Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 74



Urteilskopf

138 V 74

11. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. K. gegen Amt
für Sozialbeiträge Basel-Stadt (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_131/2011 vom 19. Dezember 2011

Regeste

Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK; Art. 25 Abs. 2 zweiter Satz ATSG;
Unschuldsvermutung, "in dubio pro reo"; Rückerstattung unrechtmässig bezogener
Sozialversicherungsleistungen, längere strafrechtliche Verjährungsfrist.
Die verfassungsmässigen Anforderungen an die Beweiswürdigung im Strafprozess
gelten auch im sozialversicherungsgerichtlichen Rückerstattungsverfahren, wenn
es um die vorfrageweise vorzunehmende Prüfung geht, ob sich der
Rückforderungsanspruch aus einer strafbaren Handlung herleite, für welche das
Strafrecht eine längere Verjährungsfrist als diejenigen von Art. 25 Abs. 2
erster Satz ATSG vorsieht (E. 7).

Regeste

Art. 16 Abs. 1 aELG (in der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung);
Art. 18 Abs. 1 und 2 StGB (in der bis Ende 2006 geltenden Fassung); Erwirken
von Ergänzungsleistungen durch unwahre oder unvollständige Angaben;
Eventualvorsatz.
In casu ist mit hinreichender Sicherheit davon auszugehen, dass sich der
Versicherte der Unvollständigkeit der Angaben im EL-Antragsformular bewusst
war. Indem er dennoch seine Unterschrift daruntersetzte, nahm er zumindest in
Kauf, dass ihm Ergänzungsleistungen ausgerichtet würden, welche ihm nicht
zustanden (E. 5-8).

Sachverhalt ab Seite 76

BGE 138 V 74 S. 76

A. Mit Verfügungen vom 23. Februar und 2. Juli 2009 sowie Einspracheentscheid
vom 30. September 2009 verpflichtete das Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt den
1960 geborenen K. zur Rückerstattung unrechtmässig bezogener
Ergänzungsleistungen (EL), kantonaler Beihilfen, Prämienverbilligungen sowie
Vergütungen von Krankheitskosten im Gesamtbetrag von Fr. 158'444.30. Die
genannten Leistungen waren dem Versicherten zum Teil seit Dezember 2003 zu
Unrecht ausgerichtet worden, weil er dem Amt für Sozialbeiträge bei der
Anmeldung nicht zur Kenntnis gebracht hatte, dass er neben den angegebenen
Renten von Invaliden- und Unfallversicherung auch eine berufsvorsorgerechtliche
Invalidenrente bezieht.

B. Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 20. Dezember 2010 ab.

C. K. führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem sinngemässen Antrag, zufolge
teilweiser Verwirkung sei die Rückerstattungsforderung betreffend
Ergänzungsleistungen, kantonale Beihilfen und Prämienverbilligungen auf die
seit dem 24. Februar 2004 erbrachten Leistungen, diejenige betreffend
Vergütungen von Krankheitskosten auf die seit dem 3. Juli 2004 entrichteten
Beträge zu beschränken.
Das Amt für Sozialbeiträge verzichtet ausdrücklich auf eine Stellungnahme zur
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen
lassen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Die streitigen Rückforderungen betreffen neben bundesrechtlich geregelten
Leistungen (jährliche Ergänzungsleistungen und Vergütung von Krankheitskosten)
auch solche kantonalen Rechts (kantonale Beihilfen und Prämienverbilligungen).
Das Bundesgericht kann sich mit der Sache auch insoweit befassen, als es um
kantonale (oder kommunale) Leistungen geht, jedoch nur, sofern die Verletzung
von
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Bundesrecht oder Völkerrecht gerügt wird (Art. 82 lit. a, Art. 95 lit. a und b
BGG). Der Beschwerdeführer macht insbesondere geltend, die vorinstanzlichen
Feststellungen zu seiner Befragung durch die EL-Sachbearbeiterin anlässlich der
Unterzeichnung des Antragsformulars würden gegen den bundes(verfassungs)
rechtlichen und völkerrechtlichen Grundsatz der Unschuldsvermutung (Art. 32
Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 2 EMRK) verstossen. Diese auf eine
Grundrechtsverletzung abzielende Rüge wurde überdies hinreichend begründet
(Art. 106 Abs. 2 BGG).

