Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 III 98



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Urteilskopf

139 III 98

14. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Demokratische
Juristinnen und Juristen Zürich (DJZ) und Mitb. gegen Kanton Zürich und
Kantonsrat des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
5C_2/2012 vom 17. Dezember 2012

Regeste

Art. 450 Abs. 1 ZGB; Beschwerde beim zuständigen Gericht; Regelung im Kanton
Zürich.
Der Zürcher Bezirksrat darf im zivilrechtlichen Bereich als Gericht im
materiellen Sinn anerkannt und vom kantonalen Recht als Beschwerdeinstanz
gegenüber Entscheiden der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde bezeichnet
werden (E. 3 und 4).

Sachverhalt ab Seite 98

BGE 139 III 98 S. 98
Die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB; SR 210) vom 19.
Dezember 2008 betreffend Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht
(nArt. 360 ff. ZGB; AS 2011 725) wird auf den 1. Januar 2013 in Kraft treten
(AS 2011 767). Im Kanton Zürich regelt das Einführungsgesetz vom 25. Juni 2012
zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (EG KESR; LS 232.3) die Organisation und
die Zuständigkeit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) und die
Aufsicht über diese Behörde (§ 1 lit. a EG KESR) sowie das Verfahren vor der
KESB und den gerichtlichen
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Beschwerdeinstanzen (§ 1 lit. d EG KESR). Im Einzelnen ist Folgendes
vorgesehen:
§ 13. Die vom Regierungsrat bezeichnete Direktion ist Aufsichtsbehörde über die
KESB gemäss Art. 441 Abs. 1 ZGB.
§ 14. Der Bezirksrat beaufsichtigt Wohn- und Pflegeeinrichtungen gemäss Art.
387 ZGB, soweit das Gesetz keine andere Behörde für zuständig erklärt.
§ 62. ^1 Beschwerden betreffend fürsorgerische Unterbringung (Art. 426 ff. ZGB)
werden in erster Instanz vom Einzelgericht gemäss § 30 GOG beurteilt.
^2 Für Beschwerden gegen Entscheide der KESB richtet sich die örtliche
Zuständigkeit nach Art. 442 ZGB. Für Beschwerden gegen ärztlich angeordnete
Unterbringungen und gegen Entscheide von Einrichtungen gemäss Art. 439 Abs. 1
ZGB ist das Einzelgericht am Ort der Einrichtung zuständig.
§ 63. ^1 Beschwerden gemäss Art. 450 Abs. 1 ZGB werden in erster Instanz vom
Bezirksrat beurteilt. Zuständig ist
a) die Bezirksratspräsidentin oder der Bezirksratspräsident bei Entscheiden,
die ein einzelnes Mitglied der KESB getroffen hat,
b) der Bezirksrat in den übrigen Fällen; er entscheidet in Dreierbesetzung.
^2 Vorbehalten bleiben die vom Einzelgericht gemäss § 30 GOG zu beurteilenden
Beschwerden betreffend fürsorgerische Unterbringung.
§ 64. Für Beschwerden gegen Entscheide des Bezirksrates und des Einzelgerichts
gemäss § 30 GOG ist das Obergericht zuständig.
Der Verein Demokratische Juristinnen und Juristen Zürich (DJZ), Y. und Z.
(Beschwerdeführer) haben eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten erhoben. Sie beantragen dem Bundesgericht, § 63 Abs. 1 EG KESR
aufzuheben. Der Kanton Zürich, vertreten durch den Regierungsrat, hat auf eine
Vernehmlassung verzichtet. Der Kantonsrat des Kantons Zürich beantragt die
Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es
darauf eintritt.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Ab 1. Januar 2013 gilt gemäss nArt. 450 Abs. 1 ZGB, dass gegen Entscheide
der Erwachsenenschutzbehörde Beschwerde beim zuständigen Gericht erhoben werden
kann. Als Beschwerdeinstanz hat der kantonale Gesetzgeber den Bezirksrat
eingesetzt. Zu prüfen ist, ob die Zuständigkeitsordnung mit der
bundesgesetzlichen Regelung des
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Erwachsenenschutzes und dabei namentlich mit nArt. 450 Abs. 1 ZGB als vereinbar
erscheint.

3.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der
Text nicht klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach
seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller
Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinns und der dem Text zu Grunde
liegenden Wertungen. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext
zukommt. Vom klaren, das heisst eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut
darf ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür vorliegen,
dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche
Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Sinn
und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (vgl. BGE
138 II 105 E. 5.2 S. 107 f.; BGE 138 III 166 E. 3.2 S. 168 und 359 E. 6.2 S.
361). Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Gesetzesmaterialien eine
besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes
Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (vgl. BGE 133 III 497 E.
4.1 S. 499; BGE 137 III 470 E. 6.5.2 S. 472).

