Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 522



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Urteilskopf

138 V 522

61. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Metzger-Versicherungen Genossenschaft gegen O. (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_274/2012 vom 4. Dezember 2012

Regeste

Art. 39 UVG; Art. 50 UVV: Wagnis; Leistungskürzung.
Um eine Handlung als Wagnis zu qualifizieren, muss sich die versicherte Person
wissentlich einer besonders grossen Gefahr aussetzen. Das subjektive Element
des Wissens bezieht sich dabei auf die Gefahrensituation als solche (hier die
Gefährlichkeit eines Kopfsprungs in unbekannt tiefes Wasser) und nicht auf die
konkreten Umstände (hier das tatsächlich zu wenig tiefe Wasser; E. 6 und 7).

Sachverhalt ab Seite 523

BGE 138 V 522 S. 523

A. Der 1989 geborene O. war seit 1. Oktober 2008 als Metzger bei der R. AG
tätig gewesen und dadurch bei der Metzger-Versicherungen Genossenschaft
(nachfolgend: Unfallversicherer) obligatorisch unfallversichert. Am Abend des
29. August 2009 liess sich O., rittlings auf einem Baumast in rund vier Metern
Höhe sitzend, kopfüber in den an dieser Stelle ca. 80 cm tiefen Rhein fallen
und schlug mit dem Kopf auf dem Grund des Flusses auf. Er erlitt eine
Halswirbelfraktur mit anschliessender Tetraplegie. Mit Verfügung vom 17. März
2010 und Einspracheentscheid vom 21. September 2010 hielt der Unfallversicherer
fest, er werde die Geldleistungen um 50 % kürzen, da der Unfall auf ein Wagnis
zurückgehe.

B. O. erhob gegen den Einspracheentscheid vom 21. September 2010 Beschwerde
beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und beantragte die
Zusprechung der vollen gesetzlichen Leistungen der Unfallversicherung. Das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die Beschwerde in dem Sinne
teilweise gut, dass es den Einspracheentscheid mit der Feststellung, eine
Leistungskürzung unter dem Titel Wagnis sei nicht zulässig, aufhob und die
Sache an den Unfallversicherer zurückwies, damit dieser über den Umfang einer
Leistungskürzung im Sinne von Art. 37 Abs. 2 UVG (SR 832.20) verfüge (Entscheid
vom 24. Februar 2012).
Das von O. zudem gestellte Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen
Rechtsvertretung wurde mit einzelrichterlicher Verfügung vom 11. März 2011
mangels Bedürftigkeit abgewiesen. Die gegen diese Verfügung eingereichte
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wies das Bundesgericht mit
Urteil 8C_309/2011 vom 31. Mai 2011 ab.
BGE 138 V 522 S. 524

C. Der Unfallversicherer führt gegen den vorinstanzlichen Entscheid vom 24.
Februar 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei die Rechtmässigkeit
der vorgenommenen 50%igen Leistungskürzung zu bestätigen.
O. lässt Abweisung der Beschwerde beantragen. Das Sozialversicherungsgericht
und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.

