Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 III 78



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Urteilskopf

139 III 78

11. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. und Mitb.
gegen F. und G. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_378/2012 vom 6. Dezember 2012

Regeste

Art. 145 Abs. 2 lit. b und Art. 314 Abs. 1 ZPO; Fristenstillstand bei Berufung
gegen einen im summarischen Verfahren ergangenen Entscheid.
Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO gilt auch für das Berufungsverfahren und damit für
die Berufungsfrist gegen einen im summarischen Verfahren ergangenen Entscheid
(E. 4). Die Pflicht des Gerichts gemäss Art. 145 Abs. 3 ZPO, die Parteien auf
die Ausnahmen vom Fristenstillstand hinzuweisen, stellt eine
Gültigkeitsvorschrift dar. Fehlt der Hinweis, stehen die Fristen still (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 79

BGE 139 III 78 S. 79

A. Gegen das Baugesuch von F. und G. (nachfolgend: Beschwerdegegner) erhoben
A., B., C., D. und E. (nachfolgend: Beschwerdeführer) am 28. Juni 2011 beim
Bezirksgericht Höfe privatrechtliche Baueinsprache.
Mit Verfügung vom 16. Dezember 2011 trat das Bezirksgericht (Einzelrichter im
summarischen Verfahren) mangels sachlicher Zuständigkeit darauf nicht ein. Die
Rechtsmittelbelehrung in dieser Verfügung lautete wie folgt:
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit der Zustellung beim
Kantonsgericht in 6430 Schwyz Berufung eingereicht werden. Die Berufung ist
schriftlich und begründet (mindestens im Doppel) einzureichen und hat die
Berufungsanträge zu enthalten. Mit der Berufung kann geltend gemacht werden: a)
unrichtige Rechtsanwendung; b) unrichtige Feststellung des Sachverhalts. Der
angefochtene Entscheid ist beizulegen.
Diese Verfügung wurde den Beschwerdeführern am 20. Dezember 2011 zugestellt.

B. Gegen die bezirksgerichtliche Verfügung vom 16. Dezember 2011 erhoben die
Beschwerdeführer am 12. Januar 2012 (Postaufgabe) beim Kantonsgericht Schwyz
Berufung. Mit Beschluss vom 12. April 2012 trat das Kantonsgericht auf die
Berufung wegen verspäteter Einreichung nicht ein.

C. Dem Bundesgericht beantragen die Beschwerdeführer in ihrer Beschwerde in
Zivilsachen vom 18. Mai 2012, der Beschluss vom 12. April 2012 sei aufzuheben
und die Sache zur Beurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen. Nach
Gewährung des rechtlichen Gehörs hat das Bundesgericht der Beschwerde mit
Verfügung vom 6. Juni 2012 antragsgemäss die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Kantonsgericht beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei. Die Beschwerdegegner verlangen, die Beschwerde abzuweisen. Das
Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

BGE 139 III 78 S. 80
Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Das Kantonsgericht ist im angefochtenen Entscheid zum Schluss gelangt, die
Berufung sei verspätet erfolgt. Die Ausnahme vom Fristenstillstand gemäss Art.
145 Abs. 2 lit. b ZPO (SR 272) gelte auch für das Rechtsmittelverfahren und
damit auch für die Berufungsfrist. Diese sei deshalb vom 18. Dezember 2011 bis
und mit 2. Januar 2012 nicht stillgestanden und die Beschwerdeführer hätten die
Berufung demnach erst nach Ablauf der zehntägigen Frist gemäss Art. 314 Abs. 1
ZPO eingereicht.
Daran ändere nichts, dass in der Rechtsmittelbelehrung der bezirksgerichtlichen
Verfügung der Hinweis auf die Nichtgeltung des Fristenstillstands bei
summarischen Verfahren gemäss Art. 145 Abs. 3 i.V.m. Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO
fehle. Wie aus der Berufungsschrift vom 12. Januar 2012 hervorgehe, habe der
Rechtsvertreter der Beschwerdeführer Kenntnis vom fehlenden Fristenstillstand
nach Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO gehabt. Berufe er sich nun trotz dieser
Kenntnis auf den fehlenden Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung, handle er
wider Treu und Glauben (Art. 52 ZPO).