3. Der Beschwerdeführer unterzeichnete am 11. Juni 2003 das von der zuständigen
Sachbearbeiterin aufgrund seiner Angaben und der beigebrachten Unterlagen
ausgefüllte Antragsformular für Ergänzungsleistungen. Darin waren die Renten
der Invalidenversicherung und der Unfallversicherung aufgeführt, nicht aber die
seit August 1996 bezogene Invalidenrente der Pensionskasse X. in Höhe von rund
Fr. 34'000.- pro Jahr, weshalb das Amt für Sozialbeiträge in der Folge
fälschlicherweise die eingangs genannten verschiedenartigen Leistungen
ausrichtete. Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten ist zu Recht unbestritten,
dass der Beschwerdeführer die unrechtmässig bezogenen Leistungen grundsätzlich
zurückzuerstatten hat (Art. 25 Abs. 1 erster Satz ATSG [SR 830.1]; BGE 122 V
134). Streitig und nachfolgend zu prüfen ist hingegen, ob der
Rückforderungsanspruch der Verwaltung teilweise verwirkt ist.

4.

4.1 Gemäss Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG erlischt der Rückforderungsanspruch
mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon
Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der
Entrichtung der einzelnen Leistung. Wird der Rückerstattungsanspruch aus einer
strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere
Verjährungsfrist vorsieht, so ist diese Frist massgebend (zweiter Satz der
angeführten Gesetzesbestimmung). Bei den genannten Fristen handelt es sich um
Verwirkungsfristen (BGE 133 V 579 E. 4.1 S. 582; BGE 119 V 431 E. 3a S. 433).
Die kantonale Gesetzgebung verweist hinsichtlich der Verwirkung des
Rückforderungsanspruchs betreffend zu Unrecht entrichteter Beihilfen
ausdrücklich auf die Bestimmungen des ATSG (§ 22 Abs. 1 letzter Satz des
basel-städtischen Gesetzes vom 11. November 1987 über die Einführung des
Bundesgesetzes über die
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Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung
sowie über die Ausrichtung von kantonalen Beihilfen [EG/ELG; SG 832.700]).
Ferner stimmt die Regelung der Verwirkungsfrage im Zusammenhang mit der
Rückforderung unrechtmässig bezogener Prämienverbilligungen mit Art. 25 Abs. 2
ATSG vollständig überein (vgl. § 17 Abs. 3 des Gesetzes vom 25. Juni 2008 über
die Harmonisierung und Koordination von bedarfsabhängigen Sozialleistungen
[Harmonisierungsgesetz Sozialleistungen, SoHaG; SG 890.700]).

4.2 Die einjährige, relative Verwirkungsfrist liegt zu Recht nicht im Streite:
Nachdem die Pensionskasse X. der EL-Behörde am 18. Februar 2009 die Höhe der
bisher nicht berücksichtigten vorsorgerechtlichen Invalidenrente mitgeteilt
hatte, erliess das Amt für Sozialbeiträge bereits am 23. Februar 2009 die
Rückerstattungsverfügungen betreffend zu Unrecht ausgerichtete
Ergänzungsleistungen, kantonale Beihilfen und Prämienverbilligungen sowie am 2.
Juli 2009 die Rückforderungsverfügung hinsichtlich unrechtmässig bezogener
Vergütungen von Krankheitskosten.
Wäre - wie der Beschwerdeführer geltend macht - eine absolute Verwirkungsfrist
von (bloss) fünf Jahren zu beachten, könnten die entsprechenden vor dem 24.
Februar bzw. vor dem 3. Juli 2004 geleisteten Betreffnisse nicht mehr
zurückgefordert werden. Verwaltung und Vorinstanz berufen sich indessen auf
eine längere strafrechtliche Verjährungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 2 zweiter
Satz ATSG. Sie werfen dem Beschwerdeführer vor, er habe die ihm zu Unrecht
ausgerichteten Leistungen im Sinne der hier massgebenden, bis Ende 2007 gültig
gewesenen Strafbestimmung des Art. 16 Abs. 1 aELG "erwirkt" (vgl. auch den am
1. Januar 2008 in Kraft getretenen, mit der früheren Regelung weitgehend
übereinstimmenden Art. 31 Abs. 1 lit. a nELG [SR 831.30]).