D. Das Bundesgericht hat am 4. Dezember 2012 eine publikumsöffentliche Beratung
durchgeführt.
Es heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Gestützt auf Art. 39 UVG kann der Bundesrat aussergewöhnliche Gefahren und
Wagnisse bezeichnen, die in der Versicherung der Nichtberufsunfälle zur
Verweigerung sämtlicher Leistungen oder zur Kürzung der Geldleistungen führen.
Die Verweigerung oder Kürzung kann er in Abweichung von Artikel 21 Absätze 1-3
ATSG (SR 830.1) ordnen. Von dieser Kompetenzdelegation hat der Bundesrat in
Art. 49 (betreffend aussergewöhnliche Gefahren) und 50 UVV (SR 832.202;
betreffend Wagnisse) Gebrauch gemacht. Bei Nichtberufsunfällen, die auf ein
Wagnis zurückgehen, werden die Geldleistungen um die Hälfte gekürzt und in
besonders schweren Fällen verweigert (Art. 50 Abs. 1 UVV). Wagnisse sind
Handlungen, mit denen sich der Versicherte einer besonders grossen Gefahr
aussetzt, ohne die Vorkehren zu treffen oder treffen zu können, die das Risiko
auf ein vernünftiges Mass beschränken, Rettungshandlungen zugunsten von
Personen sind indessen auch dann versichert, wenn sie an sich als Wagnis zu
betrachten sind (Art. 50 Abs. 2 UVV).
Lehre und Rechtsprechung unterscheiden zwischen absoluten und relativen
Wagnissen. Ein absolutes Wagnis liegt vor, wenn eine gefährliche Handlung nicht
schützenswert ist oder wenn die Handlung mit so grossen Gefahren für Leib und
Leben verbunden ist, dass sich diese auch unter günstigsten Umständen nicht auf
ein vernünftiges Mass reduzieren lassen. Ein relatives Wagnis ist gegeben, wenn
es die versicherte Person unterlassen hat, die objektiv vorhandenen Risiken und
Gefahren auf ein vertretbares Mass herabzusetzen, obwohl dies möglich gewesen
wäre (BGE 97 V 72 ff.; Urteil des Eidg.
BGE 138 V 522 S. 525
Versicherungsgerichts U 122/06 vom 19. September 2006 E. 2.1, in: SVR 2007 UV
Nr. 4 S. 10; ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Die Leistungskürzung oder -verweigerung
gemäss Art. 37-39 UVG, 1993, S. 291 ff.;ALFRED MAURER, Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl. 1989, S. 508 f.; URS CH. NEF, Das Wagnis in
der sozialen Unfallversicherung, SZS 1985 S. 103 ff., 104 f.).

3.2 Hat die versicherte Person den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich
herbeigeführt, so besteht kein Anspruch auf Versicherungsleistungen, mit
Ausnahme der Bestattungskosten (Art. 37 Abs. 1 UVG). Gemäss Art. 37 Abs. 2 UVG
werden in Abweichung von Art. 21 Abs. 1 Satz 1 ATSG in der Versicherung der
Nichtberufsunfälle die Taggelder, die während der ersten zwei Jahre nach dem
Unfall ausgerichtet werden, gekürzt, wenn der Versicherte den Unfall
grobfahrlässig herbeigeführt hat.

4.

4.1 Streitig und zu prüfen ist, ob der Unfallversicherer zu Recht seine
Geldleistungen um die Hälfte gekürzt hat, weil der Nichtberufsunfall vom 29.
August 2009 auf ein Wagnis zurückzuführen war. Zu entscheiden ist, ob das
"Kopfüber-Fallen-Lassen" in den Rhein vom 29. August 2009 als Wagnis zu sehen
ist oder nicht. Dabei interessiert namentlich die Frage, ob der Wagnisbegriff
Wissen um die besonders grosse Gefahr voraussetzt.

4.2 Die Parteien sind sich in sachverhaltlicher Hinsicht darüber einig, dass
der Versicherte rittlings auf dem rund vier Meter hohen Ast eines Laubbaumes
sass und wohl kurz auf das trübe Wasser (aufgrund stets im Rhein befindlicher
Mikroorganismen und Algen ist die Sicht in die Tiefe auf ca. 50 bis 100 cm
begrenzt) hinunterblickte, bevor er sich kopfüber ins Wasser fallen liess, eine
vorherige Prüfung der Wassertiefe aber unterliess. Dass er sich unwillentlich
fallen liess, oder mit dem Gleichgewicht kämpfend, sich aus einer nicht sehr
sicheren Position heraus zum Fallenlassen entschieden hat - wie Prof. Dr. iur.
M./MLaw K., Universität X., in ihrer Meinungsäusserung vom 2. Mai 2011 zum
vorliegenden Fall einen möglichen Unfallhergang skizzieren - ergibt sich aus
den Akten nicht und wird auch nicht geltend gemacht. Im Rapport der
Kantonspolizei vom 18. November 2009 wurde unter der Rubrik "Sachverhalt" die
"Absicht, vom Ast in den Rhein zu springen" erwähnt. Ob der Versicherte dabei
von Anfang an die Absicht hatte, in den Rhein zu springen oder sich, einem
momentanen Impuls folgend, kopfüber fallen liess, ergibt sich aus den Akten
ebenfalls nicht.
BGE 138 V 522 S. 526
Der Versicherte wendet dabei, obwohl er Alkohol und Drogen konsumiert hatte, zu
keinem Zeitpunkt ein, es liege kein zu einer Leistungskürzung berechtigendes
Wagnis vor, weil er zum massgebenden Zeitpunkt vollständig urteilsunfähig
gewesen sei (BGE 98 V 144 E. 4a S. 149). Weiterungen hiezu erübrigen sich
daher.

