Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 63



Urteilskopf

138 V 63

9. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. O. gegen
IV-Stelle des Kantons Solothurn (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_195/2011 vom 15. Dezember 2011

Regeste

Art. 7b Abs. 2 lit. c IVG; Sanktion bei unrechtmässigem Leistungsbezug.
Art. 7b Abs. 2 lit. c IVG statuiert keinen selbstständigen Grund, um auf eine
rechtskräftige Verfügung zurückzukommen. Eine solche muss vielmehr zunächst
unter Berufung auf einen Rückkommenstitel (Wiedererwägung, Revision) aufgehoben
werden, ehe sich allenfalls die Frage einer Sanktionierung der fehlbaren
versicherten Person stellt (E. 4.3).

Sachverhalt ab Seite 64

BGE 138 V 63 S. 64

A. Die 1972 geborene O. meldete sich am 17. Mai 2001 unter Hinweis auf eine am
20. Mai 2000 erlittene HWS-Distorsion bei der IV-Stelle des Kantons Solothurn
(nachfolgend: IV-Stelle) zum Leistungsbezug an und beantragte eine Rente. Mit
Verfügungen vom 3. März und 16. Mai 2006 sprach die IV-Stelle der Versicherten
rückwirkend ab 1. Mai 2001 eine ganze Rente der Invalidenversicherung bei einem
Invaliditätsgrad von 100 % zu.
Am 6. Februar 2008 leitete die IV-Stelle von Amtes wegen ein Revisionsverfahren
betreffend der laufenden Rente ein. Im Zuge dieses Verfahrens fand am 30. April
2008 ein Revisionsgespräch statt. Am 4. Juli 2008 übermittelte die AXA
Winterthur als Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers der IV-Stelle
unter anderem die Akten einer zwischen Dezember 2007 und Mai 2008
durchgeführten privatdetektivlichen Observation der Versicherten. Aufgrund der
Diskrepanzen zwischen dem beim Revisionsgespräch Ausgeführten und dem sich aus
den Überwachungsakten Ergebenden brach die IV-Stelle nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens das Revisionsverfahren mit Verfügung vom 27. November
2008 ab und hob die Invalidenrente unter Berufung auf Art. 7b Abs. 2 IVG per
sofort auf.

B. Die von O. hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des
Kantons Solothurn mit Entscheid 25. Januar 2011 ab.

C. Mit Beschwerde beantragt O., ihr sei unter Aufhebung der Verfügung und des
kantonalen Gerichtsentscheides weiterhin eine ganze Rente auszurichten.
Während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf Abweisung der Beschwerde
schliesst, verzichtet die IV-Stelle auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4.

4.1 Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines
Rentenbezügers erheblich, so wird in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 ATSG (SR
830.1) die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft
entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (sog. Rentenrevision).
Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen gemäss Art.
53 Abs. 1 ATSG in
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(prozessuale) Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der
Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder
Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Zudem kann
der Versicherungsträger nach Art. 53 Abs. 2 ATSG auf formell rechtskräftige
Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos
unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist.

4.2 Gemäss Art. 7b Abs. 2 lit. c IVG können die Leistungen der
Invalidenversicherung in Abweichung von Artikel 21 Absatz 4 ATSG ohne Mahn- und
Bedenkzeitverfahren gekürzt oder verweigert werden, wenn die versicherte Person
solche Leistungen zu Unrecht erwirkt oder zu erwirken versucht hat. Beim
Entscheid über die Kürzung oder Verweigerung von Leistungen sind nach Art. 7b
Abs. 3 IVG alle Umstände des einzelnen Falles, insbesondere das Ausmass des
Verschuldens und die wirtschaftliche Lage der versicherten Person, zu
berücksichtigen. Art. 86^bis Abs. 2 IVV (SR 831.201) bestimmt, dass in diesen
Fällen die Rente während längstens drei Monaten um höchstens einen Viertel
gekürzt wird. Gemäss Art. 86^bis Abs. 3 IVV kann in besonders schweren Fällen
die Rente verweigert werden.