5.

5.1 Nach Art. 16 Abs. 1 aELG wird - sofern nicht ein mit höherer Strafe
bedrohtes Verbrechen oder Vergehen des Strafgesetzbuches vorliegt - mit
Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Busse bis zu Fr. 20'000.- bestraft, wer
durch unwahre und unvollständige Angaben oder in anderer Weise u.a. von einem
Kanton für sich oder einen anderen eine Leistung im Sinne dieses Gesetzes
erwirkt, die ihm nicht zukommt.
Die Straftat des Art. 16 Abs. 1 aELG besteht darin, die Auszahlung von
Ergänzungsleistungen durch täuschende - d.h. falsche oder
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unvollständige - Angaben über anspruchsrelevante Tatsachen oder in anderer
Weise zu erwirken, obschon die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Leistung
bzw. für Zahlungen in der erbrachten Höhe objektiv nicht gegeben sind. Mit der
Strafbestimmung soll namentlich mit Blick auf die begrenzten finanziellen
Mittel der öffentlichen Haushalte, den zielgerichteten und effizienten Einsatz
dieser Mittel sowie auf die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts
sichergestellt werden, dass Ergänzungsleistungen nur an Personen ausbezahlt
werden, welche die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen und auf finanzielle
Hilfe angewiesen sind. Schutzzweck der Norm sind die rechtmässige, möglichst
effiziente und rechtsgleiche Durchführung des Versicherungszweiges der
Ergänzungsleistungen sowie Treu und Glauben im Verkehr zwischen Behörden und
Leistungen beanspruchenden Personen (BGE 131 IV 83 E. 2.1.1 S. 87 f.). Der
Tatbestand des Art. 16 Abs. 1 aELG ist mit der ersten Auszahlung von
Ergänzungsleistungen formell vollendet. In diesem Zeitpunkt sind alle
objektiven und subjektiven Tatbestandserfordernisse verwirklicht. Angesichts
des Erfordernisses der erfolgten (erstmaligen) Zahlung stellt sich die Norm als
Erfolgsdelikt dar (BGE 131 IV 83 E. 2.1.3 S. 87 unten).

