 185 f.;
BGE 139 II 243 S. 247
- RAMEL/FAVRE, "Lex Weber": le jour après..., Anwaltsrevue 6-7/2012 S. 279 ff.,
insb. 285 f.;
- FABIAN MÖSCHING, Ab welchem Zeitpunkt ist die Zweitwohnungsinitiative
anwendbar?, Jusletter 10. Dezember 2012, Rz. 25, 35 und 41 ff.;
- GEORG M. GANZ, Zweitwohnungsinitiative: Verfassungsauftrag und Umsetzung,
Jusletter 10. Dezember 2012, Rz. 33;
- ROLAND NORER, Zum Geltungsbereich der Zweitwohnungsverordnung, in: Rechtliche
Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative, Norer/Rütsche (Hrsg.), 2013, S. 11 ff.,
insb. 36 f.]

7.2 BERNHARD WALDMANN (Die Zweitwohnungsverordnung [im Folgenden:
Zweitwohnungsverordnung], Jusletter 10. Dezember 2012; derselbe, Zweitwohnungen
- vom Umgang mit einer sperrigen Verfassungsnorm [im Folgenden:
Zweitwohnungen], in: SchweizerischeBaurechtstagung 2013, S. 123 ff.) teilt den
Ansatz des Verwaltungsgerichts Graubünden, kommt aber zu einem anderen Ergebnis
für Baubewilligungen, die am 1. Januar 2013 noch nicht rechtskräftig geworden
sind.
Er ist der Auffassung, dass Art. 75b BV primär einen Gesetzgebungsauftrag
enthalte mit dem Ziel, die Obergrenze des Zweitwohnungsanteils in allen
Gemeinden einzuhalten, d.h. auch in solchen, in denen der Anteil heute bereits
überschritten sei (Zweitwohnungen, a.a.O., S. 136). Um zu verhindern, dass bis
zum Inkrafttreten der Ausführungsgesetzgebung die Zielsetzungen der neuen
Verfassungsnorm unterlaufen werden, statuiere Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV ein
vorsorgliches Baubewilligungsverbot für Zweitwohnungen (Zweitwohnungen, a.a.O.,
S. 140). Nur dieses vorübergehende Verbot entfalte unmittelbare
Rechtswirkungen; sein Geltungsbereich und Inhalt würden durch die vom Bundesrat
erlassene Zweitwohnungsverordnung konkretisiert (Zweitwohnungsverordnung,
a.a.O., Rz. 6 und 7; Zweitwohnungen, a.a.O., S. 140 ff.).
Der Bundesrat habe das Inkrafttreten der Verordnung und damit auch den
Geltungsbereich des vorsorglichen Baubewilligungsverbots auf den 1. Januar 2013
angesetzt. Dieser Entscheid sei angesichts des Wortlauts von Art. 197 Ziff. 9
Abs. 2 BV vertretbar (...) (Zweitwohnungen, a.a.O., S. 142/143;
Zweitwohnungsverordnung, a.a.O., Rz. 21). (...) Dagegen komme das neue Recht
für alle Baubewilligungen zur Anwendung, die am 1. Januar 2013 noch nicht
rechtskräftig geworden seien. Die Zweitwohnungsinitiative sei Ausdruck
BGE 139 II 243 S. 248
eines erheblichen öffentlichen Interesses, das eine unmittelbare Anwendung im
Beschwerdeverfahren gegen Verfügungen finden müsse, die noch unter dem alten
Recht erlassen worden seien (Zweitwohnungsverordnung, a.a.O., Rz. 23 f.;
Zweitwohnungen, a.a.O., S. 143).
Nach der von WALDMANN vertretenen Auffassung hätte somit das Verwaltungsgericht
(das noch 2012 entschied) die vorliegend streitige Baubewilligung zu Recht nach
altem Recht bestätigt; das Bundesgericht, das nach dem 1. Januar 2013
entscheidet, müsste sie jedoch in Anwendung von Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV für
nichtig erklären.

7.3 JACQUES DUBEY (La Suisse: son territoire, sa démocratie et son fédéralisme,
Le point sur les résidences secondaires et la révision de la LAT, in: Journées
suisses du droit de la construction, 2013, S. 93 ff.) vertritt einen ähnlichen
Ansatz wie WALDMANN (...).
Im Unterschied zu WALDMANN ist DUBEY jedoch der Auffassung, dass dieses
Moratorium für sämtliche ab dem 1. Januar 2013 erteilte Bewilligungen für
Zweitwohnungen gilt; diese seien nichtig, unabhängig vom Zweitwohnungsanteil in
der betreffenden Gemeinde (a.a.O., S. 113 f.). Allerdings hält DUBEY diesen
weiten Anwendungsbereich selbst für unverhältnismässig, weshalb der Bundesrat
befugt gewesen sei, den Anwendungsbereich des Moratoriums per Polizeiverordnung
einzuschränken (a.a.O., S. 124). (...)

7.4 [Zusammenfassung: Andere Autoren teilen die Auffassung des ARE, wonach Art.
75b Abs. 1 BV jedenfalls die Bewilligung von Baugesuchen verbiete, die nach
diesem Datum eingereicht wurden:
- ARNOLD MARTI, Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative - ungelöste Rätsel und
des Pudels Kern, ZBl 113/2012 S. 281 f.;
- MICHEL ROSSINELLI, Résidences secondaires: l'illusion des cantons alpins, Le
Temps, 31. August 2012;
- ANASTASI/CANONICA/MOLO, Riflessioni sulla limitazione delle residenze
secondarie, Dalla Costituzione al progetto di ordinanza, Jusletter 2. Juli
2012, Rz. 3;
- EMANUEL DETTWILER, Die Zweitwohnungsverordnung. Eine Übersicht mit
ausgewählten Schwerpunkten, SJZ 109/2013 S. 89 ff.]