4.3 Durch Art. 7b Abs. 2 IVG wird eine Ausnahme vom Mahn- und
Bedenkzeitverfahren nach ATSG geschaffen (vgl. Botschaft vom 22. Juni 2005 zur
Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision], BBl
2005 4459, 4560 Rz. 2.1 zu Art. 7b IVG; vgl. auch MICHEL VALTERIO, Droit de
l'assurance-veillesse et survivants [AVS] et de l'assurance-invalidité [AI],
2011, S. 351 Rz. 1264). Dieser Absatz stellt indessen keinen eigenständigen
Grund dar, um auf eine rechtskräftige Verfügung zurückzukommen. Ziel dieser
Bestimmung ist es, versicherte Personen, die ihre Pflichten gegenüber der
IV-Stelle verletzen, erleichtert sanktionieren zu können (vgl. ERWIN MURER,
Invalidenversicherung: Prävention, Früherfassung und Integration, 2009, S.
133). Versicherte Personen, die ihren Pflichten nicht nachkommen oder zu
Unrecht Leistungen der Invalidenversicherung zu erwirken versuchen, sollen
schlechtergestellt werden als jene versicherten Personen, welche sich korrekt
verhalten. Dies erfolgt dadurch, dass den pflichtwidrig handelnden versicherten
Personen auch solche Leistungen verweigert werden, auf die sie eigentlich
Anspruch hätten. Der Entzug von Leistungen, auf die kein Anspruch besteht,
stellt demgegenüber keine Sanktion
BGE 138 V 63 S. 66
dar. Nicht Sinn von Art. 7b Abs. 2 IVG ist es, die IV-Stellen von ihrer Aufgabe
zu entheben, den Bestand der Leistungsansprüche versicherter Personen
rechtsgenüglich abzuklären. Daraus folgt für Fälle, in denen eine IV-Stelle bei
laufender Rente im Nachhinein der Ansicht ist, der Leistungsbezug erfolge zu
Unrecht, diese zunächst unter Berufung auf einen Rückkommenstitel
(Wiedererwägung, Revision; vgl. auch MATTHIAS KRADOLFER, Nachteilige
Rechtsänderungen und Verfügungsanpassungen im Sozialversicherungsrecht, SZS
2011 S. 361 ff., 366 f.) die Rentenzahlung herabzusetzen oder aufzuheben hat.
Ist von einem Betrug der versicherten Person auszugehen, konnte die Rente
bereits vor Inkrafttreten des Art. 7b IVG unter Berufung auf eine prozessuale
Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) aufgehoben werden. Art. 7b IVG hat an dieser
Rechtslage nichts geändert (vgl. MARKUS KRAPF, Selbsteingliederung und Sanktion
in der 5. IV-Revision, SZS 2008 S. 122 ff., 144). Erst in einem zweiten Schritt
und nur, wenn wegen einer Teilinvalidität tatsächlich Anspruch auf weitere
Leistungen besteht (vgl. MURER, a.a.O., S. 138; KRAPF, a.a.O., S. 130), kann
die Frage der Sanktionierung der versicherten Person im Rahmen von Art. 7b Abs.
2 lit. c IVG geprüft werden.

4.4 Mit Verfügungen vom 3. März und 16. Mai 2006 sprach die IV- Stelle der
Versicherten rückwirkend ab 1. Mai 2001 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung bei einem Invaliditätsgrad von 100 % zu. Ein
Rentenrevisionsverfahren wurde zwar eingeleitet, aber ausdrücklich abgebrochen.
Somit gelten die rentenzusprechenden Verfügungen weiterhin. Eine Sanktionierung
der Versicherten wegen unrechtmässigen Leistungsbezugs im Sinne von Art. 7b
Abs. 2 lit. c IVG ist bei dieser Ausgangslage zum jetzigen Zeitpunkt nicht
möglich. Ihre Beschwerde ist dementsprechend gutzuheissen und die
Sanktionsverfügung vom 27. November 2008 und der kantonale Gerichtsentscheid
sind aufzuheben. Die IV-Stelle wird demgemäss das abgebrochene
Revisionsverfahren wieder aufzunehmen und zu prüfen haben, ob auf die
rechtskräftigen Verfügungen (allenfalls auch in Anwendung von Art. 53 ATSG)
zurückzukommen ist. Sollte sich nach dieser Prüfung ergeben, dass die
Beschwerdeführerin nur noch Anspruch auf eine Rente wegen Teilinvalidität hat,
wird die Beschwerdegegnerin die Frage einer Sanktionierung erneut zu beurteilen
haben.