5.2 Gemäss am 11. Juni 2003, d.h. im Zeitpunkt der Unterzeichnung des
EL-Antragsformulars durch den Beschwerdeführer geltendem wie auch nach dem bei
Erlass der in Frage stehenden Rückerstattungsverfügungen vom 23. Februar und 2.
Juli 2009 gültigen Recht verjährt die Tat des Art. 16 Abs. 1 aELG nach sieben
Jahren (Art. 70 Abs. 1 lit. c StGB in der bis Ende 2006 gültig gewesenen sowie
Art. 97 Abs. 1 lit. c und Art. 389 StGB in der am 1. Januar 2007 in Kraft
getretenen Fassung). Die Verjährung beginnt mit dem Tag, an dem der Täter die
strafbare Handlung ausführt (aArt. 71 lit. a StGB; ebenso Art. 98 lit. a des
revidierten Gesetzes).
Die in E. 4.1 hievor angeführte Ausnahmeregelung des Art. 25 Abs. 2 zweiter
Satz ATSG bezweckt, die Vorschriften des Sozialversicherungs- und des
Strafrechts im Bereich der Verjährung zu harmonisieren. Es soll vermieden
werden, dass der sozialversicherungsrechtliche Anspruch verwirkt, bevor die
Verfolgungsverjährung des Strafrechts eintritt; denn es erschiene
unbefriedigend, wenn der Täter zwar noch bestraft werden könnte, die
Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen aber nicht mehr verlangt
werden dürfte. Dieser ratio legis wird entsprochen, wenn für den Beginn der
BGE 138 V 74 S. 80
längeren strafrechtlichen Verjährungsfrist auf die entsprechende
strafrechtliche Regelung - hier aArt. 71 lit. a StGB - abgestellt wird (vgl.
BGE 126 III 382 E. 4a/bb S. 383; BGE 113 V 256 E. 4a S. 258; BGE 111 V 172 E.
4a S. 175; Urteil K 70/06 vom 30. Juli 2007 E. 6.6, nicht publ. in: BGE 133 V
579, aber in: SVR 2008 KV Nr. 4 S. 11).
Weil beide Rückerstattungsverfügungen (vom 23. Februar und 2. Juli 2009)
weniger als sieben Jahre nach Unterzeichnung des EL-Antragsformulars (am 11.
Juni 2003) ergingen, könnten sämtliche unrechtmässig bezogenen
Leistungsbetreffnisse vollumfänglich zurückgefordert werden, wenn auf diese
längere strafrechtliche Verjährungsfrist abzustellen wäre. Entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers spielt es weder eine Rolle, dass der
angefochtene vorinstanzliche Entscheid vom 20. Dezember 2010 seinerseits erst
nach Ablauf der siebenjährigen Verjährungsfrist gefällt wurde, noch dass die
strafrechtliche Verjährung eingetreten ist. Für die Wahrung der
Verwirkungsfrist ist der Erlass der Rückerstattungsverfügung (und deren
Zustellung an die rückerstattungspflichtige Person) massgebend (vgl. BGE 119 V
431 E. 3c S. 434; ULRICH MEYER-BLASER, Die Rückerstattung von
Sozialversicherungsleistungen, ZBJV 131/1995 S. 473 ff., 479).

6.

6.1 Liegt bereits ein verurteilendes oder freisprechendes Strafurteil vor, so
ist die über den Rückforderungsanspruch befindende Behörde daran gebunden.
Dasselbe gilt für eine Einstellungsverfügung der zuständigen strafrechtlichen
Untersuchungsbehörden, wenn sie die gleiche definitive Wirkung wie ein
freisprechendes Urteil hat. Fehlt es indessen an einem Strafurteil, haben die
Verwaltung und gegebenenfalls das Sozialversicherungsgericht vorfrageweise
selber darüber zu befinden, ob sich die Rückforderung aus einer strafbaren
Handlung herleite und der Täter dafür strafbar wäre. Dabei gelten die gleichen
beweisrechtlichen Anforderungen wie im Strafverfahren, so dass der sonst im
Sozialversicherungsrecht geltende Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit nicht ausreicht. Auf jeden Fall hat die Behörde, die sich
auf die strafrechtliche Verjährungsfrist beruft, Aktenmaterial zu produzieren,
welches das strafbare Verhalten hinreichend ausweist. Erforderlich ist, dass
eine objektiv strafbare Handlung vorliegt und dass die auf Rückerstattung
belangte Person die strafbare Handlung begangen hat und die subjektiven
Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllt (vgl. BGE 118 V 193 E. 4a S. 197 f.; 113
BGE 138 V 74 S. 81
V 256 E. 4a S. 258 f.; Urteil K 70/06 vom 30. Juli 2007 E. 6.2 und 6.4, nicht
publ. in: BGE 133 V 579, aber in: SVR 2008 KV Nr. 4 S. 11).