8. Gemäss Art. 195 BV und Art. 15 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember
1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1) treten Änderungen der
Bundesverfassung mit der Annahme durch Volk und Stände in Kraft, sofern die
Vorlage nichts anderes bestimmt,
BGE 139 II 243 S. 249
und zwar unabhängig vom Datum ihrer Publikation in der Amtlichen Sammlung (vgl.
Botschaft vom 22. Oktober 2003 zum Publikationsgesetz, BBl 2003 7729). Art. 75b
BV und seine Übergangsbestimmungen sind daher am 11. März 2012 in Kraft
getreten.
Verfassungsbestimmungen können genügend bestimmt sein, um mit ihrem
Inkrafttreten ohne ausführende Gesetzgebung (ganz oder teilweise) mit Wirkungen
auch für Private unmittelbare Anwendung zu finden (vgl. YVO HANGARTNER,
Unmittelbare Anwendbarkeit völker- und verfassungsrechtlicher Normen, ZSR 126/
2007 I S. 154 ff.). Ob dies der Fall ist, ist im Wege der Auslegung zu
ermitteln (BGE 139 I 16 E. 4.2.3 S. 25 f. mit Hinweisen).
Verfassungsbestimmungen sind grundsätzlich nach denselben Regeln auszulegen wie
Normen des einfachen Gesetzesrechts (BGE 131 I 74 E. 4.1 S. 80; BGE 128 I 327
E. 2.1 S. 330 mit Hinweisen; RHINOW/SCHEFER, Schweizerisches Verfassungsrecht,
2. Aufl. 2009, S. 109 Rz. 527); allerdings ist gewissen verfassungsrechtlichen
Besonderheiten Rechnung zu tragen (vgl. dazu BGE 139 I 16 E. 4.2 S. 24 ff. mit
Hinweisen). Auszurichten ist die Auslegung auf die ratio legis, die zu
ermitteln dem Gericht allerdings nicht nach seinen eigenen, subjektiven
Wertvorstellungen, sondern nach den Vorgaben des Gesetz- bzw. Verfassungsgebers
aufgegeben ist (BGE 128 I 34 E. 3b S. 40 f.). Beruht eine Verfassungsbestimmung
auf einer Volksinitiative, ist das subjektive Verständnis der Initianten nicht
massgeblich. Dagegen können die Begründung der Initiative sowie Argumente und
Stellungnahmen der Initianten wie auch der Initiativgegner und der Behörden im
Vorfeld der Abstimmung im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt
werden (Urteil 1P.292/2003 vom 5. April 2004 E. 1.4, nicht publ. in: BGE 130 I
134.; BGE 129 I 392 E. 2.2 S. 395).

9. Ausgangspunkt der Auslegung ist der Text der Verfassungsbestimmung. Dieser
lautet:
Art. 75b Zweitwohnungen
^1 Der Anteil von Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten und der für
Wohnzwecke genutzten Bruttogeschossfläche einer Gemeinde ist auf höchstens 20
Prozent beschränkt.
^2 Das Gesetz verpflichtet die Gemeinden, ihren Erstwohnungsanteilplan und den
detaillierten Stand seines Vollzugs alljährlich zu veröffentlichen.
BGE 139 II 243 S. 250
Art. 197
(...)
9. Übergangsbestimmungen zu Art. 75b (Zweitwohnungen)
^1 Tritt die entsprechende Gesetzgebung nach Annahme von Artikel 75b nicht
innerhalb von zwei Jahren in Kraft, so erlässt der Bundesrat die nötigen
Ausführungsbestimmungen über Erstellung, Verkauf und Registrierung im Grundbuch
durch Verordnung.
^2 Baubewilligungen für Zweitwohnungen, die zwischen dem 1. Januar des auf die
Annahme von Artikel 75b folgenden Jahres und dem Inkrafttreten der
Ausführungsbestimmungen erteilt werden, sind nichtig.

9.1 Art. 75b Abs. 1 BV setzt einen Höchstanteil von 20 % für Zweitwohnungen
fest. Dieser gilt sowohl für den Gesamtbestand der Wohneinheiten als auch für
die für Wohnzwecke genutzte Bruttogeschossfläche einer Gemeinde. Die
Verfassungsbestimmung enthält damit eine präzise Vorgabe zum
Zweitwohnungsanteil, die grundsätzlich einer direkten Anwendung zugänglich
erscheint (anders als der in Art. 8 Abs. 2 RPG verwendete unbestimmte Begriff
des "ausgewogenen Verhältnisses" von Erst- und Zweitwohnungen). Auch die
Formulierung "ist ... beschränkt" deutet darauf hin, dass es sich um eine
unmittelbar verbindliche Vorgabe handelt.
Art. 75b Abs. 2 BV enthält dagegen klarerweise einen Gesetzgebungsauftrag, um
die Veröffentlichung von Erstwohnungsanteilplänen und den Vollzug durch die
Gemeinden sicherzustellen. Auch Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV geht davon aus, dass
es für die Umsetzung von Art. 75b Abs. 1 BV weiterer Ausführungsbestimmungen
bedarf, insbesondere "über Erstellung, Verkauf und Registrierung im Grundbuch".
Hierfür wird dem Gesetzgeber eine Frist von zwei Jahren eingeräumt, ansonsten
der Bundesrat befugt ist, die nötigen Ausführungsbestimmungen zu erlassen.
Immerhin lässt sich Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV entnehmen, dass die neue
Verfassungsbestimmung schon vor Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen
gewisse Rechtswirkungen entfalten soll, insoweit also direkt anwendbar ist.
Nach dieser Bestimmung sind Baubewilligungen für Zweitwohnungen, die zwischen
dem 1. Januar 2013 und dem Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen erteilt
werden, nichtig. Würde man diese Bestimmung isoliert anwenden, wären ab diesem
Datum alle Baubewilligungen für Zweitwohnungen in der ganzen Schweiz nichtig,
unabhängig vom Zweitwohnungsanteil der Gemeinde; dies kann nicht gemeint sein.
Vielmehr
BGE 139 II 243 S. 251
ist davon auszugehen, dass Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV auf Art. 75b Abs. 1 BV
verweist, d.h. der Grundbestimmung zu entnehmen ist, welche Baubewilligungen
bis zum Inkrafttreten der Ausführungsgesetzgebung unzulässig bzw. nichtig sind
(so auch WALDMANN, Zweitwohnungen, a.a.O., S. 140).
Art. 75b Abs. 1 BV begrenzt den Anteil von Zweitwohnungen pro Gemeinde auf
höchstens 20 %. Ist dieser Anteil (sei es am Gesamtbestand der Wohneinheiten,
sei es an der für Wohnzwecke genutzten Bruttogeschossfläche) in einer Gemeinde
bereits erreicht oder überschritten, so ergibt sich grundsätzlich unmittelbar
aus der Verfassung, dass keine weiteren Baubewilligungen für Zweitwohnungen
erteilt werden dürfen (so auch ARE, Erläuternder Bericht, S. 17 f.). Umgekehrt
dürfen in Gemeinden, die den Plafond noch nicht erreicht haben, neue
Zweitwohnungen weiterhin bewilligt werden (vorbehältlich restriktiverer
Bestimmungen des kantonalen oder kommunalen Baurechts). Dementsprechend
beschränkt sich auch das in Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV enthaltene
Bewilligungsverbot für Zweitwohnungen auf Gemeinden mit einem
Zweitwohnungsanteil von 20 % und mehr.
Das Baubewilligungsverbot nach Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV gilt bis zum
Inkrafttreten der Ausführungsgesetzgebung und soll verhindern, dass die
angestrebte Plafonierung von Zweitwohnungen auf 20 % negativ präjudiziert wird,
indem bereits in der Übergangszeit Baubewilligungen für Zweitwohnungen erteilt
werden. Es handelt sich somit um ein vorläufiges Verbot, das im Ergebnis einem
Baustopp bzw. einer Planungszone gleichkommt, in allen Gemeinden, in denen der
20 %-Anteil erreicht oder überschritten ist.