3.2 Nach nArt. 450 Abs. 1 ZGB kann gegen Entscheide der
Erwachsenenschutzbehörde Beschwerde "beim zuständigen Gericht" ("devant le juge
compétent"; "davanti al giudice competente") erhoben werden. Der Wortlaut ist
insoweit klar. Gewisse Zweifel daran begründet allerdings die
Zuständigkeitsregelung in nArt. 441 ZGB, wonach die Kantone "die
Aufsichtsbehörden" ("la ou les autorités de surveillance"; "le autorità di
vigilanza") bestimmen (Abs. 1) und der Bundesrat Bestimmungen über die Aufsicht
erlassen kann (Abs. 2). Aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich dazu
Folgendes:

3.2.1 In Übereinstimmung mit dem Wortlaut von nArt. 450 Abs. 1 ZGB verlangte
der Vorentwurf (VE) in Art. 444, dass die Kantone die Aufsichtsbehörden
bestimmen (Abs. 1), dass über Beschwerden ein Gericht entscheidet (Abs. 2) und
dass der Bundesrat Bestimmungen über die Aufsicht erlässt (Abs. 3). Die
Formulierung "Über Beschwerden entscheidet ein Gericht" (Art. 444 Abs. 2 VE)
steht vor dem Hintergrund, dass nach der Idee der Expertenkommission bereits
die Erwachsenenschutzbehörde ein "Fachgericht" (Art. 443 Abs. 1 VE) sein sollte
und deshalb über Beschwerden gegen Entscheide der Erwachsenenschutzbehörde
wiederum ein Gericht befinden sollte. Der Begriff des Gerichts wurde allerdings
nicht im
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formellen, sondern im materiellen Sinn verstanden, wonach jedes auf Gesetz
beruhende Organ, das unabhängig und nicht weisungsgebunden arbeitet sowie den
Sachverhalt selber ermittelt, Gericht ist (Erwachsenenschutz, Bericht zum
Vorentwurf, Juni 2003, S. 19 und 79 f.).

3.2.2 Die Vorgabe, dass die Erwachsenenschutzbehörde ein "Gericht" sein müsse,
stiess im Vernehmlassungsverfahren auf Ablehnung. Es wurde eingewendet, dass
die notwendige Professionalität auch mit einer Fachbehörde gewährleistet werden
könne, die eine Verwaltungsbehörde sei. Der bundesrätliche Entwurf (E) trug der
Kritik Rechnung und schrieb nur eine "Fachbehörde" als Erwachsenenschutzbehörde
vor (Art. 440 E). Er verzichtete auf die ausdrückliche Vorschrift, dass über
Beschwerden ein Gericht entscheidet, und gestattete den Kantonen,
"Aufsichtsbehörden" zu bestimmen (Art. 441 Abs. 1 E), d.h. weiterhin,
entsprechend dem bisherigen Recht, zwei Aufsichtsbehörden einzusetzen und das
heutige System beizubehalten. In der Botschaft wird dazu ausgeführt, da die
Erwachsenenschutzbehörde künftig eine Fachbehörde sei und es bei der Anordnung
von Massnahmen um Eingriffe in das Grundrecht der persönlichen Freiheit gehe,
sollten ihre Entscheide nicht mehr an eine Verwaltungsbehörde weitergezogen
werden können. Vielmehr sollten sie im Rechtsmittelverfahren direkt von dem
Gericht beurteilt werden, das vom kantonalen Recht bezeichnet werde. Den
Kantonen stehe es frei, das für Beschwerden zuständige Gericht mit der
allgemeinen Aufsicht zu betrauen oder zwei gerichtliche Rechtsmittelinstanzen
vorzusehen. Mit dem Begriff "Gericht" sei nicht zwingend ein formelles Gericht
gemeint. Vielmehr gehe es darum, dass das Organ den Anforderungen von Art. 6
Ziff. 1 EMRK genüge. Es müsse unabhängig und unparteiisch sein, die
rechtserheblichen Tatsachen selber ermitteln, die einschlägigen Rechtsnormen
auf diesen Sachverhalt anwenden und einen verbindlichen Entscheid fällen.
Verlangt werde dagegen nicht, dass das Gericht nur aus Berufsrichterinnen und
Berufsrichtern bestehe (vgl. Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Änderung des
Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Erwachsenenschutz, Personenrecht und
Kindesrecht], BBl 2006 7001, 7010 f. Ziff. 1.2.4 und 7074 zu Art. 441 E).