4.3 Das kantonale Gericht erwog, gestützt auf die zwei vom Beschwerdegegner
eingereichten rechtlichen Beurteilungen des vorliegenden Falls (von PD Dr. iur.
I. vom 20. August 2010 und von Prof. Dr. iur. M./MLaw K., Universität X., vom
2. Mai 2011) müsse die Gefahr wissentlich eingegangen werden, um den
Wagnisbegriff zu erfüllen. Gemäss PD Dr. iur. I. spiele das Wissens- und
Willenselement beim Wagnis im Sinne von Art. 50 UVV zwar keine Rolle, dieser
stelle sich aber auf den Standpunkt, dass die versicherte Person bei einem
Wagnis die Gefahr suche (und überwinden wolle). Daraus schloss die Vorinstanz,
wenn man die Gefahr suche, um ihr zu trotzen, müsse man sich dieser bewusst
sein, weshalb der Wagnisbegriff gemäss Prof. Dr. iur. M./MLaw K. und auch
gemäss PD Dr. iur. I. erfordere, dass die versicherte Person die besonders
grosse Gefahr wissentlich eingegangen, bzw. dass sie sich dieser bewusst
gewesen sei. Der Versicherte sei sich hier indessen nicht bewusst gewesen, dass
er sich durch den "Kopfsprung" in den Rhein einer besonders grossen Gefahr
ausgesetzt habe. Dieses, dem Wagnis inhärente subjektive Element liege nicht
vor, weshalb eine Leistungskürzung unter dem Titel des Wagnisses unzulässig
sei. Dementgegen seien die Voraussetzungen der Grobfahrlässigkeit klar erfüllt,
da der Beschwerdegegner seine Sorgfaltspflichten in elementarer Art und Weise
verletzt habe, indem er vorgängig die Wassertiefe nicht geprüft habe.

4.4 Der beschwerdeführende Unfallversicherer stellt sich demgegenüber auf den
Standpunkt, das Wissen um die Gefahr sei nach dem Wortlaut von Art. 50 Abs. 2
UVV kein Begriffselement des Wagnisses. Auch nach Sinn und Zweck dieser
Bestimmung gehe es nicht um das Wissen um die Gefahr, da nicht das Verschulden
der versicherten Person zu sanktionieren sei. Entscheidend für die Bejahung
eines Wagnisses sei vielmehr, ob sich die versicherte Person durch ihre
Handlung objektiv einer besonders grossen Gefahr ausgesetzt habe, deren Ausmass
sie durch die Art der Ausführung nicht auf ein vernünftiges Mass habe
beschränken können. Dies sei bei einem Kopfsprung in einen Fluss mit
unbekannter Tiefe zweifelsohne gegeben.

5. In Abgrenzung des Wagnisses zu den Tatbeständen der Selbsttötung/
Selbstschädigung und der Grobfahrlässigkeit ergibt sich Folgendes:
BGE 138 V 522 S. 527

5.1

5.1.1 Bei der Selbsttötung und Selbstschädigung setzt die Leistungsverweigerung
absichtliches Handeln voraus. Das Bundesgericht hat dabei offengelassen, ob
eine absichtliche Herbeiführung des Todes oder Gesundheitsschadens auch bei
eventualvorsätzlichem Handeln vorliegt (Urteile 8C_504/2007 vom 16. Juni 2008
E. 5.4 und 8C_271/2012 vom 17. Juli 2012 E. 6.4). Unabhängig davon, ob im
Einzelfall eine Selbstschädigung oder eine Selbsttötung Selbstzweck oder Mittel
zum Zweck sind, sollen wissentlich und willentlich herbeigeführte
Selbstschädigungen oder Selbsttötungen von der Versicherungsdeckung
ausgeschlossen bzw. hiefür Versicherungsleistungen verweigert werden. Die
Absicht im Sinne dieser Bestimmung umfasst daher auch den einfachen Vorsatz
(Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 21/95 vom 17. April 1996 E. 1b mit
Hinweis, in: RKUV 1996 S. 168)

5.1.2 Vorliegend steht fest, dass sowohl direkter Vorsatz als auch
Eventualvorsatz auszuschliessen sind. Der Versicherte hat weder den durch den
Unfall hervorgerufenen Gesundheitsschaden absichtlich herbeigeführt, noch den
Eintritt des Erfolgs für möglich gehalten, aber dennoch gehandelt, weil er den
Erfolg für den Fall seines Eintritts in Kauf genommen, sich mit ihm abgefunden
hätte.