9.2 Diese Auslegung kann sich auf den Titel der Initiative ("Schluss mit
uferlosem Bau von Zweitwohnungen") und die Materialien stützen: So ging der
Bundesrat in seiner Botschaft vom 29. Oktober 2008 zur eidgenössischen
Volksinitiative "Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!" (BBl 2008 8757
ff., insb. Ziff. 4.2 S. 8766 f. [im Folgenden: Botschaft]) wie auch in den
Erläuterungen zur Volksabstimmung vom 11. März 2012 S. 12 (im Folgenden:
Abstimmungserläuterungen) davon aus, dass die Initiative zu einem "Baustopp"
für Zweitwohnungen in Tourismusorten führen werde (vgl. die Zitate unten E.
11.4).

9.3 Davon gehen im Grundsatz auch die kantonalen Verwaltungsgerichte (oben E. 2
und 3) und die Literatur (oben E. 7) aus. Streitig ist
BGE 139 II 243 S. 252
jedoch, ob dieses Baubewilligungsverbot auf Zweitwohnungsbauten Anwendung
findet, die zwischen dem 11. März und dem 31. Dezember 2012 bewilligt worden
sind. Dagegen werden im Wesentlichen zwei Einwände erhoben:
- Zum einen wird geltend gemacht, dass die Verfassungsbestimmungen zu
unbestimmt seien, um sie unmittelbar anzuwenden, weshalb sie zunächst noch
durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber konkretisiert werden müssten. Die
Zweitwohnungsverordnung sei jedoch erst am 1. Januar 2013 in Kraft getreten und
könne somit auf den streitigen Zeitraum nicht angewendet werden (vgl. dazu im
Folgenden, E. 10).
- Zum anderen wird aus Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV e contrario geschlossen, dass
bis zum 1. Januar 2013 noch das alte Recht anwendbar sei (vgl. dazu unten, E.
11).

10. Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Verfassungsbestimmung setzt voraus,
dass Tatbestand und Rechtsfolgen genügend genau formuliert sind: Das
Legalitätsprinzip verlangt eine hinreichende und angemessene Bestimmtheit der
anzuwendenden Rechtssätze im Dienste des Gesetzesvorbehalts, der
Rechtssicherheit und der rechtsgleichen Rechtsanwendung (BGE 135 I 169 E. 5.4.1
S. 173; BGE 132 I 49 E. 6.2 S. 58 f.; je mit Hinweisen). Der Grad der
erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht abstrakt festlegen. Er hängt unter
anderem von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und
der Vorhersehbarkeit der im Einzelfall erforderlichen Entscheidungen, von den
Normadressaten, von der Schwere des Eingriffs in Verfassungsrechte und von der
erst bei der Konkretisierung im Einzelfall möglichen und sachgerechten
Entscheidung ab (BGE 136 I 87 E. 3.1 S. 90 f. mit Hinweisen).
Im Folgenden ist zu prüfen, ob insbesondere der Begriff der Zweitwohnung, der
sowohl in Art. 75b Abs. 1 als auch in Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV verwendet
wird, hinreichend bestimmt ist, um den Anwendungsbereich des
Baubewilligungsverbots bis zur gesetzlichen Konkretisierung umreissen zu
können.