3.2.3 Entgegen der Darstellung der Beschwerdeführer haben die Eidgenössischen
Räte den vom Bundesrat vorgelegten Text nicht in Unkenntnis der Frage nach der
richtigen Behördenorganisation verabschiedet. Die Regelung über die
Erwachsenenschutzbehörde und
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damit die Behördenorganisation insgesamt war einer der kritischen Punkte - wie
zuvor im Vorentwurf - auch der bundesrätlichen Vorlage. Im Ständerat als
Erstrat wiesen die Kommissionssprecher auf die Vielfalt der kantonalen Lösungen
hin, die es zu beachten gelte (vgl. insbesondere das Votum Bonhôte, AB 2007 S
821 f.). Den einschlägigen Bestimmungen (Art. 440 ff. E) wurde unter Hinweis
auf die Autonomie der Kantone in der Behördenorganisation alsdann zugestimmt
(AB 2007 S 840 f.). Vorab wegen der vorgeschlagenen Behördenorganisation und
dem damit verbundenen Eingriff in einen kantonalen Zuständigkeitsbereich wurden
im Nationalrat erfolglos ein Rückweisungsantrag (AB 2008 N 1510-1514) und
mehrere Abänderungsanträge (AB 2008 N 1535-1539) gestellt, die bundesrätliche
Vorlage zum Schluss aber angenommen. In praktisch sämtlichen Wortmeldungen von
Befürwortern und Gegnern wurde dabei die Autonomie der Kantone in der
Organisation ihrer Behörden hervorgehoben.

3.3 Der Schluss aus den Gesetzesmaterialien, dass die Kantone nicht gezwungen
werden wollten, als Beschwerdeinstanz gemäss nArt. 450 Abs. 1 ZGB ein Gericht
im formellen Sinne einzusetzen, wird im Schrifttum - soweit es sich äussert -
mehrheitlich unwidersprochen wiedergegeben (vgl. VOGEL/WIDER, Das neue
Erwachsenenschutzrecht, Zeitschrift für Vormundschaftswesen [ZVW] 64/2009 S. 73
ff., 77 Ziff. 3.2; HAUSHEER/GEISER/AEBI-MÜLLER, Das neue
Erwachsenenschutzrecht, 2010, S. 18 N. 1.65; HERMANN SCHMID, Erwachsenenschutz,
Kommentar, 2010, N. 10 zu nArt. 450 ZGB; MEIER/LUKIC, Introduction au nouveau
droit de la protection de l'adulte, 2011, S. 44 N. 95; PATRICK FASSBIND, in:
ZGB, Schweizerisches Zivilgesetzbuch, 2. Aufl. 2011, N. 1 zu nArt. 441 und N. 1
zu nArt. 450 ZGB; Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht, Hrsg. KOKES, 2012,
Rz. 1.83 S. 28; COTTIER/STECK, Das Verfahren vor der Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde, FamPra.ch 2012 S. 981 ff., 988 Ziff. III/2 bei/in
Anm. 52).

3.4 Vom Schluss aus den Gesetzesmaterialien abzuweichen, besteht auch insoweit
kein Grund, als das Bundesgericht für die Beurteilung der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung durch ein "Gericht" (Art. 397d ZGB in der Fassung von 1978/
81) festgehalten hat, dass der Bundesgesetzgeber von einem materiellen Begriff
des Gerichts ausgeht und dass es für die Frage, ob die Psychiatrische
Gerichtskommission ein Gericht im Sinne des Bundesrechts ist, demnach
ausschliesslich darauf ankommt, ob sie die erforderliche Unabhängigkeit besitzt
(vgl.
BGE 139 III 98 S. 103
BGE 108 Ia 178 E. 4b S. 186 f.). Die Auslegungsregel gemäss Art. 54 Abs. 2
SchlT ZGB, dass die Kantone nur ein Gericht als zuständig bezeichnen dürfen, wo
das Gesetz ausdrücklich von einem Gericht spricht (vgl. BGE 118 Ia 473 E. 5b S.
479), führt zu keinem anderen Ergebnis, da auch nach dem materiellen Begriff
des Gerichts ein Gericht im Gesetzessinne vorliegt.

3.5 Aus den dargelegten Gründen erweist sich die Beschwerde als unbegründet,
soweit sinngemäss der Vorrang des Bundesrechts als verletzt gerügt wird. Der
Bundesgesetzgeber verlangt von den Kantonen nicht, dass sie ein Gericht im
formellen Sinne als Beschwerdeinstanz gegenüber Entscheiden der KESB einsetzen
(Art. 49 Abs. 1 BV; vgl. BGE 129 I 330 E. 3.1 S. 334).

4. Genügt ein Gericht im materiellen Sinne als Beschwerdeinstanz gemäss nArt.
450 Abs. 1 ZGB, bleibt doch die Frage, ob der Bezirksrat die Anforderungen der
Europäischen Menschenrechtskonvention und der Bundesverfassung an ein Gericht
erfüllt.