3.2 Die Beschwerdeführer legen vor Bundesgericht dar, die Ausnahme vom
Fristenstillstand gemäss Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO betreffe nur das
erstinstanzliche summarische Verfahren, nicht hingegen das
Rechtsmittelverfahren. Sodann hätte selbst dann, wenn Art. 145 Abs. 2 lit. b
ZPO auf das Rechtsmittelverfahren anwendbar gewesen wäre, der Fristenstillstand
gelten sollen, da die bezirksgerichtliche Rechtsmittelbelehrung den Hinweis
gemäss Art. 145 Abs. 3 ZPO nicht enthalte. Schliesslich sei die Geltendmachung
des fehlenden Hinweises gemäss Art. 145 Abs. 3 ZPO auch nicht
rechtsmissbräuchlich.
Im Ergebnis hätten sie deshalb die Berufung vom 12. Januar 2012 innerhalb der
Berufungsfrist von zehn Tagen eingereicht.

3.3 Die Beschwerdegegner führen an, Art. 145 ZPO sei auch auf das
Rechtsmittelverfahren anwendbar. Zudem bleibe die Praxis zu falschen
Rechtsmittelbelehrungen trotz der Hinweispflicht in Art. 145 Abs. 3 ZPO
anwendbar. Hätten demnach die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer
vorliegend um die Ausnahme vom Fristenstillstand gewusst, habe der unterlassene
Hinweis von vornherein keine Folgen.
BGE 139 III 78 S. 81

4.

4.1 Gemäss Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO gilt der Fristenstillstand für "das
summarische Verfahren" nicht. Nachfolgend ist zu erörtern, ob dieser Hinweis
auf das summarische Verfahren nicht nur das erstinstanzliche Summarverfahren (
Art. 248 ff. ZPO), sondern auch das Rechtsmittelverfahren gegen einen
Summarentscheid umfasst.

4.2 In der Lehre und kantonalen Praxis wird einhellig bejaht, dass der
Fristenstillstand bei einem Rechtsmittel gegen einen erstinstanzlichen
Summarentscheid nicht gilt, demnach Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO auch auf die
Frist für die Berufung gegen einen Summarentscheid anwendbar ist (vgl.
beispielsweise HUNGERBÜHLER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Brunner/
Gasser/Schwander [Hrsg.], 2011, N. 3 zu Art. 314 ZPO; JEANDIN, in: CPC, Code de
procédure civile commenté, 2011, N. 3 zu Art. 314 ZPO; JACQUEMOUD-ROSSARI, Les
voies de recours, in: Le Code de procédure civile - Aspects choisis, 2011, S.
121 f.; TREZZINI, in: Commentario al Codice di diritto processuale civile
svizzero, 2011, S. 1373; REETZ/HILBER, in: Kommentar zur Schweizerischen
Zivilprozessordnung, Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 2010, N. 6
f., N. 13 und N. 22 zu Art. 314 ZPO; GASSER/RICKLI, Schweizerische
Zivilprozessordnung, 2010, N. 2 zu Art. 314 ZPO; TAPPY, Les voies de droit du
nouveau Code de procédure civile, JdT 2010 III 122; STAEHELIN/STAEHELIN/
GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 2008, § 26 N. 15; Entscheid FS.2012.1 des
Kantonsgerichts St. Gallen vom 29. März 2012; Urteil des Obergerichts des
Kantons Bern vom 19. Januar 2012, das dem Urteil 5D_21/2012 vom 20. Februar
2012 zugrunde liegt; Urteil ZK1 11 33 des Kantonsgerichts Graubünden vom 18.
Juli 2011 E. 1a/ab).

4.3 Das Bundesgericht hat sich zu dieser Frage noch nicht geäussert. Die
Gesetzesauslegung hat deshalb zu beantworten, ob sich die Ausnahme gemäss Art.
145 Abs. 2 lit. b ZPO auch auf die Berufungsfrist gegen Entscheide des
summarischen Verfahrens bezieht.
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text
nicht klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner
wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller
Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinns und der dem Text zugrunde
liegenden Wertungen. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext
zukommt. Vom klaren, das heisst eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut
darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe
BGE 139 III 78 S. 82
dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung
wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der
Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern
Vorschriften ergeben (BGE 138 III 166 E. 3.2 S. 168; BGE 137 III 470 E. 6.4 S.
472).

4.4

4.4.1 Der Wortlaut von Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO nennt einzig das "summarische
Verfahren".

4.4.2 Art. 138 Abs. 2 lit. b des Vorentwurfs der Expertenkommission zur ZPO vom
Juni 2003 (nachfolgend VE-ZPO) verwies zusätzlich in Klammer auf die
entsprechenden Artikel des summarischen Verfahrens (damals Art. 258 ff. VE-ZPO,
heute Art. 248 ff. ZPO). Dieser Zusatz wurde in Art. 143 Abs. 2 lit. c des
Entwurfs vom 28. Juni 2006 zur ZPO (nachfolgend E-ZPO; BBl 2006 7444) nicht
mehr aufgeführt. Das vorliegend aufgeworfene Problem wurde im
Gesetzgebungsverfahren nicht thematisiert.