10.1 Der Begriff der Zweitwohnung wird nicht nur in Art. 75b BV, sondern auch
in anderen Gesetzen und Verordnungen verwendet:
In Art. 8 Abs. 2 RPG (in der Fassung vom 17. Dezember 2010, in Kraft seit 1.
Juli 2011) werden die Kantone verpflichtet, in ihren Richtplänen Gebiete zu
bezeichnen, in denen besondere
BGE 139 II 243 S. 253
Massnahmen ergriffen werden müssen, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
Erst- und Zweitwohnungen sicherzustellen. Der Begriff der Zweitwohnung wird
weder im Gesetz noch in der Verordnung definiert. In seiner Planungshilfe für
die kantonale Richtplanung "Zweitwohnungen" vom Juni 2010 (Ziff. 3 S. 8) geht
das ARE davon aus, dass Zweitwohnung jede Wohnung ist, die keine Erst- oder
Hauptwohnung ist. Als Erst- oder Hauptwohnung gelten Wohnungen, die entweder
von Ortsansässigen genutzt werden (als Eigentümer oder in Miete), d.h. von
Personen mit zivilrechtlichem Wohnsitz nach Art. 23 ZGB, oder die von Personen
bewohnt werden, die am Ort oder in der Region berufstätig sind bzw. in
Ausbildung stehen und über eine Aufenthaltsbewilligung verfügen.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erstreckt sich die
verfassungsmässig vorgesehene Wohneigentumsförderung (Art. 108 BV) nur auf
Erst- und nicht auf Zweitwohnungen (BGE 132 I 157 E. 5.3 S. 165 mit Hinweisen).
Dementsprechend schliessen Art. 2 Abs. 3 des Wohnbau- und
Eigentumsförderungsgesetzes vom 4. Oktober 1974 (WEG; SR 843) und Art. 3 Abs. 2
des Bundesgesetzes vom 21. März 2003 über die Förderung von preisgünstigem
Wohnraum (Wohnraumförderungsgesetz, WFG; SR 842) Zweit- und Ferienwohnungen von
ihrem Anwendungsbereich aus. Die Nutzung einer geförderten Wohnung als
Zweitwohnung stellt eine Zweckentfremdung dar (Art. 15 Abs. 1 der Verordnung
vom 30. November 1981 zum WEG [VWEG; SR 843.1]). Art. 4 Abs. 1 der Verordnung
vom 3. Oktober 1994 über die Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen
Vorsorge (WEFV; SR 831.411) verlangt, dass die Wohnnutzung am Wohnsitz oder am
gewöhnlichen Aufenthalt der versicherten Person erfolgen muss.
Das Bundesgesetz vom 16. Dezember 1983 über den Erwerb von Grundstücken durch
Personen im Ausland (BewG; SR 211.412.41) unterscheidet zwischen Haupt-, Zweit-
und Ferienwohnungen. Art. 2 Abs. 2 lit. b BewG i.V.m. Art. 5 der dazugehörigen
Verordnung vom 1. Oktober 1984 (BewV; SR 211.412.411) definiert nur die
Hauptwohnung, die sich am Ort des rechtmässigen und tatsächlichen Wohnsitzes
des Erwerbers befinden muss. Während der Erwerb einer Hauptwohnung
bewilligungsfrei ist, kann der Erwerb einer Zweitwohnung bewilligt werden, wenn
der Erwerber zum Ort aussergewöhnlich enge, schutzwürdige Beziehungen unterhält
(Art. 9 Abs. 1 lit. c BewG i.V.m. Art. 6 BewV). Dagegen kann der Erwerb einer
BGE 139 II 243 S. 254
Ferienwohnung in einem Fremdenverkehrsort nur im Rahmen des kantonalen
Kontingents bewilligt werden (Art. 9 Abs. 2 BewG).
An den Zweitwohnungsbegriff knüpfen zudem zahlreiche kommunale Vorschriften
über Quoten, Kontingente oder Lenkungsabgaben für Zweitwohnungen an (vgl. z.B.
BGE 136 I 142 ff. betr. Samnaun; BGE 135 I 233 ff. betr. Chermignon; BGE 117 Ia
141 ff. betr. Sils; BGE 116 Ia 207 ff. und Urteil 1P.415/1998 vom 1. Juni 1999,
in: RDAT 2000 I Nr. 23 S. 397, beide betr. Paradiso; 1P.404/1997 vom 9.
November 1998, in: RDAT 1999 I Nr. 20 S. 76 betr. Minusio; BGE 112 Ia 65 ff.
betr. Bever). In der Regel stellen diese Bestimmungen auf den Wohnsitz der
Eigentümer bzw. Mieter ab; z.T. genügt (für eine Hauptwohnung) auch ein
längerer Aufenthalt zu Studien- oder beruflichen Zwecken (vgl. BGE 116 Ia 207
E. 3c S. 212 betr. Paradiso).
Im Urteil 1P.666/1996 vom 23. Januar 1998 (E. 5c) äusserte sich das
Bundesgericht zur Regelung der Stadt Zürich, wonach Zweitwohnungen nicht auf
den Mindestwohnanteil anzurechnen seien. Die Bestimmung definierte den
Zweitwohnungsbegriff nicht; die Stadt wollte hierfür auf den gewöhnlichen
Aufenthalt bzw. auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse abstellen. Den
Parteien, welche die Unklarheit des Begriffs der Zweitwohnung beanstandet
hatten, hielt das Bundesgericht entgegen, dass es auch in anderen
Rechtsgebieten (Steuerrecht, Internationales Privatrecht) üblich sei, für die
Ermittlung der örtlichen Zugehörigkeit einer Person auf den gewöhnlichen
Aufenthalt oder den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse abzustellen und sich
diese Begriffe als praktisch handhabbar erwiesen hätten; insofern dürfte ihre
Anwendung im vorliegenden Zusammenhang nicht zu grösseren
Abgrenzungsschwierigkeiten führen.

10.2 Auch nach allgemeinem Sprachgebrauch steht die "Zweitwohnung" im Gegensatz
zur "Erstwohnung" oder "Hauptwohnung". Diese befindet sich am Wohnsitz oder am
gewöhnlichen Aufenthaltsort einer Person, an dem sie sich ständig oder über
längere Zeit aufhält und i.d.R. auch steuerpflichtig und stimmberechtigt ist.
Zweitwohnungen sind demnach grundsätzlich alle Wohnungen, die keine Erstwohnung
sind.
Dieses Verständnis liegt der Umschreibung der Zweitwohnung in Art. 2 lit. a der
Verordnung vom 22. August 2012 über Zweitwohnungen (SR 702; im Folgenden:
Zweitwohnungsverordnung) zugrunde. Danach sind Zweitwohnungen Wohnungen, die
nicht
BGE 139 II 243 S. 255
dauernd durch Personen mit Wohnsitz in der Gemeinde genutzt werden. Art. 2 lit.
b Zweitwohnungsverordnung stellt den Erstwohnungen die Wohnungen gleich, die
dauernd durch Personen zu Erwerbs- oder Ausbildungszwecken genutzt werden (lit.
b; vgl. dazu Erläuternder Bericht, S. 6).
Dies entspricht grundsätzlich dem Verständnis der Initianten: In ihrem
Argumentarium auf der Internetseite des Initiativkomitees, auf die auch in den
Abstimmungserläuterungen verwiesen wurde, führten sie aus, dass eine
Zweitwohnung eine zweite Wohnung sei, die von Privatpersonen während des Jahres
nur zeitweise zu Ferienzwecken genutzt werde, unter Ausschluss von
Nebenwohnsitzen für Schul- und Arbeitszwecke (S. 26; vgl. allerdings unten, E.
10.4 zu den "warmen Betten").

