Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 III 288



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Urteilskopf

139 III 288

42. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. GmbH gegen
Stiftung Auffangeinrichtung BVG, Vorsorge BVG und Betreibungsamt
Bern-Mittelland, Dienststelle Mittelland (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_54/2013 vom 22. Mai 2013

Regeste

Art. 43 Abs. 1 SchKG; Ausnahmen von der Konkursbetreibung.
Die Betreibung der Stiftung Auffangeinrichtung BVG für Arbeitgeberbeiträge
fällt nicht unter Art. 43 Abs. 1 SchKG und kann daher auf dem Weg des Konkurses
fortgesetzt werden (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 2).

Sachverhalt ab Seite 289

BGE 139 III 288 S. 289

A. Das Betreibungsamt Bern-Mittelland, Dienststelle Mittelland, stellte in der
Betreibung Nr. x der Stiftung Auffangeinrichtung BVG gegen die X. GmbH, mit
Sitz in A., für ausstehende Beiträge in der Höhe von Fr. 2'963.10 (zuzüglich 5
% Zins seit 31. März 2011 und Mahn- und Inkassokosten von insgesamt Fr. 150.-)
am 11. Juni 2012 den Zahlungsbefehl zu. Die Betreibungsschuldnerin erhob
Rechtsvorschlag. Mit Verfügung vom 17. August 2012 verpflichtete die Stiftung
Auffangeinrichtung BVG die X. GmbH zur Zahlung der Beiträge und Kosten und
beseitigte den Rechtsvorschlag. Am 18. Oktober 2012 verlangte die Stiftung
Auffangeinrichtung BVG unter Beilage der Rechtskraftbescheinigung die
Fortsetzung der Betreibung. Am 5. November 2012 stellte das Betreibungsamt der
X. GmbH die Konkursandrohung zu.

B. Gegen die Konkursandrohung erhob die X. GmbH betreibungsrechtliche
Beschwerde und machte geltend, dass für die betriebene Forderung die
Konkursbetreibung ausgeschlossen sei. Mit Entscheid des Obergerichts des
Kantons Bern, Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen, vom 8. Januar
2013 wurde die Beschwerde abgewiesen.

C. Mit Eingabe vom 18. Januar 2013 ist die X. GmbH an das Bundesgericht
gelangt. Die Beschwerdeführerin verlangt die Aufhebung des Entscheides der
kantonalen Aufsichtsbehörde vom 8. Januar 2013 und beantragt, die Betreibung
(der Stiftung Auffangeinrichtung BVG als Beschwerdegegnerin) sei auf dem Weg
der Pfändung fortzusetzen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Zivilsachen ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt die Konkursandrohung in der
angehobenen Betreibung. Es steht ausser Frage, dass
BGE 139 III 288 S. 290
das Begehren zur Fortsetzung der Betreibung fristgemäss ist, sich auf einen
rechtskräftigen Zahlungsbefehl stützt und gegen eine im Handelsregister (als
GmbH) eingetragene Schuldnerin richtet (vgl. Art. 39 Abs. 1 Ziff. 8 und Art. 88
SchKG). Einziger Streitpunkt ist, ob eine Ausnahme von der Konkursbetreibung im
Sinne von Art. 43 Ziff. 1 SchKG vorliegt. Nach Auffassung der
Beschwerdeführerin rechtfertigt die privatrechtliche Rechtsform der
Beschwerdegegnerin nicht, für die in Frage stehende Forderung die Ausnahme von
der Konkursbetreibung zu verneinen. Zu prüfen ist, auf welchem Weg die
Zwangsvollstreckung für Beitragsforderungen der Stiftung Auffangeinrichtung BVG
durchzuführen ist.

2.1 Gemäss Art. 43 SchKG ist die Konkursbetreibung in jedem Fall ausgeschlossen
für (erstens) Steuern, Abgaben, Gebühren, Sporteln, Bussen und andere im
öffentlichen Recht begründete Leistungen (zweitens) an öffentliche Kassen oder
an Beamte (Ziff. 1). Nach der Rechtsprechung müssen zwei Voraussetzungen
kumulativ erfüllt sein, damit sich ein Schuldner auf diese Bestimmung berufen
kann: Einerseits muss die Forderung ihren Rechtsgrund im öffentlichen Recht
haben, und andererseits muss der Gläubiger eine Anstalt des öffentlichen
Rechts, z.B. eine öffentlichrechtliche Körperschaft sein (BGE 129 III 554 E. 3;
BGE 125 III 250 E. 1 S. 251; BGE 118 III 13 E. 2 S. 14; vgl. bereits BGE 54 III
223 E. 2 S. 224).