4.1 Im Kapitel über die Behörden nennt die Verfassung des Kantons Zürich vom
27. Februar 2005 (KV; SR 131.211) nach dem Kantonsrat (Art. 50 ff.), dem
Regierungsrat (Art. 60 ff.) und der Rechtspflege (Art. 73 ff.) als weitere
Behörden die Statthalterin oder den Statthalter, den Bezirksrat und die
gerichtlichen Instanzen des Bezirks, die von den Stimmberechtigten des Bezirks
gewählt werden und die Aufgaben erfüllen, die ihnen das Gesetz überträgt,
insbesondere solche der Aufsicht, der Rechtsprechung und der Verwaltung (Art.
80 KV). Der Bezirksrat und dessen Präsident, der Statthalter, sind Behörden,
die auf Entwicklungen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zurückgehen und
sich als alte Institutionen nur schlecht in die gewaltenteilige Welt des
heutigen Rechtsstaats einfügen. Als Vertreter der Regierung im Bezirk kam dem
Statthalter "namentlich die Vollziehung der Aufträge des Regierungsrates zu"
(Art. 45 Abs. 2 der Verfassung von 1869). Er und der Bezirksrat überwachten vor
Ort die Gemeinden und nahmen verschiedenste vorab öffentlich-rechtliche
Aufsichts- und Entscheidfunktionen für den Kanton auf Bezirksebene wahr (vgl.
HANS STRÄULI, Verfassung des eidgenössischen Standes Zürich vom 18. April 1869,
1902, S. 184 ff.). Weil der Statthalter bzw. der Bezirksrat stets auch
Justizfunktionen ausgeübt hat und nach dem Willen des Gesetzgebers weiterhin
ausüben soll, wurde das Verfahren vor seiner Instanz rechtsstaatlich zunehmend
einwandfrei ausgestaltet und seine Unabhängigkeit von der Verwaltung
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zunehmend gestärkt. Grundlage ist heute das Bezirksverwaltungsgesetz vom 10.
März 1985 (BezVG; LS 173.1). Statthalter und Bezirksrat sind danach beim
Entscheid über ein Rechtsmittel an keine Weisungen gebunden, ausgenommen bei
der Rückweisung durch eine höhere Instanz (§ 3 BezVG). Trotz der gesetzlich
zuerkannten Unabhängigkeit in der Rechtsprechung geht die Lehre davon aus, dem
Bezirksrat bzw. dem Statthalter komme die für eine gerichtliche Instanz
erforderliche Unabhängigkeit kaum zu. Er nehme Verwaltungs- und
Aufsichtsfunktionen wahr und sei in diesem Bereich weisungsgebunden. Die
Kumulation von Kompetenzen könne zur Folge haben, dass der Bezirksrat bzw. der
Statthalter in der gleichen Angelegenheit einerseits als unabhängige
Rechtsmittelinstanz und andererseits als Aufsichtsbehörde tätig werde, was sich
mit der gerichtlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK kaum
vereinbaren lasse (vgl. KÖLZ/BOSSHART/RÖHL, Kommentar zum
Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl. 1999, N. 26 zu § 4
und N. 82 zu § 19 VRG; EVI SCHWARZENBACH, in: Kommentar zur Zürcher
Kantonsverfassung, Häner/Rüssli/Schwarzenbach [Hrsg.], 2007, N. 9 zu Art. 80 KV
/ZH). Weil nArt. 450 ZGB als Beschwerdeinstanz ein Gericht verlange, dürfte die
Bezeichnung des Bezirksrates als erste Beschwerdeinstanz bundesrechtswidrig
sein (vgl. JAAG/RÜSSLI, Staats- und Verwaltungsrecht des Kantons Zürich, 4.
Aufl. 2012, N. 2005a S. 149).