10.3 Legt man den Zweitwohnungsbegriff im oben skizzierten Sinne aus, so lässt
sich auch der Zweitwohnungsanteil der Gemeinden relativ leicht ermitteln.
Wie das ARE im Erläuternden Bericht (S. 4. f.) darlegt, kann hierfür -
zumindest annäherungsweise - auf das eidgenössische Gebäude- und
Wohnungsregister abgestellt werden, indem als potenzielle Zweitwohnung jede
Wohnung betrachtet wird, der keine Person mit Niederlassung zugeordnet ist
(vgl. Art. 3 lit. b des Bundesgesetzes vom 23. Juni 2006 über die
Harmonisierung der Einwohnerregister und anderer amtlicher Personenregister
[RHG; SR 431.02]; kritisch wegen der Miterfassung leer stehender Wohnungen
JEANRENAUD/SULC, a.a.O., S. 170 f.). Hilfsweise kann auf den Anteil der
zeitweise bewohnten Wohnungen gemäss Volkszählung 2000 abgestellt werden (so
auch Botschaft, S. 8761 Ziff. 2.2 und S. 8766 Ziff. 4.2).
Gestützt auf diese statistischen Grundlagen hat der Bundesrat im Anhang der
Zweitwohnungsverordnung die Gemeinden aufgelistet, von denen zu vermuten ist,
dass der Anteil der Zweitwohnungen am Gesamtbestand an Wohnungen über 20 %
liegt. Diese Vermutung kann von den Gemeinden widerlegt werden (Art. 1 Abs. 3
Zweitwohnungsverordnung). Es ist davon auszugehen, dass auch Private im
Einzelfall eine Überprüfung des Zweitwohnungsanteils einer Gemeinde
herbeiführen können, z.B. im Baubewilligungs- oder Beschwerdeverfahren.
Ist schon die 20 %-Grenze für den Gesamtbestand an Wohnungen überschritten, so
kann auf eine Ermittlung des
BGE 139 II 243 S. 256
Bruttogeschossflächenanteils der Zweitwohnungen verzichtet werden (so auch
WALDMANN, Zweitwohnungen, a.a.O., S. 134; a.M. JEANRENAUD/SULC, a.a.O., S. 168,
die beide Kriterien kumulativ anwenden wollen).

10.4 Gegen den oben umschriebenen Begriff der Zweitwohnung kann allerdings
eingewendet werden, dass sich die Initiative "Schluss mit uferlosem Bau von
Zweitwohnungen" vor allem gegen sogenannte "kalte Betten" und nicht gegen
"warme Betten" richtete. In ihrem Argumentarium gingen die Initianten davon
aus, dass Ferienwohnungen, die kommerziell vermietet werden (Parahotellerie),
keine Zweitwohnungen seien, weil sie viel stärker genutzt würden
(durchschnittlich 200 Nächte gegenüber 30 bis 60 Nächten/Jahr bei
Zweitwohnungen).
Dementsprechend geht Art. 4 lit. b Zweitwohnungsverordnung davon aus, dass
qualifiziert touristisch bewirtschaftete Zweitwohnungen weiterhin bewilligt
werden dürfen (vgl. Erläuternder Bericht, S. 11 f.; WALDMANN,
Zweitwohnungsverordnung, a.a.O., Rz. 34). Voraussetzung ist, dass die Wohnungen
nicht individuell ausgestaltet sind sowie dauerhaft und ausschliesslich zur
kurzzeitigen Nutzung durch Gäste zu marktüblichen Bedingungen angeboten werden,
sei es im Rahmen strukturierter Beherbergungsformen (Ziff. 1) oder durch den
oder die im selben Haus wohnenden Eigentümer oder Eigentümerin (Ziff. 2).
Es wird letztlich Aufgabe des Gesetzgebers sein, diese Fragen zu regeln.

10.5 Unter dem Blickwinkel des Legalitätsprinzips ergibt sich somit Folgendes:
Soweit Art. 75b Abs. 1 BV eine absolute Grenze von 20 % am
Gesamtwohnungsbestand und an der Wohnnutzfläche jeder Gemeinde festschreibt,
besteht Klarheit und Bestimmtheit des Tatbestands und der Rechtsfolge
hinsichtlich derjenigen neuen Wohnnutzungen, die unzweifelhaft unter den
Zweitwohnungsbegriff fallen und in einer Gemeinde mit eindeutig
überschiessendem Zweitwohnungsanteil beabsichtigt sind. Die so erfassten
Sachverhalte ("kalte Betten") sind relativ einfach abzugrenzen und nicht
komplex. Die mögliche Rechtsänderung wurde schon lange im Voraus publik und das
sich daraus ergebende Verbot wurde breit diskutiert; die insoweit betroffenen
Normadressaten waren bekannt. Der sofortigen Anwendbarkeit dieses "harten
Kerns" der neuen, speziellen Verfassungsnorm steht daher nichts entgegen, auch
wenn sie eine nicht unerhebliche Beschränkung der Eigentumsgarantie (Art. 26 BV
) bedeutet.
BGE 139 II 243 S. 257
Art. 75b BV bedarf aber in weiten Teilen der Konkretisierung durch
Ausführungsvorschriften. Dies gilt einerseits für die Frage, ob und unter
welchen Voraussetzungen in den betroffenen Gemeinden noch Baubewilligungen für
bestimmte, besonders intensiv genutzte Arten von Zweitwohnungen ("warme
Betten") erteilt werden dürfen. Andererseits ist klärungsbedürftig, ob und
inwieweit die Umnutzung von Erst- zu Zweitwohnungen bzw. die Erweiterung und
der Ersatz bestehender Zweitwohnungen zulässig ist.
Soweit Ausführungsrecht unabdingbar ist, um den Anwendungsbereich und die
Rechtswirkungen der Verfassungsnorm definitiv und exakt bestimmen zu können,
beschränkt sich die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 75b Abs. 1 i.V.m. Art.
197 Ziff. 9 Abs. 2 BV auf ein vorsorgliches Baubewilligungsverbot für
Zweitwohnungen in den betroffenen Gemeinden bis zum Inkrafttreten der
Ausführungsbestimmungen. Im Ergebnis kommt dieses vorsorgliche Verbot einer
Planungszone gleich. Es ist weit auszulegen, um dem Gesetzgeber nicht
vorzugreifen und eine Präjudizierung der künftigen Ausführungsbestimmungen zu
vermeiden.
Es handelt sich insoweit um eine bloss vorübergehende Einschränkung der
Eigentumsgarantie zwischen dem Abstimmungstermin und dem Erlass der
Ausführungsbestimmungen. Dieser soll innerhalb von zwei Jahren nach dem
Abstimmungstermin erfolgen (Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV). Für derartige
vorsorgliche und zeitlich beschränkte Massnahmen sind keine hohen Anforderungen
an die Bestimmtheit der Norm zu stellen.