5.2

5.2.1 Grobfahrlässig nach Art. 37 Abs. 2 UVG handelt, wer jene elementaren
Vorsichtsgebote unbeachtet lässt, die jeder verständige Mensch in der gleichen
Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte, um eine nach dem
natürlichen Lauf der Dinge vorhersehbare Schädigung zu vermeiden (BGE 121 V 40
E. 3b S. 45; BGE 118 V 305 E. 2a S. 307 mit Hinweisen). Ergänzend ist darauf
hinzuweisen, dass die mit Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 revidierte
Kürzungsregel von Art. 37 Abs. 2 UVG in materiellrechtlicher Hinsicht nichts an
der bisherigen Praxis geändert hat (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U
233/04 vom 2. Februar 2005 E. 1 mit Hinweis).

5.2.2 Die Fahrlässigkeit besteht aus einer objektiven und subjektiven, nach
ihrer Schwere graduell abzustufenden Verschuldenskomponente, wobei sich der
Grad der Fahrlässigkeit primär nach dem Grad des subjektiven Verschuldens
beurteilt. Das Verhalten muss, um - durch Verletzung elementarster
Vorsichtsgebote - Rechtsnachteile zu gewärtigen, Unverständnis, Kopfschütteln
und Tadel auslösen, eine moralische Verurteilung nach sich ziehen und die
Grenze
BGE 138 V 522 S. 528
des Tolerierbaren überschreiten (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 195/
01 vom 6. Mai 2002 E. 1, in: SVR 2003 UV Nr. 3 S. 7).

5.3 Diese Verschuldenskomponente ist beim Wagnis zwar nicht ausgeschlossen
(vgl. E. 7.3), jedoch nicht vorausgesetzt. Die Erfüllung des Wagnisbegriffs
bedingt nicht, dass sich die versicherte Person schuldhaft einer besonders
grossen Gefahr aussetzt. Im Vordergrund liegt das Gefahrenmoment und es ist
eine Risikobeurteilung vorzunehmen, die das Verschulden nicht zu
berücksichtigen hat, sodass auch dann ein Wagnis vorliegen kann, wenn die
versicherte Person mit grösster Sorgfalt und hohem Sachverstand handelt
(RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 312 ff.).

6.

6.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Vom
klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur
ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür
vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Norm wiedergibt. Solche
Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem
Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE
137 V 167 E. 3.1 S. 169 f.; BGE 135 II 78 E. 2.2 S. 81; BGE 135 V 215 E. 7.1 S.
229 und 249 E. 4.1 S. 252).

6.2

6.2.1 Mit Blick auf die altrechtliche Regelung, wonach Handlungen als Wagnisse
gelten, durch die sich ein Versicherter wissentlich einer besonders grossen
Gefahr aussetzt, welche durch die Handlung selbst, die Art ihrer Ausführung
oder die Umstände, unter denen sie ausgeführt wird, gegeben sein oder in der
Persönlichkeit des Versicherten liegen kann (gestützt auf Art. 67 Abs. 3 KUVG
ergangener SUVA-Verwaltungsratsbeschluss vom 31. Oktober 1967; vgl. BGE 97 V 72
E. 2), unterscheidet sich der Wortlaut des Art. 50 Abs. 2 UVV insoweit hievon,
als das Wort "wissentlich" nicht mehr vorkommt.