6.2 Im hier zu beurteilenden Fall erfolgte keine Anzeige an die Strafbehörden.
Das Amt für Sozialbeiträge verwies im Text seiner Rückforderungsverfügung vom
23. Februar 2009 auf einen "strafrechtlichen Bestandteil" und führte in der
Stellungnahme zuhanden der Vorinstanz aus, der Versicherte habe mit dem
Verschweigen der im Zeitpunkt der EL-Anmeldung schon seit Jahren bezogenen
Pensionskassenrente den Straftatbestand von Art. 16 Abs. 1 aELG erfüllt. Laut
Protokoll der Hauptverhandlung des kantonalen Gerichts vom 20. Dezember 2010
antwortete der Beschwerdeführer bei der abschliessenden Befragung durch den
Vorsitzenden, er habe zwei Konten bei der Bank Y.; eines für die IV- und die
SUVA-Rente, das andere für die Invalidenrente der Pensionskasse. Im
Antragsformular sei nur das erste dieser Konten aufgeführt, weshalb wisse er
nicht. Zuvor hatte er schon u.a. ausgeführt, er habe (auch) die Unterlagen
betreffend Pensionskasse vorgelegt. Er "habe einfach gebracht, was sie verlangt
haben".
Die Vorinstanz stellte im angefochtenen Urteil fest, es liege nahe, dass die
zuständige EL-Sachbearbeiterin den Beschwerdeführer nach einer allfälligen
Pensionskassenrente gefragt habe: "Wer eine Rente der IV bezieht und zuvor in
einem vollzeitlichen und stabilen Arbeitsverhältnis stand, erhält in aller
Regel auch eine Pensionskassenrente", was den Sachbearbeitern des Amtes für
Sozialbeiträge bewusst sei. Es müsse davon ausgegangen werden, dass der
Versicherte mit dem vorsätzlichen Verschweigen dieser Vorsorgeleistung eine
Täuschung der EL-Behörde beabsichtigt habe. - Der Beschwerdeführer erblickt in
diesen vorinstanzlichen Feststellungen eine Missachtung der Unschuldsvermutung.
Er macht geltend, dass die Pensionskassenrente beim Ausfüllen des
Antragsformulars (durch die zuständige Sachbearbeiterin) "einfach vergessen"
ging.

7. Nach der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten
Unschuldsvermutung und dem davon abgeleiteten Grundsatz "in dubio pro reo" ist
bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld zu vermuten, dass der wegen einer
strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist (BGE 128 I 81 E. 2 S. 86; BGE 127
I 38 E. 2a S. 40).
Die sich daraus ergebenden verfassungsmässigen Anforderungen an die
Beweiswürdigung im Strafprozess gelten auch im
BGE 138 V 74 S. 82
sozialversicherungsgerichtlichen Rückerstattungsverfahren, wenn es im Rahmen
von Art. 25 Abs. 2 zweiter Satz ATSG um die vorfrageweise vorzunehmende Prüfung
geht (vgl. E. 6.1), ob sich der Rückforderungsanspruch aus einer strafbaren
Handlung herleite, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist als
diejenigen von Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG vorsieht. Als
Beweiswürdigungsregel besagt der Grundsatz "in dubio pro reo", dass sich das
(Straf-)Gericht nicht von der Existenz eines für die beschuldigte Person
ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver
Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich
der Sachverhalt so verwirklicht hat. Der Grundsatz ist verletzt, wenn das
Gericht an der Schuld hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und
theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und
absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Ob der Grundsatz "in dubio pro
reo" als Beweiswürdigungsregel verletzt ist, prüft das Bundesgericht unter dem
Gesichtspunkt der Willkür (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; BGE 124 IV 86 E. 2a S. 88
mit Hinweisen). Solche liegt nur vor, wenn der angefochtene Entscheid
offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass
verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dass
das angefochtene Urteil mit der Darstellung der beschwerdeführenden Partei
nicht übereinstimmt oder eine andere Lösung oder Würdigung vertretbar erscheint
oder gar vorzuziehen wäre, genügt für die Begründung von Willkür praxisgemäss
nicht (BGE 136 III 552 E. 4.2 S. 560; BGE 135 V 2 E. 1.3 S. 4 mit Hinweisen).

8.