10.6 Namentlich in diesem Punkt unterscheidet sich der vorliegende Fall
wesentlich von demjenigen, der dem Urteil BGE 139 I 16 zugrunde lag:
Die unmittelbare Anwendung der Art. 121 Abs. 3-6 BV (Ausschaffungsinitiative)
würde zu gravierenden Eingriffen in die Grundrechte der betroffenen Ausländer
führen, mit einschneidenden, i.d.R. nicht wieder gutzumachenden Nachteilen für
sie und ihre Familien; dabei stellen sich heikle völkerrechtliche Probleme. In
dieser Situation verbieten es die Grundsätze der Legalität und der
Gewaltenteilung, die neuen Verfassungsbestimmungen (ganz oder teilweise) direkt
anzuwenden, bevor der in Abs. 4 ausdrücklich damit beauftragte Gesetzgeber die
erforderliche Konkretisierung und Feinabstimmung vorgenommen hat (vgl. BGE 139
I 16 E. 4.3.4 S. 27 f.).
BGE 139 II 243 S. 258
Im Übrigen richtet sich auch die Übergangsbestimmung zu Art. 121 BV (Art. 197
Ziff. 8 BV) ausschliesslich an den Gesetzgeber und sieht - anders als Art. 197
Ziff. 9 Abs. 2 BV - keine unmittelbaren Rechtsfolgen vor.

10.7 Die vorliegend zu beurteilende Rechtslage ist dagegen mit derjenigen nach
Annahme der Rothenthurm-Initiative am 6. Dezember 1987 vergleichbar. Damals
wurde Art. 24^sexies Abs. 5 mit folgendem Wortlaut in die damalige
Bundesverfassung (aBV) eingefügt:
^5 Moore und Moorlandschaften von besonderer Schönheit und von nationaler
Bedeutung sind Schutzobjekte. Es dürfen darin weder Anlagen gebaut noch
Bodenveränderungen irgendwelcher Art vorgenommen werden. Ausgenommen sind
Einrichtungen, die der Aufrechterhaltung des Schutzzweckes und der bisherigen
landwirtschaftlichen Nutzung dienen.
Die Übergangsbestimmung sah vor, dass schutzzweckwidrige Anlagen, Bauten und
Bodenveränderungen, die nach dem 1. Juni 1983 erstellt worden waren, zu Lasten
der Ersteller abgebrochen und rückgängig gemacht werden müssten. Sie entfaltete
somit (ähnlich Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV) direkte Rechtsfolgen für Private und
Gemeinwesen.
Rechtsprechung und Literatur gingen übereinstimmend davon aus, dass Art. 24^
sexies Abs. 5 aBV ein unmittelbar anwendbares, eigentümerverbindliches,
absolutes Veränderungsverbot enthalte (BGE 117 Ib 237 E. 2b S. 246 f.; BGE 118
Ib 11 E. 2e S. 15; BGE 123 II 248 E. 3a/aa S. 251; BGE 127 II 184 E. 5b/aa S.
192; Urteile 1A.178/1991 vom 17. Dezember 1992 E. 2a, in: ZBl 94/1993 S. 522;
1A.42/1994 vom 29. November 1994 E. 1a, in: ZBl 97/1996 S. 122, URP 1996 S. 364
und RDAF 1997 I S. 459 und 505; THOMAS FLEINER-GERSTER, Kommentar zur
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Stand Oktober 1989, N.
47 zu Art. 24^sexies BV; BERNHARD WALDMANN, Der Schutz von Mooren und
Moorlandschaften, 1997, S. 70 ff.; JEAN-BAPTISTE ZUFFEREY, in: Kommentar NHG,
Allg. Teil, Keller/Zufferey/Fahrländer [Hrsg.], 1997, 2. Kap. Rz. 91 f.).
Allerdings mussten die Moorbiotope und Moorlandschaften von besonderer
Schönheit und nationaler Bedeutung erst noch durch ein Inventar des Bundes
bezeichnet und von den Kantonen parzellenscharf abgegrenzt werden. Art. 24^
sexies Abs. 5 aBV wurde daher - bis zur definitiven Festlegung der
Schutzobjekte - bei der Prüfung aller Projekte angewandt, die möglicherweise
ein Schutzobjekt berühren und den Moor- oder Moorlandschaftsschutz negativ
präjudizieren
BGE 139 II 243 S. 259
könnten (Urteil 1A.237/1992 vom 21. Dezember 1993 E. 5c mit Hinweisen). Dabei
wurde vorläufig - bis zur definitiven Inventarisierung - eine grosszügige
Abgrenzung der Moorlandschaften zugrunde gelegt (Urteil 1A.178/1991 vom 17.
Dezember 1992 E. 3, in: ZBl 94/1993 S. 522). Später schützte das Bundesgericht
eine restriktivere Abgrenzung der fraglichen Moorlandschaft durch Bundesrat und
Kanton (BGE 127 II 184 E. 5 S. 190 ff.).