6.2.2 Rechtsprechungsgemäss ist der Begriff des Wagnisses jedoch mit jenem
identisch, der unter der Herrschaft der bis 31. Dezember 1983 in Kraft
gestandenen Fassung des KUVG gültig war. Inhaltlich hat der Begriff des
Wagnisses demnach dadurch keine Änderung erfahren (BGE 97 V 72 ff.; Urteile des
Eidg. Versicherungsgerichts U 122/06 vom 19. September 2006 E. 2.1, in: SVR
2007 UV Nr. 4 S. 10; U 336/04 vom 9. Februar 2005 E. 1.1, in: RKUV 2005 S.
306).
BGE 138 V 522 S. 529

6.3 Nach dem Wortlaut des Verordnungstextes muss sich die versicherte Person
mit der vorgenommenen Handlung einer grossen Gefahr aussetzen (franz. Fassung:
"l'assuré s'expose à un danger particulièrement grave"; ital. Fassung:
"l'assicurato si espone a un pericolo particolarmente grave"). Es steht ausser
Frage, dass man sich wissentlich oder unwissentlich in Gefahr begeben oder
bringen kann. Das "Sich-einer-Gefahr-Aussetzen" beinhaltet begrifflich nicht
das bewusste und willentliche Eingehen einer bestehenden Gefahr. Der Wortlaut
von Art. 50 Abs. 2 UVV lässt nicht darauf schliessen, dass Wissen um die
tatsächlich und konkret bestehende Situation (in casu in dem Sinne, dass der
Versicherte um die tatsächlich ungenügende Flusstiefe weiss), die mit der
Handlung verbunden ist, vorliegen muss, um unter die Bestimmung zu fallen.

6.4 Aus entstehungsgeschichtlicher Warte liegt der Zweck des Art. 39 UVG, in
Verbindung mit Art. 50 UVV, darin, die Gesamtheit der Versicherten vor einer
unzumutbaren Belastung der mit ihren Prämien gedeckten Versicherung durch
ungewöhnliche und besonders grosse Risiken ausserbetrieblicher Betätigungen zu
schützen (Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die
Unfallversicherung, BBl 1976 III 198 Ziff. 403.33; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts U 106/92 vom 15. Dezember 1994 E. 2, in: SVR 1995 UV Nr.
29 S. 85 und Urteil 8C_579/2010 vom 10. März 2011 E. 7.2 mit Hinweisen auf
Rechtsprechung und Literatur). Dass nach dem Willen von Gesetz- und
Verordnungsgeber ein Wissen um die tatsächlichen Umstände der
Gefahrensituation, in die sich die versicherte Person begibt, verlangt sein
soll, lässt sich den Materialien nicht entnehmen.

6.5

6.5.1 Nichts anderes ergibt sich aus systematischer und teleologischer
(zweckbezogener) Sicht: Art. 50 Abs. 2 UVV negiert das Wagnis, wenn
Vorkehrungen getroffen wurden oder hätten getroffen werden können, die das
Risiko auf ein vernünftiges Mass reduzieren. Massgeblich ist erstens, ob die
Risiken einer bestimmten Handlung durch Vorkehren auf ein vernünftiges Mass
beschränkt werden können und zweitens, ob die versicherte Person es unterlassen
hat, die objektiv vorhandenen Risiken und Gefahren auf ein vertretbares Mass
herabzusetzen, obwohl dies möglich gewesen wäre, was sich anhand der konkreten
Umstände des Einzelfalles, wie etwa die persönlichen Fähigkeiten der
Beteiligten und die Art der Durchführung des Unternehmens, beurteilt (Urteile U
122/06 vom 19. September 2006, in: SVR 2007 UV Nr. 4 S. 10; 8C_504/2007 vom 16.
Juni 2008 E. 6.1).
BGE 138 V 522 S. 530
Mit Blick auf den Begriff des Wagnisses kommt es sodann nicht darauf an, ob
sich die versicherte Person der Gefährlichkeit ihrer Handlung wirklich bewusst
war oder ob sie über ihr Tun nachgedacht hat, sonst würden Handlungen aus
Leichtsinn oder Übermut oder aus dem Affekt (vgl. MAURER, a.a.O., S. 510) den
Wagnisbegriff nicht erfüllen. Auch wenn sich das Bundesgericht oftmals in
Zusammenhang mit organisiertem, planmässigen Vorgehen (so bei risikoreichen,
gefährlichen Sportarten) mit dem Wagnisbegriff auseinanderzusetzen hat,
schliesst der Wagnisbegriff ein unplanmässiges, unüberlegtes oder gar
unsinniges Handeln gerade nicht aus (Zerdrücken eines Glases in der Hand aus
Jux oder aus Wut [als absolutes Wagnis], Klettern über Balkonbrüstung; vgl.
Urteil des Bundesgerichts U 612/06 vom 5. Oktober 2007 E. 4.1.1, in: Plädoyer
2008 1 S. 69). In Berücksichtigung des mit der altrechtlichen Regelung
identischen Wagnisbegriffs (E. 6.2.2 hiervor) ist, um eine Handlung als Wagnis
zu qualifizieren, zu verlangen, dass die besonders grosse Gefährlichkeit, die
der Handlung inhärent ist, bekannt ist oder hätte bekannt sein müssen und es
unterlassen wurde, sofern möglich, diese auf ein annehmbares Risiko zu
reduzieren. Das subjektive Element des Wissens kann sich nur auf die
Gefahrensituation als solche beziehen.