4.4.3 Art. 145 ZPO findet sich im 1. Teil ("Allgemeine Bestimmungen") der
Zivilprozessordnung. Die Bestimmung umfasst sowohl gesetzliche als auch
richterliche Fristen. Zu den gesetzlichen Fristen zählen namentlich die
Rechtsmittelfristen. Art. 145 ZPO bezieht sich demnach aufgrund seiner Stellung
als auch seines Inhalts auch auf das Rechtsmittelverfahren.

4.4.4 Typisches Merkmal des summarischen Verfahrens ist neben der Flexibilität
dessen Schnelligkeit (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur ZPO [nachfolgend
Botschaft ZPO], BBl 2006 7349 Ziff. 5.17; BGE 138 III 252 E. 2.1 S. 254). Das
Ziel der Verfahrensbeschleunigung soll nicht nur im erstinstanzlichen Verfahren
gelten, sondern auch im Rechtsmittelverfahren, weshalb eine verkürzte
Rechtsmittelfrist gilt (Art. 314 Abs. 1 und Art. 321 Abs. 2 ZPO). Hinzu kommt,
dass die Regeln über das summarische Verfahren auch für das Berufungsverfahren
gelten (vgl. BGE 138 III 252 E. 2.1 S. 254).

4.4.5 Aus diesen Gründen wird ersichtlich, dass die Ausnahme nach Art. 145 Abs.
2 lit. b ZPO auch im Rechtsmittelverfahren gelten muss. Dieses Ergebnis drängt
sich auch aus einem anderen Grund auf: Im bundesgerichtlichen Verfahren gilt
der Fristenstillstand für die vorsorglichen Massnahmen nicht (Art. 46 Abs. 2
BGG; die in Art. 46 Abs. 2 und Art. 98 BGG verwendeten Begriffe der
vorsorglichen Massnahme sind im Bereich der Zivilsachen gleichbedeutend: BGE
135 III 430 E. 1.1 S. 431; BGE 134 III 667 E. 1.3 S. 668). Würde
BGE 139 III 78 S. 83
man Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO einzig auf das erstinstanzliche Verfahren
anwenden, hätte dies zur Folge, dass diejenigen vorsorglichen Massnahmen nach
Art. 98 BGG, die im Summarverfahren gemäss ZPO ergehen, nur vor der ersten
Instanz und vor dem Bundesgericht vom Fristenstillstand ausgenommen wären,
nicht aber vor der zweiten Instanz (vgl. dazu TAPPY, in: CPC, Code de procédure
civile commenté, 2011, N. 15 zu Art. 145 ZPO).

4.5 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO auch auf
das Rechtsmittelverfahren gegen im summarischen Verfahren ergangene Entscheide
Anwendung findet.

5.

5.1 Das Kantonsgericht hat demnach grundsätzlich zu Recht den Fristenstillstand
gemäss Art. 145 Abs. 1 ZPO für die Berechnung der Berufungsfrist nicht
beachtet. Es bleibt zu prüfen, ob der fehlende Hinweis gemäss Art. 145 Abs. 3
ZPO daran etwas zu ändern vermag.

5.2 Nach Art. 238 lit. f ZPO hat der Entscheid eine Rechtsmittelbelehrung zu
enthalten, sofern die Parteien auf die Rechtsmittel nicht verzichtet haben.
Diese Bestimmung des ordentlichen Verfahrens gilt auch für im summarischen
Verfahren ergangene Entscheide (Art. 219 ZPO). Da die Ausnahme vom
Fristenstillstand nach Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO wie erwähnt auch auf das
Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, bildet der Hinweis gemäss Art. 145 Abs.
3 ZPO Bestandteil der Rechtsmittelbelehrung.
Nachfolgend ist zu erörtern, welche Bedeutung der Hinweispflicht nach Art. 145
Abs. 3 ZPO zukommt.