10.8 Wie die vorstehenden Erwägungen zeigen, ist es grundsätzlich möglich, den
örtlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Baubewilligungsverbots gemäss
Art. 75 Abs. 1 i.V.m. Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV zu bestimmen, ohne dem
Gesetzgeber vorzugreifen und dessen Gestaltungsspielraum unnötig einzuengen.
Sofern es um klassische Ferienwohnungen in Tourismusgebieten geht, ist die
Qualifikation als Zweitwohnung ohnehin unstreitig.
Dies belegt der vorliegende Fall: Bereits das Verwaltungsgericht hat im
angefochtenen Entscheid festgehalten, dass der Zweitwohnungsanteil der Gemeinde
Breil/Brigels über 20 % liege, unabhängig davon, ob ein weiter oder enger
Zweitwohnungsbegriff zugrunde gelegt wird. Die streitige Baute soll im Rahmen
einer Ferienresidenz erstellt werden. Die Beschwerdegegnerin macht selbst nicht
geltend, dass eine touristische Bewirtschaftung der Wohnungen vorgesehen sei.

11. Streitig ist jedoch der zeitliche Anwendungsbereich dieses
Baubewilligungsverbots.

11.1 Nach der bundesgerichtlichen Praxis ist die Rechtmässigkeit von
Verwaltungsakten (mangels einer anderslautenden übergangsrechtlichen Regelung)
grundsätzlich nach der Rechtslage im Zeitpunkt ihres Ergehens zur beurteilen.
Später eingetretene Rechtsänderungen sind nur ausnahmsweise zu berücksichtigen,
wenn zwingende Gründe für die sofortige Anwendung des neuen Rechts sprechen (
BGE 135 II 384 E. 2.3 S. 390; BGE 125 II 591 E. 5e/aa S. 598; je mit Hinweisen;
so auch HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2010, S.
71 Rz. 327; TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl.
2009, S. 190 f. Rz. 20 f.; MOOR/FLÜCKIGER/MARTENET, Droit administratif, Bd. I,
2012, S. 187 f. und 194 f.). Zwingende Gründe für eine sofortige Anwendung des
neuen Rechts hat das Bundesgericht insbesondere im Bereich des Gewässer-,
Natur-, Heimat- und Umweltschutzrechts als gegeben erachtet (BGE 135 II 384 E.
2.3 S. 390).
BGE 139 II 243 S. 260
Art. 75b BV ist am 11. März 2012 in Kraft getreten (Art. 195 BV, Art. 15 Abs. 3
BPR). Nach den allgemeinen Grundsätzen ist die Bestimmung (vorbehältlich einer
abweichenden Regelung) auf alle Baubewilligungen anwendbar, die ab diesem Datum
erteilt worden sind. Dementsprechend ging das Bundesgericht in zwei Urteilen
vom 14. Dezember 2012 (1C_215/2012 E. 2.4 und 1C_159/2012 E. 6.2) davon aus,
dass Art. 75b BV nicht auf Bauvorhaben anwendbar sei, die vor dem 11. März 2012
kantonal letztinstanzlich beurteilt worden waren; eine erstmalige Anwendung von
Art. 75b BV im Verfahren vor Bundesgericht rechtfertige sich nicht.

11.2 Eine rechtswidrige Verfügung ist im Allgemeinen anfechtbar. Eine
Baubewilligung, die geltendem Recht widerspricht, wird somit auf Rekurs oder
Beschwerde von der zuständigen Rechtsmittelbehörde aufgehoben. Wird sie nicht
angefochten, so wird sie rechtskräftig. Der Widerruf einer rechtskräftigen
Baubewilligung ist nur ausnahmsweise, unter qualifizierten Voraussetzungen,
möglich und kann u.U. Entschädigungsfolgen nach sich ziehen (BGE 115 Ib 152 E.
3a S. 155 mit Hinweisen; HALLER/KARLEN, Raumplanungs-, Bau- und Umweltrecht,
Bd. I, 3. Aufl. 1999, S. 225 Rz. 821-826).
Von der Anfechtbarkeit zu unterscheiden ist die Nichtigkeit einer Verfügung.
Nichtigen Verfügungen geht jede Verbindlichkeit und Rechtswirksamkeit ab. Die
Nichtigkeit ist jederzeit und von sämtlichen staatlichen Instanzen von Amtes
wegen zu beachten. Nach der Rechtsprechung ist eine Verfügung nur ausnahmsweise
nichtig, wenn der ihr anhaftende Mangel besonders schwer und offensichtlich
oder zumindest leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die Annahme
der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Als Nichtigkeitsgrund fallen
hauptsächlich funktionelle und sachliche Unzuständigkeit einer Behörde sowie
schwerwiegende Verfahrensfehler in Betracht (BGE 132 II 21 E. 3.1 S. 27 mit
Hinweisen).

11.3 Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV bestimmt, dass Baubewilligungen für
Zweitwohnungen, die zwischen dem 1. Januar 2013 und dem Inkrafttreten der
Ausführungsbestimmungen erteilt werden, nichtig sind. Was mit Baubewilligungen
geschehen soll, die nach Inkrafttreten von Art. 75b BV am 11. März 2012, aber
vor dem 1. Januar 2013 erteilt wurden, ist nicht ausdrücklich geregelt und
deshalb auslegungsbedürftig.
Nach den oben dargelegten allgemeinen Grundsätzen führt eine Verletzung von
Art. 75b Abs. 1 BV zur Anfechtbarkeit von
BGE 139 II 243 S. 261
Baubewilligungen, die seit Inkrafttreten der Norm am 11. März 2012 erteilt
worden sind. Vor diesem Hintergrund kann Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV als eine
Verschärfung der Rechtsfolge (Nichtigkeit statt Anfechtbarkeit) ab dem 1.
Januar 2013 verstanden werden. Für den Zeitraum davor bleibt es bei der
Anfechtbarkeit verfassungswidriger Baubewilligungen.
Es wird aber auch die Auffassung vertreten, der Verfassungsgeber habe mit
dieser Regelung nicht nur die Rechtsfolge verschärfen, sondern auch eine
spezielle intertemporale Regelung treffen wollen, wonach Art. 75b Abs. 1 BV
erst auf Baubewilligungen anwendbar sei, die ab dem 1. Januar 2013 erteilt
werden. Diese Auslegung wurde insbesondere von den Verwaltungsgerichten
Graubünden, Wallis und Waadt gewählt (vgl. oben E. 2 und 3). Sie hätte zur
Folge, dass Baubewilligungen für Zweitwohnungen bis zum 31. Dezember 2012 noch
nach altem Recht erteilt werden durften.