2.1.1 Dieser Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Schuldner für
öffentlichrechtliche Forderungen, die von der öffentlichen Hand betrieben
werden, nicht der Generalexekution und damit der allgemeinen Liquidation seines
Vermögens unterliegen soll (BGE 77 III 37 S. 39); umgekehrt muss der
öffentlichrechtliche Gläubiger dank der Ausnahme nicht mit den privaten
Gläubigern konkurrieren (GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la
poursuite pour dettes et la faillite, Bd. I, 1999, N. 27 f. zu Art. 43 SchKG
mit Hinw.). Mit Art. 43 SchKG wird vom ordentlichen Vollstreckungsverfahren
abgewichen, weshalb die systemwidrige Bestimmung nach ständiger Rechtsprechung
eng ausgelegt wird (BGE 118 III 13 E. 2 S. 14; BGE 94 III 65 E. 3 S. 71/72;
GILLIÉRON, a.a.O., N. 10 zu Art. 43 SchKG mit Hinw.). Rechtssubjekte des
Privatrechts (wie zur Durchführung der obligatorischen Krankenversicherung)
fallen nicht unter die Ausnahmebestimmung (BGE 125 III 250 E. 2 S. 251).

2.1.2 Nach Auffassung in der Lehre vermag der Anwendungsbereich, insbesondere
der Begriff der "öffentlichen Kasse" in der heutigen Zeit, in welcher
öffentliche Aufgaben auch von privaten
BGE 139 III 288 S. 291
Rechtsträgern ausgeführt werden, kaum (mehr) zu überzeugen. Als problematisch
wird weiter erachtet, dass die privaten Rechtsträger oft zusammen mit der
Festlegung des geschuldeten Betrages gleichzeitig die Rechtsöffnung verfügen
können (hierzu KREN KOSTKIEWICZ/WALDER, SchKG Kommentar, 18. Aufl. 2012, N. 10
zu Art. 79 SchKG mit Hinw.). Aus diesen und weiteren Gründen wird die Aufhebung
der Bestimmung bzw. eine Reform von Art. 43 SchKG vorgeschlagen (vgl. Kritik
von ACOCELLA, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und
Konkurs, Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 4a a.E. zu Art. 43 SchKG; RIGOT, in:
Commentaire romand, Poursuite et faillite, 2005, N. 16 zu Art. 43 SchKG;
REISER, Zu den Ausnahmen von der Konkursbetreibung gemäss Art. 43 SchKG, BlSchK
2005 S. 62, 65; KARLEN, Privilegien des Staates bei der Vollstreckung
öffentlichrechtlicher Geldforderungen, in: Festschrift Spühler, 2005, S. 158).

2.2 Der Beschwerdeführer stellt nicht in Frage, dass die Betreibungsforderung
(Beiträge des Arbeitgebers für pflichtversicherte Arbeitnehmer gemäss BVG)
"gesetzlich vorgeschrieben" ist bzw. ihren Rechtsgrund im öffentlichen Recht
hat. Die Aufsichtsbehörde hat verneint, dass die Beschwerdegegnerin - als
Auffangeinrichtung gemäss Art. 60 BVG - ein Rechtssubjekt des öffentlichen
Rechts sei. Es handelt sich unstrittig um eine privatrechtliche Stiftung im
Sinne von Art. 80 ff. ZGB. Die Vorinstanz hat (unter Hinw. auf ACOCELLA,
a.a.O., N. 6 zu Art. 43 SchKG) geschlossen, dass die Ausnahme gemäss Art. 43
SchKG nicht greife, und die Konkursandrohung bestätigt.

2.3 Das Bundesgericht hat bereits in einem Urteil aus dem Jahr 1992
entschieden, dass ein Schuldner, welcher der Konkursbetreibung unterliegt, sich
nicht auf Art. 43 SchKG berufen kann, wenn er zwecks Ablieferung von
Arbeitgeberbeiträgen von der Stiftung Auffangeinrichtung BVG betrieben wird.
Ausschlaggebend war die Rechtsnatur der Betreibungsgläubigerin als
privatrechtliche Stiftung. Im Übrigen könne die Beschwerdegegnerin einen
Rechtsvorschlag, den der Arbeitgeber in einer für die Beiträge eingeleiteten
Betreibung erhoben hat, nicht selber beseitigen (BGE 118 III 13 E. 3 S. 15). In
diesem Punkt hat sich die Rechtslage allerdings geändert. Durch die Revision
des BVG vom 3. Oktober 2003 (in Kraft seit dem 1. Januar 2005) sind die
Verfügungen der Beschwerdegegnerin den vollstreckbaren Urteilen im Sinne von
Art. 80 SchKG gleichgestellt worden (Art. 60 Abs. 2^bis BVG), und sie kann den
Rechtsvorschlag
BGE 139 III 288 S. 292
mit der Festsetzung des Beitrages im Verwaltungsverfahren selber beseitigen (
Art. 79 Abs. 1 SchKG; BGE 134 III 115 E. 3.1 S. 120). Es rechtfertigt sich, die
für die Beschwerdegegnerin massgebende bisherige Praxis (BGE 118 III 13) zu
überprüfen.