5.3 Nach einem überwiegenden Teil der Lehre ist die Hinweispflicht zwingend und
bewirkt deren Fehlen, dass der Fristenstillstand entgegen Art. 145 Abs. 2 ZPO
gilt (vgl. beispielsweise MERZ, in: Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], a.a.O.,
N. 17 zu Art. 145 ZPO; TREZZINI, a.a.O., S. 613, wonach der Hinweis eine
"conditio sine qua non" für die Ausnahme vom Fristenstillstand darstelle;
STAEHELIN, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], a.a.O., N. 4 zu
Art. 145 ZPO; REETZ, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], a.a.O.,
N. 23 zu Vorbemerkungen Art. 308-318 ZPO; HOFFMANN-NOWOTNY, in: ZPO, Oberhammer
[Hrsg.], 2010, N. 9 zu Art. 145 ZPO; MARBACHER, in: Schweizerische
Zivilprozessordnung, Baker & McKenzie [Hrsg.], 2010, N. 7 zu Art. 145 ZPO;
GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 5 zu Art. 145 ZPO; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND,
a.a.O., § 17
BGE 139 III 78 S. 84
N. 11). BENN weist zusätzlich darauf hin, dass die bundesgerichtliche Praxis zu
den fehlerhaften Rechtsmittelbelehrungen, wonach die Partei sich nur auf die
fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung verlassen darf, wenn dies nicht gegen Treu
und Glauben verstösst, aufgrund des klaren Wortlauts von Art. 145 Abs. 3 ZPO
nicht angewendet werden sollte (BENN, in: Basler Kommentar, Schweizerische
Zivilprozessordnung, 2010, N. 8 zu Art. 145 ZPO). Gleicher Meinung sind
implizit wohl auch HOFMANN/LÜSCHER, nach denen die - auf Treu und Glauben
beruhende - Hinweispflicht auch gegenüber anwaltlich vertretenen Parteien gilt
(HOFMANN/LÜSCHER, Le Code de procédure civile, 2009, S. 25 und S. 75).
Gegenteiliges vertritt hingegen TAPPY, nach dem die erwähnte Rechtsfolge
(Geltung des Fristenstillstands bei fehlendem Hinweis) unter dem Vorbehalt
steht, dass die Partei gestützt auf die Praxis zu fehlerhaften
Rechtsmittelbelehrungen in ihrem Vertrauen nicht zu schützen ist (TAPPY, in:
CPC, Code de procédure civile commenté, 2011, N. 16 zu Art. 145 ZPO). In der
kantonalen Praxis haben etwa die Kantonsgerichte der Kantone Waadt und Freiburg
diese Lehrmeinung übernommen und wenden Art. 145 Abs. 2 ZPO (das heisst kein
Fristenstillstand) auch bei fehlendem Hinweis nach Art. 145 Abs. 3 ZPO in der
Rechtsmittelbelehrung an, sofern die Partei anwaltlich vertreten ist (Urteil
101 2012-89 des Kantonsgerichts Freiburg vom 25. April 2012; Urteil HC/2012/28
des Kantonsgerichts Waadt vom 18. November 2011 E. 4).

5.4

5.4.1 Der Wortlaut von Art. 145 Abs. 3 ZPO auferlegt dem Gericht die Pflicht,
die Parteien auf die Ausnahmen vom Fristenstillstand (Art. 145 Abs. 2 ZPO)
hinzuweisen. Die Hinweispflicht gilt nach dem Gesetzestext für die "Parteien",
wobei nicht danach unterschieden wird, ob diese anwaltlich vertreten sind oder
nicht (anders als beispielsweise bei der Aufklärungspflicht gemäss Art. 97 ZPO
).

5.4.2 Art. 145 Abs. 3 ZPO verfolgt den Zweck, in Bezug auf den
Fristenstillstand Rechtssicherheit zu schaffen. Insoweit sollte dem Gericht -
und nicht den Parteien - die Pflicht übertragen werden, dies im Auge zu
behalten und darauf aufmerksam zu machen. Für die Ausnahmen vom
Fristenstillstand sollten sich die Parteien auf die Ausführungen des Gerichts
verlassen dürfen.
Dieser Zweck der Hinweispflicht würde für sich aber noch nicht ausschliessen,
das Vertrauen der Partei in den falschen oder fehlenden
BGE 139 III 78 S. 85
Hinweis auf die Ausnahme gemäss Art. 145 Abs. 2 ZPO auszuschliessen. Denn das
Vertrauen einer Partei in eine falsche oder unvollständige
Rechtsmittelbelehrung wird nur dann geschützt, wenn sie sich nach Treu und
Glauben (nunmehr Art. 52 ZPO) auf die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung
verlassen durfte. Wer die Unrichtigkeit erkannte oder hätte erkennen können,
verdient keinen Schutz (vgl. zu dieser Praxis BGE 138 I 49 E. 8.3 S. 53 f.; BGE
135 III 374 E. 1.2.2.1 S. 376).