11.4 Die Übergangsbestimmungen der Initiative wurden im Vorfeld der Abstimmung
kaum thematisiert (die Ausführungen des Bundesrats in den
Abstimmungserläuterungen S. 7 betreffen den indirekten Gegenvorschlag, d.h. die
Übergangsbestimmungen zur Änderung des RPG vom 17. Dezember 2010).
Allerdings gingen die Bundesbehörden und die Gegner der Initiative
übereinstimmend davon aus, dass deren Annahme zu einem sofortigen Baustopp für
Zweitwohnungen in zahlreichen Gemeinden führen würde. So schrieb der Bundesrat
in den Abstimmungserläuterungen (S. 12; Hervorhebung nicht im Original):
"Die Initiative ist zu starr. Die Beschränkung der Zweitwohnungen auf einen
fixen Anteil von 20 Prozent aller Wohnungen würde in zahlreichen Gemeinden zu
einem abrupten Baustopp führen".
Im Dossier 08.073 der Bundesversammlung "Argumentarien contra" zur
Volksinitiative "Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen" (Stand 20.
Januar 2012, S. 4 unten) wurde ausgeführt:
"Die Initiative würde ein sofortiges Umnutzungsverbot von Erst- in
Zweitwohnungen und einen Baustopp für neue Zweitwohnungen bewirken".
Ähnlich argumentierte Economiesuisse in ihrer Medienmitteilung vom 24. Februar
2012 (Zweitwohnungsinitiative trifft strukturschwache Regionen ins Mark):
"Der Zweitwohnungsanteil soll in allen Gemeinden der Schweiz auf maximal 20
Prozent beschränkt werden. In Regionen, die vom Tourismus leben, ist der Anteil
jedoch weit höher. Ein sofortiger Baustopp würde die
BGE 139 II 243 S. 262
Tourismuskantone Wallis, Graubünden, Tessin und Bern empfindlich treffen. 136
der 175 Bündner Gemeinden - davon 80 in strukturschwachen Regionen - dürften
keine Zweitwohnungen mehr errichten".
Diesen Argumenten widersprachen die Initianten nicht etwa mit Hinweis auf eine
Schon- oder Übergangsfrist für die Bewilligung von Zweitwohnungen nach Annahme
der Initiative; im Gegenteil: In ihrem Argumentarium hoben sie hervor, dass die
Initiative dem uferlosen Bau von Zweitwohnungen wirksam entgegentrete und ihre
Annahme bedeute, dass in Gemeinden mit über 20 % Zweitwohnungen keine weiteren
Zweitwohnungen mehr gebaut oder Erstwohnungen in Zweitwohnungen umgenutzt
werden könnten.
Unter diesen Umständen mussten die Stimmbürger (auch als juristische Laien) mit
der sofortigen Anwendung der Initiative im Falle ihrer Annahme rechnen. Es kann
daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Abstimmung ohne die
Übergangsbestimmung in Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV anders ausgefallen wäre.

11.5 Für die sofortige Anwendung der neuen Verfassungsbestimmungen sprechen
auch Sinn und Zweck der Initiative. Wie bereits ihr Titel ("Schluss mit
uferlosem Bau von Zweitwohnungen!") besagt, soll die Zerstörung von Natur und
Landschaften durch den Zweitwohnungsbau beendet werden. Dieser Zweck würde
verfehlt, wenn Zweitwohnungen noch während einer Übergangsfrist von bis zu
einem Jahr (je nach Festsetzung des Abstimmungsdatums) nach altem Recht erteilt
werden dürften. Es war vorhersehbar, dass eine derartige Übergangsfrist zu
einer Flut von Baugesuchen und -bewilligungen kurz vor Jahreswechsel führen
würde. Die Initianten erhoben denn auch sofort nach der Abstimmung systematisch
Einsprache gegen Baubewilligungen für Zweitwohnungen in Tourismusgemeinden.

11.6 Nach dem Gesagten ist davon auszugehen, dass Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV
keine Übergangsfrist für die Weiteranwendung des bisherigen Rechts enthält,
sondern ab dem 1. Januar 2013 bis zum Inkrafttreten der Ausführungsgesetzgebung
eine verschärfte Rechtsfolge anordnet (Nichtigkeit statt Anfechtbarkeit).
Dadurch wird Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt, die Initiative möglichst rasch
und wirksam umzusetzen. Würde das Ausführungsgesetz zu viele Ausnahmen
zulassen, könnten die Initianten dagegen das Referendum ergreifen, ohne
befürchten zu müssen, dass in der Zwischenzeit Baubewilligungen für
Zweitwohnungen in den betroffenen Gemeinden
BGE 139 II 243 S. 263
erteilt und rechtskräftig werden könnten. Bei dieser Zielsetzung macht es Sinn,
die schwerwiegende Nichtigkeitsfolge erst zu einem Zeitpunkt eintreten zu
lassen, in dem frühestens ein Ausführungsgesetz vorliegen könnte, d.h. am 1.
Januar des auf die Annahme von Art. 75b BV folgenden Jahres.
Für den Zeitraum davor bleibt es dagegen bei den normalen Rechtsfolgen:
Baubewilligungen, die nach dem 11. März 2012 und vor dem 1. Januar 2013 erteilt
wurden, sind anfechtbar. Werden sie nicht angefochten, erwachsen sie in
Rechtskraft und können (vorbehältlich ihres Widerrufs) ausgenützt werden.
Baubewilligungen, die vor dem 11. März 2012 erstinstanzlich erteilt wurden,
fallen nicht unter die neuen Verfassungsbestimmungen und bleiben gültig,
unabhängig vom Zeitpunkt, in dem sie rechtskräftig geworden sind.

11.7 Eine andere Auslegung erscheint auch nicht unter den Aspekten von Treu und
Glauben und des Vertrauensschutzes geboten. Besonderen Situationen des
Vertrauensschutzes kann im Einzelfall im Baubewilligungsverfahren Rechnung
getragen werden (vgl. auch BGE 139 II 263).