4.2 Jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden
muss, hat gemäss Art. 30 Abs. 1 BV Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes,
zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Laut Art. 6 Ziff. 1 EMRK
hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre
zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von einem unabhängigen und
unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren
verhandelt wird. Als Gericht im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK bzw. von Art. 30
Abs. 1 BV gilt eine Behörde, die nach Gesetz und Recht in einem justizförmigen,
fairen Verfahren begründete und bindende Entscheidungen über Streitfragen
trifft. Sie braucht nicht in die ordentliche Gerichtsstruktur eines Staates
eingegliedert zu sein, muss jedoch organisatorisch und personell, nach der Art
ihrer Ernennung, der Amtsdauer, dem Schutz vor äusseren Beeinflussungen und
nach ihrem äusseren Erscheinungsbild sowohl gegenüber anderen Behörden als auch
gegenüber den Parteien unabhängig und unparteiisch sein (vgl. BGE 126 I 228 E.
2a/bb S. 230 f.). Nebst den
BGE 139 III 98 S. 105
Merkmalen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gehört zu seinem Wesen, dass
ein Gericht die rechtserheblichen Tatsachen selber erhebt, die Rechtssätze auf
diesen in einem rechtsstaatlichen Verfahren ermittelten Sachverhalt anwendet
und für die Parteien bindende Entscheidungen in der Sache fällt (vgl. BGE 118
Ia 473 E. 5a S. 478; BGE 124 II 58 E. 1c S. 63). Es muss über umfassende
Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht verfügen (vgl. BGE 123 I 87
E. 3a S. 90; BGE 126 I 33 E. 2a S. 34 und 144 E. 3c S. 152).

4.3 Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Bezirksrates sowie sein Wesen
zeigen sich in der gesetzlichen Ausgestaltung wie folgt:

4.3.1 Der Statthalter als Präsident und die weiteren Mitglieder des
Bezirksrates werden von den Stimmberechtigten des Bezirks gewählt (Art. 80 KV
und § 9 BezVG). Die Amtsdauer beträgt vier Jahre (Art. 41 Abs. 1 KV und § 32
Abs. 1 des Gesetzes vom 1. September 2003 über die politischen Rechte [GPR; LS
161]). Grundsätzlich dürfen die Mitglieder des Bezirksrates bzw. der
Statthalter nicht gleichzeitig Mitglieder einer anderen Behörde innerhalb
desselben Bezirks sein (§ 25 Abs. 2 lit. b GPR). Unvereinbarkeit besteht ferner
als Mitglied eines Gemeindeorgans und als vollamtliches oder teilamtliches
Mitglied des Verwaltungsgerichts (§ 27 Abs. 1 lit. b GPR). Der Statthalter bzw.
der Bezirksrat ist in der Rechtsprechung unabhängig (§ 3 BezVG) und hat als
Beschwerdeinstanz gegenüber Entscheiden der KESB (§ 63 Abs. 1 EG KESR) die
gesetzlichen Ausstandsgründe zu beachten (nArt. 450f ZGB i.V.m. Art. 47 der
Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO; SR 272]).

4.3.2 Mit der Beschwerde kann gemäss nArt. 450a Abs. 1 ZGB Rechtsverletzung
(Ziff. 1) und Unangemessenheit (Ziff. 3) gerügt werden. Statthalter und
Bezirksrat sind als Beschwerdeinstanz in der rechtlichen Beurteilung frei.
Soweit die Behauptung zutrifft, einzelne Mitglieder der Bezirksräte verfügten
über keine oder keine ausreichende juristische Ausbildung, ist festzuhalten,
dass weder Art. 30 Abs. 1 BV noch Art. 6 Ziff. 1 EMRK das Laienrichtertum
grundsätzlich verbieten (vgl. REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, 2001,
S. 264 f.; FROWEIN/PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention,
EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 210 zu Art. 6 EMRK; je mit Hinweisen). Dass
einem Mitglied des Bezirksrates ohne juristische Ausbildung ein juristisch
ausgebildeter Ratsschreiber zur Seite steht, begründet für sich allein keine
unzulässige Abhängigkeit, sondern eine willkommene Hilfe (vgl. BGE 134 I 16 E.
4.3 S. 19).
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4.3.3 In tatsächlicher Hinsicht kann mit der Beschwerde die unrichtige oder
unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden
(nArt. 450a Abs. 1 Ziff. 2 ZGB). Mit Bezug auf die Ermittlung des Sachverhalts
wird eingewendet, der Bezirksrat sei nicht zur Einvernahme von Zeugen befugt
und könne deshalb nicht als unabhängiges Gericht gelten. Der Hinweis auf § 26c
des Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 24. Mai 1959 (VRG; LS 175.2) und dessen
Entstehungsgeschichte ist indessen nicht stichhaltig. Das Verfahren vor den
gerichtlichen Beschwerdeinstanzen richtet sich gemäss § 40 EG KESR zuerst nach
den Bestimmungen des ZGB und dieses Gesetzes (Abs. 1), in zweiter Linie nach
den Bestimmungen des GOG (LS 211.1; Abs. 2) und subsidiär nach den sinngemäss
anwendbaren Bestimmungen der ZPO (Abs. 3). Laut Antrag und Weisung des
Regierungsrates vom 31. August 2011 wurde ausdrücklich darauf verzichtet,
zusätzlich die Bestimmungen des Verwaltungsrechtspflegegesetzes für anwendbar
zu erklären (Amtsblatt [ABl] 2011 2611 f. und 2654 zu § 41 Abs. 3). Die
Befugnis zur Einvernahme von Zeugen wurde dem Bezirksrat bereits mit der
Revision des EG ZGB von 2000/2001 eingeräumt. Gemäss § 56a EG ZGB kann der
Bezirksrat in familienrechtlichen Angelegenheiten (Art. 90-455 ZGB) Zeugen
einvernehmen, wobei die entsprechenden Bestimmungen der Zivilprozessordnung
sinngemäss anwendbar sind. Gemäss Antrag und Weisung des Regierungsrates vom
22. September 1999 wurde dem Bezirksrat dieses Beweismittel ausdrücklich und
vorbehaltlos zur Verfügung gestellt, weil das Verwaltungsverfahren keine
Möglichkeit der Zeugeneinvernahme vorsieht (ABl 1999 1216/1292). Der Einwand,
der Bezirksrat sei ausserstande, Zeugen einzuvernehmen, überzeugt auch deshalb
nicht, weil selbst von der KESB als der Verwaltung zugehöriger Fachbehörde
gemäss § 53 EG KESR die Einvernahme von Zeugen erwartet wird (vgl. Antrag und
Weisung des Regierungsrates vom 31. August 2011, ABl 2011 2663 zu § 54). Dass
die gleiche Befugnis der im selben Gesetz vorgesehenen Beschwerdeinstanz nicht
zukommen soll, bedürfte einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage, die hier
fehlt.