8.1 Der Beschwerdeführer hat das von der Sachbearbeiterin aufgrund seiner
Angaben und der beigebrachten Unterlagen ausgefüllte EL-Antragsformular
unterzeichnet, obwohl darin weder die Invalidenrente der Pensionskasse X. noch
das Bankkonto, auf welches diese Leistung jeden Monat floss, angeführt waren.
Beim vorauszusetzenden Mindestmass an Kenntnis und Sorgfalt war es dem
Versicherten grundsätzlich ohne weiteres möglich, die vorsorgerechtliche
Invalidenleistung und das Bankkonto anzugeben; er muss sich daher zweifellos
zumindest eine grobfahrlässige Verletzung der Anzeige- und Meldepflicht
vorwerfen lassen (Urteil 9C_112/2011 vom 5. August 2011; vgl. auch ZAK 1989 S.
179, P 31/88). Hier stellt sich indessen die Frage, ob er (auch) strafrechtlich
hätte belangt werden können.
BGE 138 V 74 S. 83

8.2 Es darf als unter den Parteien unbestritten gelten, dass die objektiven
Straftatbestandsmerkmale von Art. 16 Abs. 1 aELG erfüllt sind. Die
unvollständigen Angaben im Antragsformular veranlassten das Amt für
Sozialbeiträge zur Auszahlung von Ergänzungsleistungen, welche dem
Beschwerdeführer nicht zukamen. Streitig ist hingegen, ob er dies vorsätzlich,
d.h. mit Wissen und Willen anstrebte (aArt. 18 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit
Art. 333 StGB in der hier massgebenden, bis Ende 2006 gültig gewesenen Fassung;
vgl. nunmehr den am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen neuen Art. 12 Abs. 2
StGB). Nach ständiger Rechtsprechung handelt bereits vorsätzlich, wer den
Eintritt des Erfolgs bzw. die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält, aber
dennoch handelt, weil er den Erfolg für den Fall seines Eintritts in Kauf
nimmt, sich mit ihm abfindet, mag er ihm auch unerwünscht sein (BGE 137 IV 1 E.
4.2.3 S. 4; BGE 134 IV 26 E. 3.2.2 S. 28; BGE 133 IV 1 E. 4.1 S. 3, BGE 133 IV
9 E. 4.1 S. 16, 222 E. 5.3 S. 225; TRECHSEL/JEAN-RICHARD, Schweizerisches
Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 13 zu Art. 12 StGB).

8.3 Die Verwaltung bejahte den subjektiven Tatbestand ohne nähere Begründung.
In Missachtung der unter E. 6.1 hievor zitierten Rechtsprechung hat das Amt für
Sozialbeiträge auch keinerlei Aktenmaterial zum strafbaren Verhalten des
Beschwerdeführers angelegt, geschweige denn diesbezügliche Abklärungen
vorgenommen. Das kantonale Gericht stellte - wie bereits erwähnt - u.a. fest,
es liege nahe, dass der Beschwerdeführer anlässlich der Unterzeichnung des
EL-Antragsformulars von der zuständigen Mitarbeiterin ausdrücklich nach einer
allfälligen Pensionskassenrente gefragt worden sei. Denn die
Sachbearbeiterinnen des Amtes für Sozialbeiträge seien sich der Tatsache
bewusst, dass dem Bezüger einer Rente der Invalidenversicherung, welcher zuvor
in einem vollzeitlichen stabilen Arbeitsverhältnis stand, in aller Regel auch
eine Rente der früheren Pensionskasse ausgerichtet wird.
Nach den im Strafrecht geltenden beweisrechtlichen Anforderungen verbleiben
indessen nicht zu unterdrückende erhebliche Zweifel hinsichtlich der
vorinstanzlichen Schlussfolgerung, der Beschwerdeführer habe den Bezug einer
berufsvorsorgerechtlichen Invalidenrente auf entsprechende mündliche Nachfrage
hin explizit verneint und auf diese Weise die zu Unrecht ausgerichteten
Ergänzungsleistungen mit direktem Vorsatz erwirkt. Soweit sich die Vorinstanz
im Rahmen ihrer Beweiswürdigung einfach auf das Fachwissen der Mitarbeiterinnen
im Amt für Sozialbeiträge und daraus abgeleitet auf die
BGE 138 V 74 S. 84
den Versicherten bei der EL-Anmeldung üblicherweise gestellten Fragen stützte,
verstiess sie in willkürlicher Weise gegen den in E. 7 hievor dargelegten
Grundsatz "in dubio pro reo".