2.3.1 Mit der parlamentarischen Initiative Baumgartner (98.411) wurde in den
eidgenössischen Räten die Frage behandelt, ob sämtliche öffentlichrechtliche
Forderungen von der Konkursbetreibung ausgenommen werden sollen, unabhängig
davon, ob der Gläubiger eine öffentlich- oder privatrechtliche Person ist. Der
entsprechende Vorschlag der Kommissionsminderheit (BBl 2002 7715) wurde jedoch
nicht Gesetz. Entscheidend dafür war, dass eine derartige Privilegierung der
öffentlichrechtlichen Forderungen zu Lasten der übrigen, insbesondere
privatrechtlichen Gläubiger nicht gefördert werden soll (vgl. Bericht der
Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 27. Mai 2002, BBl 2002 7107,
7112 Ziff. 3.1; Stellungnahme des Bundesrates vom 4. September 2002, BBl 2002
7116, 7118 Ziff. 2.2; AB 2003 N 825 f., Voten Thanei und Cina für die
Kommission). Der Katalog der Ausnahmen in Art. 43 SchKG wurde durch die
Änderung des SchKG vom 3. Oktober 2003 (in Kraft seit 1. Juli 2004) einzig für
die Prämien der obligatorischen Unfallversicherung erweitert (Ziff. 1^bis ).

2.3.2 Die Revision lässt klar erkennen, dass die Beseitigung der
Ungleichbehandlung betreffend Betreibungsart auf die obligatorische
Unfallversicherung, welche sowohl von der SUVA als "öffentlicher Kasse" als
auch von den Privatversicherungen angeboten wird (Art. 58 und 60 Abs. 1 UVG),
beschränkt wurde. Dass private Träger der obligatorischen Unfallversicherung
den Rechtsvorschlag ebenso beseitigen können (Art. 99 UVG i.V.m. Art. 54 Abs. 2
ATSG; Urteil 8C_809/2011 vom 12. Dezember 2011 E. 2) wie z.B. diejenigen der
obligatorischen Krankenversicherung (BGE 119 V 323 E. 2b S. 331), bildete
keinen Grund zur Erfassung anderer Bereiche. Vielmehr wurde im Rahmen der
Revision festgehalten, dass die Prämien, welche der Arbeitgeber für die
berufliche Vorsorge der gemäss BVG pflichtversicherten Arbeitnehmer zu zahlen
hat, "namhafte Beträge" darstellen könnten. Hätten die privaten
Vorsorgeeinrichtungen nicht mehr die Möglichkeit, zur Einforderung den Konkurs
anzudrohen, so würde deren Position erheblich geschwächt und die Finanzierung
der zweiten Säule gefährdet, weshalb sich die Erweiterung nicht aufdränge
(Bericht der Kommission, a.a.O.).
BGE 139 III 288 S. 293

2.3.3 Das Begehren des Beschwerdeführers läuft darauf hinaus, auf dem Wege der
Rechtsprechung den diskutierten, aber verworfenen parlamentarischen
Gesetzesvorschlag einzuführen. Es gibt keinen Grund, über die vom Gesetz
geforderten Voraussetzungen hinwegzusehen (vgl. Art. 190 BV), wenn mit der
Revision von 2003 die Vermeidung weitergehender Ungleichbehandlung zwischen
(privaten und öffentlichrechtlichen) Forderungen (vgl. BGE 120 III 20 E. 2 S.
23) und die restriktive Auslegung von Art. 43 Ziff. 1 SchKG (vgl. BGE 125 III
250 E. 2 S. 252) bestätigt wurde.

2.4 Nach dem Dargelegten ist mit Art. 43 Ziff. 1 SchKG vereinbar, wenn die
Aufsichtsbehörde - wie es kantonaler Praxis entspricht (Revue valaisanne de
jurisprudence [RVJ] 2007 S. 206) - die Konkursandrohung des Betreibungsamtes
bestätigt hat. Die Beschwerde ist unbegründet.