4.3.4 Gerichtsorganisatorisch steht der Bezirksrat als Beschwerdeinstanz
gegenüber Entscheiden der KESB (§ 63 EG KESR) auf der gleichen Stufe wie das
Einzelgericht als Beschwerdeinstanz im Bereich der fürsorgerischen
Unterbringung (§ 62 EG KESR). Beide Instanzen fällen je in ihrem Sachgebiet
verbindliche Beschwerdeentscheide, die der Weiterziehung an das Obergericht
unterliegen
BGE 139 III 98 S. 107
(§ 64 EG KESR und § 50 GOG). Das Obergericht überprüft die angefochtenen
Beschwerdeentscheide in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht frei (nArt. 450a
ZGB; vgl. Antrag und Weisung des Regierungsrates vom 31. August 2011, ABl 2011
2669).

4.3.5 Aufgrund der gesetzlichen Ausgestaltung sind der Statthalter und der
Bezirksrat von den Stimmberechtigten des jeweiligen Bezirks auf eine feste
Amtsdauer gewählte Behörden, die sowohl gegenüber den anderen Behörden wie auch
gegenüber den Parteien unabhängig und in der Rechtsprechung nicht
weisungsgebunden sind. Ihre Entscheide beruhen auf vollständiger
Sachverhaltsermittlung und freier Rechtsanwendung und sind verbindlich unter
Vorbehalt der Anfechtung beim Obergericht, das auf Beschwerde hin wiederum
sämtliche Tat- und Rechtsfragen uneingeschränkt prüfen kann. Von daher gesehen
genügen Statthalter und Bezirksrat den Anforderungen von Art. 30 Abs. 1 BV und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK an ein Gericht.

4.4 Unabhängigkeit in der Rechtsprechung ist dem Bezirksrat gesetzlich
zuerkannt. Es bleibt zu prüfen, ob an dieser Unabhängigkeit deswegen Zweifel
aufkommen, weil dem Bezirksrat neben seiner Funktion als Beschwerdeinstanz
gemäss § 63 Abs. 1 EG KESR gesetzlich weitere Aufgaben übertragen sind, die ihn
insgesamt eher als Verwaltungsbehörde denn als Gerichtsbehörde erscheinen
lassen. In Frage steht somit, ob das äussere Erscheinungsbild des Bezirksrates
auch den Eindruck der Unabhängigkeit vermitteln kann.

4.4.1 Das Bezirksverwaltungsgesetz sieht in § 10 vor, dass dem Bezirksrat vor
allem die Aufsicht über die Gemeinden und der Entscheid über Rechtsmittel in
Gemeindesachen obliegen (Abs. 1) und dass der Bezirksrat die Bezirksaufgaben
besorgt, für die keine andere Behörde zuständig ist (Abs. 2). Für das
Statthalteramt bestimmt § 12 BezVG, dass ihm vor allem die Aufsicht über die
Ortspolizei, das Strassenwesen der Gemeinden und das Feuerwehrwesen, der
Entscheid über Rechtsmittel aus diesen Gebieten und die Handhabung des
Übertretungsstrafrechts obliegen (Abs. 1) und dass die Statthalterin oder der
Statthalter besondere Aufträge des Regierungsrates vollzieht (Abs. 3).
Bezirksräte und Statthalterämter erstatten den vorgesetzten Behörden jährlich
Bericht über ihre Tätigkeit (§ 8 BezVG).