8.4

8.4.1 Zu prüfen ist indessen, ob der Beschwerdeführer den Straftatbestand von
Art. 16 Abs. 1 aELG auf andere Weise mit Wissen und Willen, namentlich
eventualvorsätzlich erfüllte (Art. 106 Abs. 1 BGG; BGE 134 V 250 E. 1.2 S.
252). Eine solche Tatbegehung liegt nach der in E. 8.2 angeführten
Rechtsprechung vor, wenn der Täter den Eintritt des als möglich erkannten
Erfolgs ernst nimmt, mit ihm rechnet und sich mit ihm abfindet. Wer den Erfolg
dergestalt in Kauf nimmt, "will" ihn im Sinne von aArt. 18 Abs. 2 StGB (BGE 133
IV 1 E. 4.1 S. 3 f., BGE 133 IV 9 E. 4.1 S. 16; je mit Hinweisen).
Ob der Täter die Tatbestandsverwirklichung in diesem Sinne in Kauf genommen
hat, muss das Gericht - bei Fehlen eines Geständnisses des Beschuldigten -
aufgrund der Umstände entscheiden. Dazu gehören die Grösse des dem Täter
bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung, die Schwere der
Sorgfaltspflichtverletzung, die Beweggründe des Täters und die Art der
Tathandlung. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung
ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die
Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf
genommen. Das Gericht darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen,
wenn sich dem Täter der Eintritt des Erfolgs als so wahrscheinlich aufdrängte,
dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als
Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann. Was der Täter wusste, wollte und
in Kauf nahm, betrifft sog. innere Tatsachen und ist damit Tatfrage.
Rechtsfrage ist hingegen, ob im Lichte der festgestellten Tatsachen der Schluss
auf Eventualvorsatz begründet ist (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 4; BGE 135 IV 12 E.
2.3.2 und 2.3.3 S. 17 f.; BGE 134 IV 26 E. 3.2.2 S. 28 f.; BGE 133 IV 1 E. 4.1
S. 4, BGE 133 IV 9 E. 4.1 S. 16, 222 E. 5.3 S. 225 f.; TRECHSEL/JEAN-RICHARD,
a.a.O.; STRATENWERTH/WOHLERS, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar,
2. Aufl. 2009, N. 6 zu Art. 12 StGB).

8.4.2 Mit Bezug auf einen von der Vorinstanz nicht beurteilten
rechtserheblichen Sachverhalt ist das Bundesgericht in seinen eigenen
tatbeständlichen Feststellungen frei (nicht publ. E. 1). Entgegen dem Einwand
des Beschwerdeführers hat die Vorinstanz zu Recht auf eine Befragung der
zuständigen Sachbearbeiterin im Amt für
BGE 138 V 74 S. 85
Sozialbeiträge als Zeugin verzichtet. Im zeitlichen Abstand von siebeneinhalb
Jahren waren davon keine neuen Erkenntnisse über die näheren Begleitumstände
anlässlich der Unterzeichnung des Antragsformulars (am 11. Juni 2003) zu
erwarten, zumindest keine solchen, die unter strafrechtlichem Blickwinkel
relevant wären. Anders als in der Beschwerdeschrift weiter vorgebracht, wurde
dem Versicherten hinsichtlich des ihm zur Last gelegten Straftatbestands das
rechtliche Gehör durchaus eingeräumt. Mit vorinstanzlicher Verfügung vom 7. Mai
2010 wurde er zur Stellungnahme zu den entsprechenden Vorhaltungen der
Verwaltung aufgefordert. Sein Rechtsvertreter hat sich denn auch zum Vorwurf
des Erwirkens von Ergänzungsleistungen geäussert.