5.4.3 Zu prüfen ist, ob die Materialien zuverlässigen Aufschluss darüber geben,
welche Bedeutung der Hinweispflicht gemäss Art. 145 Abs. 3 ZPO zukommt. Nach
ständiger Rechtsprechung stellen die Materialien gerade bei jüngeren Gesetzen
ein wichtiges Erkenntnismittel dar, von dem im Rahmen der Auslegung stets
Gebrauch zu machen ist (BGE 137 III 470 E. 6.5.2 S. 472 mit Hinweisen).
Art. 138 Abs. 3 VE-ZPO hatte bereits fast denselben Wortlaut wie der heutige
Art. 145 Abs. 3 ZPO und lautete wie folgt: "Die Parteien sind auf die Ausnahmen
vom Stillstand der Fristen hinzuweisen." Der Bericht zum Vorentwurf der
Expertenkommission vom Juni 2003 führte dazu in der Kommentierung zu Art. 138
VE-ZPO Folgendes aus: "Das Gericht muss die Parteien auf eine solche Ausnahme
hinweisen (Abs. 3). Es handelt sich hierbei nicht lediglich um eine
Ordnungsvorschrift, sondern dieser Hinweis ist konstitutiv für den
ausnahmsweisen Fristenlauf während der Gerichtsferien. Wird er unterlassen, so
stehen die Fristen still." Diese Kommentarstelle versah die Expertenkommission
mit einem Verweis auf die entsprechende Praxis im Kanton Zürich (HAUSER/
SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz, 2002, N. 17 zu
§ 140 GVG; diese zürcherische Praxis geht zurück auf einen Entscheid des
Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 21. April 1978, in: SJZ 74/1978 S.
196).
Trotz einiger Kritik im Vernehmlassungsverfahren (vgl. dazu die
Zusammenstellung der Vernehmlassungen zum Vorentwurf für ein Bundesgesetz über
die Schweizerische Zivilprozessordnung, 2004, S. 384 f.; JACQUEMOUD-ROSSARI,
Les parties et les actes des parties; le défaut; la notification et les délais,
in: Le Projet de Code de procédure civile fédérale, 2008, S. 128) wurde die
Bestimmung in Art. 143 Abs. 3 E-ZPO (BBl 2006 7444) beibehalten und enthielt
bereits den heutigen Wortlaut von Art. 145 Abs. 3 ZPO. Die Botschaft zur ZPO
präzisierte dies wie folgt (Botschaft ZPO, BBl 2006 7309 Ziff. 5.9.3 zu Art.
143 E-ZPO): "Das Gericht muss die Parteien auf diese Ausnahmen hinweisen (...).
Fehlt der Hinweis, stehen die Fristen
BGE 139 III 78 S. 86
gleichwohl still." Art. 143 Abs. 3 E-ZPO gab weder in den vorberatenden
Kommissionen noch in den eidgenössischen Räten zu Diskussionen Anlass.
Die Hinweispflicht gemäss Art. 145 Abs. 3 ZPO stellt demnach eine
Gültigkeitsvorschrift dar. Dem Gesetzgeber war zudem (was insbesondere aus dem
Verweis auf die zitierte Praxis des Kantons Zürich ersichtlich wird) durchaus
bewusst, dass die Hinweispflicht gemäss Art. 145 Abs. 3 ZPO auch auf die
Rechtsmittelbelehrungen Anwendung finden würde. Angesichts dieser
ausdrücklichen Statuierung der Hinweispflicht (die sich beispielsweise in
anderen Bundesgesetzen wie Art. 22a VwVG nicht findet) bleibt - insbesondere
gestützt auf die klaren Materialien - nun aber kein Spielraum, um die
konstitutive Hinweispflicht dadurch aufzuweichen, als sich die Parteien einzig
darauf berufen könnten, wenn sie den Mangel nicht erkannten oder hätten
erkennen können. Offensichtlich nimmt der Gesetzgeber mit dieser Regelung in
Kauf, dass die Hinweispflicht gemäss Art. 145 Abs. 3 ZPO in gewissem Sinn
absolut gilt.

5.5 Die Beschwerde erweist sich demnach insoweit als begründet. Ist der
Fristenstillstand mangels entsprechendem Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung
zu beachten, ist die Berufung rechtzeitig erfolgt (Art. 145 Abs. 1 lit. c, Art.
146 Abs. 1 und Art. 143 Abs. 1 ZPO) und ist das Kantonsgericht zu Unrecht von
einer verspäteten Berufung ausgegangen. Es erübrigt sich demnach, die weiteren
von den Beschwerdeführern erhobenen Rügen zu prüfen (BGE 136 III 534 E. 4.4 S.
538).