4.4.2 Im öffentlich-rechtlichen Bereich nehmen Bezirksrat und Statthalteramt
eine Vielzahl verschiedenster Vollzugs-, Aufsichts- und
Rechtsprechungsfunktionen für den Kanton auf Bezirksebene wahr. Entsprechende
Regelungen finden sich im Gemeindegesetz (GG;
BGE 139 III 98 S. 108
LS 131.1; vorab §§ 141 ff.), im Sozialhilfegesetz (SHG; LS 851.1; § 8), im
Patientinnen- und Patientengesetz (LS 813.13; § 5 Abs. 1), im
Landwirtschaftsgesetz (LG; LS 910.1; § 69 u.a.m.) sowie im Einführungsgesetz
zum Bundesgesetz über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland (EG
BewG; LS 234.1; § 4 lit. a). Zahlreich und vielfältig sind auch die Aufgaben
des Statthalters gestützt auf kantonale öffentlich-rechtliche Erlasse und im
Übertretungsstrafrecht (vgl. für einen Überblick: JAAG/RÜSSLI, a.a.O., N.
1605-1607, N. 1611 und 1615-1617 S. 124 ff.). In Anbetracht der Verflechtung
von Aufgaben und Funktionen im Gesetzesvollzug, in der Aufsicht und in der
Rechtsprechung erscheint es als nachvollziehbar, dass die Rechtsprechung im
öffentlich-rechtlichen Bereich davon ausgeht, der Bezirksrat sei in die
Verwaltung eingebunden und deshalb nicht als gerichtliche Instanz anzusehen
(vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts PB.2000.00007 vom 30. August 2000 E. 2,
Rechenschaftsbericht [RB] 2000 Nr. 24 S. 70 f., betreffend öffentliches
Personalrecht, und die seitherige Rechtsprechung, z.B. Urteil VB. 2007.00051
vom 5. April 2007 E. 1.2, betreffend Tarif für Feuerungskontrolle).

4.4.3 Im zivilrechtlichen Bereich sind die dem Bezirksrat bzw. Statthalteramt
zugewiesenen Aufgaben beschränkt. Sie bestehen noch in der Stiftungsaufsicht (§
37 EG ZGB) und in der Zuständigkeit für das Begehren um Vollziehung einer vom
Schenkgeber im Interesse des Bezirkes oder mehrerer Gemeinden desselben
gemachten Auflage (§ 38 EG ZGB; vgl. JAAG/RÜSSLI, a.a.O., N. 1608-1610 S. 125).
Die grosse Zahl von Funktionen des Bezirksrates und vereinzelt auch des
Statthalteramtes in familienrechtlichen Angelegenheiten werden durch das EG
KESR aufgehoben und eingeschränkt auf die Aufsicht über Wohn- und
Pflegeeinrichtungen (§ 14), die Zuständigkeit für die erstinstanzliche
Beurteilung von Beschwerden (§ 63) und die Aufbewahrung von Akten gewisser
vormundschaftlicher Verfahren (§ 80 EG KESR). Rechtsprechungsfunktion und
Verwaltungsaufgaben des Bezirksrates im zivilrechtlichen Bereich sind damit
klar getrennt, so dass der Eindruck, der Bezirksrat sei blosser Teil der
Verwaltung und keine eigenständige Gerichtsbehörde nicht entsteht.
Unvereinbarkeiten sind mit Bezug auf die Beaufsichtigung von Wohn- und
Pflegeeinrichtungen und der erstinstanzlichen Entscheidzuständigkeit über
Beschwerden denkbar. Die Regelung ist indessen bundesrechtlich nicht
ausgeschlossen, und dass sich aus dieser Doppelfunktion in seltenen
Einzelfällen eine Unvereinbarkeit
BGE 139 III 98 S. 109
ergeben kann, rechtfertigt ein Eingreifen im Verfahren der abstrakten
Normenkontrolle nicht. Entsprechende Sachverhalte sind aus der Praxis bekannt
und gegebenenfalls im Rechtsmittelverfahren zu bereinigen (für ein Beispiel:
Urteil 5A_532/2007 vom 8. April 2008 E. 2.4 und 2.5).