8.4.3 Nach Lage der Akten wurde der Beschwerdeführer, als er sich am 19. März
2003 beim Amt für Sozialbeiträge nach Ergänzungsleistungen zu seiner IV-Rente
erkundigte, mittels Merkblatt über die beizubringenden Unterlagen orientiert.
"Unbedingt" einzureichen waren nach dessen Wortlaut u.a. aktuelle Belege über
die IV-, UV- und eine allfällige Rente der Pensionskasse usw. sowie Auszüge
sämtlicher Bank- und Postcheckkonten per 31. Dezember des Vorjahres. Bereits im
Vorfeld der Unterzeichnung des Antragsformulars vom 11. Juni 2003 musste sich
der Versicherte somit im Klaren darüber sein, dass grundsätzlich alle
Einkommens- und Vermögensbestandteile anzugeben und die entsprechenden Belege
einzureichen oder anlässlich der Vorsprache bei der EL-Behörde mitzubringen
waren. Auf dem von ihm unterzeichneten Formular wurde der Beschwerdeführer
wiederum nach den vorhandenen Bankkonten sowie nach der "AHV/IV-Rente" und
"Pensionen/andere Renten wie SUVA/ausländ. Renten" gefragt. Wie bereits
mehrfach erwähnt, unterliess er sowohl die Deklaration der Pensionskassenrente
als auch des Bankkontos, auf welches diese allmonatlich floss.
Mit Blick auf die Höhe der berufsvorsorgerechtlichen Invalidenrente von über
Fr. 2'800.- pro Monat sowie die diesbezüglichen regelmässigen
Gutschriftsanzeigen seitens der Bank erweist sich ein gleichzeitiges
tatsächliches Vergessen von Rente und Bankkonto anlässlich der Unterzeichnung
des von der EL-Sachbearbeiterin ausgefüllten Antragsformulars als
ausgeschlossen. Vielmehr ist mit hinreichender Sicherheit davon auszugehen,
dass sich der Beschwerdeführer der Unvollständigkeit der unterschriftlich
bestätigten Angaben bewusst war. Indem er trotz dieses Wissens seine
Unterschrift unter das unvollständig ausgefüllte Formular setzte, nahm er
zumindest in Kauf,
BGE 138 V 74 S. 86
dass ihm Ergänzungsleistungen ausgerichtet würden, welche ihm nicht zustanden.
Diese eventualvorsätzliche Tatbegehung im Sinne der dargelegten Rechtsprechung
wird dadurch bekräftigt, dass er die Pensionskassenrente gegenüber den
Steuerbehörden regelmässig deklarierte (vgl. Urteil 6B_689/2010 vom 25. Oktober
2010 E. 3.2), was ohne Wenn und Aber zeigt, dass er sich dieser ihm monatlich
schon seit Jahren zufliessenden Leistung sehr wohl bewusst war.

9. Sind gemäss vorfrageweiser Prüfung sowohl die objektiven (E. 8.2 am Anfang)
wie auch die subjektiven (E. 8.4.3 am Ende) Tatbestandsmerkmale von Art. 16
Abs. 1 aELG erfüllt, ist für die Rückforderung der unrechtmässig bezogenen
Leistungen die längere strafrechtliche, d.h. eine siebenjährige (E. 5.2 am
Anfang) Verjährungsfrist massgebend (Art. 25 Abs. 2 zweiter Satz ATSG). Der
Beschwerdeführer hat mithin die zu Unrecht ausgerichteten Ergänzungsleistungen,
kantonalen Beihilfen und Prämienverbilligungen wie auch die Vergütungen von
Krankheitskosten im Gesamtbetrag von Fr. 158'444.30 vollumfänglich
zurückzuerstatten (vgl. E. 5.2 hievor am Ende).