4.4.4 Dass dem Bezirksrat dem äusseren Anschein nach die Unabhängigkeit als
gerichtliche Beschwerdeinstanz fehlt, begründen die Beschwerdeführer zur
Hauptsache damit, dass der Bezirksrat die Gemeinden, die einen Zweckverband
eingehenden Gemeinden und die interkommunalen Zusammenschlüsse beaufsichtigt,
die die Mitglieder der KESB ernennen (§ 8 EG KESR), deren Entscheide der
Bezirksrat wiederum auf Beschwerde hin erstinstanzlich zu überprüfen hat.
Derartige Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit könnten sich allenfalls
als begründet erweisen, wenn die KESB aus Mitgliedern des Gemeinderates
bestünde oder sonst wie politisch zusammengesetzt wäre. Die Voraussetzung ist
indessen nicht erfüllt. Die KESB ist eine Fachbehörde (nArt. 440 ZGB) und wird
aufgrund der Regelung in §§ 4 ff. EG KESR nach rein fachlichen Gesichtspunkten
gebildet. Das neue Erwachsenenschutzrecht schliesst die bisherige
Behördenstruktur, bei der jede politische Gemeinde eine Vormundschaftsbehörde
bestellt und der Vorsitz von einem Mitglied des Gemeinderates geführt wird,
grundsätzlich aus, und bei der Auswahl der Behördenmitglieder ist die
Fachkompetenz massgebend, nicht die politische Ausrichtung (vgl. Antrag und
Weisung des Regierungsrates vom 31. August 2011, ABl 2011 2607 f. und 2625 zu §
8). Die geltend gemachte Verquickung mit der öffentlich-rechtlichen
Aufsichtsfunktion gegenüber Gemeinden und der zivilrechtlichen
Rechtsprechungsfunktion gegenüber Entscheiden der KESB als Fachbehörde besteht
nicht und stellt die dem Bezirksrat gesetzlich zuerkannte Unabhängigkeit in der
Rechtsprechung nicht in Frage.

4.4.5 Insgesamt vermittelt auch das äussere Erscheinungsbild des Bezirksrates
dessen Unabhängigkeit in der Rechtsprechung für den zivilrechtlichen Bereich.
Die zum Beleg des Gegenteils angerufenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesgerichts unterscheiden sich doch in
wesentlichen Punkten von dem hier zu beurteilenden Fall. Der Bezirksrat kann
aufgrund seiner Funktionen und Zusammensetzung nicht dem aus dem Polizeidienst
für richterliche Aufgaben abgestellten Juristen gleichgesetzt werden, der nach
Beendigung seines richterlichen Mandats in den Polizeidienst zurückkehrt, was
den Rechtsuchenden, der
BGE 139 III 98 S. 110
einen Bussgeldentscheid vor diesem Richter anficht, an dessen Unabhängigkeit zu
zweifeln berechtigt (vgl. Urteil des EGMR Belilos gegen Schweiz vom 29. April
1988, Serie A Bd. 132 § 67). Ebenso wenig besteht der Bezirksrat teilweise aus
Verwaltungsbeamten (vgl. Urteil des EGMR Sramek gegen Österreich vom 22.
Oktober 1984, Serie A Bd. 84 § 42). Da dem Bezirksrat im zivilrechtlichen
Bereich, in dem er seine Rechtsprechungsfunktion ausübt, "generelle und
umfassende Aufsichtsbefugnisse" gerade nicht zustehen, kann er auch nicht der
"Bündner Notariatskommission" gleichgestellt werden, der insbesondere deswegen
der Charakter eines Gerichts im Disziplinarverfahren gegen Notare abgesprochen
werden musste (vgl. BGE 123 I 87 E. 4e S. 93 f.). Im Übrigen ist auch die
Gesamtheit des Verfahrens zu berücksichtigen und die Rolle, die dem
Rechtsmittelverfahren im Rahmen des gesamten Verfahrens zukommt (FROWEIN/
PEUKERT, a.a.O., N. 95 zu Art. 6 EMRK). Selbst wenn die Schlussfolgerung hätte
gezogen werden müssen, das Statthalteramt bzw. der Bezirksrat sei kein Gericht,
sondern eine überwiegend weisungsgebundene Verwaltungsbehörde, ist zu
berücksichtigen, dass der Zugang zum Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK
gewährleistet ist, weil das Obergericht kompetent ist, alle Fragen
tatbeständlicher und rechtlicher Natur zu untersuchen, die sich in Bezug auf
den Einzelfall ergeben, und auch die Befugnis hat, die angefochtene
Entscheidung aufzuheben (FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., N. 56 ff. insb. N. 58 zu Art.
6 EMRK; vgl. auch BGE 138 V 271 E. 3.1 S. 278 und das zit. Urteil Belilos §§ 68
ff.).

4.5 Aus den dargelegten Gründen darf angenommen werden, dass der Bezirksrat als
Beschwerdeinstanz gegenüber Entscheiden der KESB (§ 63 Abs. 1 EG KESR) die
Anforderungen an ein Gericht gemäss Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
insgesamt erfüllt.