6.5.2 Einer ähnlichen Argumentation bediente sich das Eidg.
Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche
Abteilung des Bundesgerichts) bei zwei nach altem Recht (E. 6.2) ergangenen
Urteilen: Im Urteil EVGE 1945 S. 96 hatte es sich mit einem Sturz von einer
Bahnüberführung zu befassen, nachdem der Versicherte in völliger Dunkelheit das
1,8 Meter hohe Brückengeländer überstiegen hatte, ohne die Bahnüberführung als
solche erkannt zu haben und acht bis zehn Meter tief auf die Bahnstrecke fiel.
Eine Selbsttötungsabsicht verneinte es, da davon auszugehen sei, dass er die
Brücke als solche nicht erkannt hatte. Weiter erwog das Eidgenössische
Versicherungsgericht, dass sich der Versicherte, nachdem er an eine
Abschrankung geraten sei, welche die typische Konstruktion mancher
Bahnüberführungen aufgewiesen habe (Sicherheitsnetz im oberen Teil), bei der
erforderlichen Aufmerksamkeit hätte sagen müssen, dass er sich auf einer Brücke
befinden könnte. Da er im Ungewissen gewesen sei, was er auf der anderen Seite
der Abschrankung antreffen werde, wäre doppelte Vorsicht am Platz gewesen,
bevor er sich entschlossen habe, hinüberzusteigen. Weil er aber "nicht durchaus
wissen musste, dass er sich einer grossen Gefahr aussetzte" wurde auf
hochgradige, an Wagnis grenzende Fahrlässigkeit erkannt.
BGE 138 V 522 S. 531
Im Urteil U 15/77 vom 2. Mai 1978 hatte das Eidg. Versicherungsgericht zudem zu
beurteilen, ob, wer in der Dunkelheit mit schlechtem Schuhwerk ein
Terrassengeländer überspringt, dessen Höhe ihm ebenso unbekannt ist wie die
Beschaffenheit des Bodens darunter, um der Konfrontation mit dem Ehemann seiner
Geliebten zu entgehen, ein Wagnis eingeht. Dies hat es bejaht: Das Risiko
verletzt zu werden, wäre bei einer Auseinandersetzung mit dem eifersüchtigen
Ehemann jedenfalls weniger gross gewesen, als dasjenige, das er auf sich
genommen habe, als er ins Leere gesprungen sei, zumal der Ehemann unbewaffnet
gewesen sei. Selbst wenn man voraussetze, der Versicherte habe angenommen,
durch die Reaktion des Ehemanns starke Verletzungen zu gewärtigen, hätte er
sich bewusst sein müssen, dass der Sprung übers Geländer ins Dunkle für ihn
einen noch schlimmeren Ausgang hätte nehmen können. Er habe sich waghalsig
einer Gefahr ausgesetzt.

7.

7.1 Ein Sprung aus einer Höhe von rund vier Metern auf den Kopf in ungenügend
tiefes Wasser bzw. in trübes Wasser, dessen Tiefe unbekannt ist, stellt
zweifelsohne eine grosse Gefahr dar, was allgemein bekannt ist. Um diese
grundsätzliche (und besonders grosse) Gefahr, welche einem Kopfsprung in zu
wenig tiefes Wasser inhärent ist, wusste der Versicherte oder sie wäre ihm
zumindest bewusst geworden, hätte er über seine Handlung nachgedacht. Daher
greift der Einwand, er habe nicht um die ungenügende Wassertiefe und somit
nicht um die Gefahr gewusst, nicht. Der konkreten Tatsache des bloss knietiefen
Wassers an dieser Stelle musste er sich nicht bewusst sein, um ein Wagnis
einzugehen. Wäre dies der Fall gewesen (vgl. zur für gefahrloses Springen
[einschl. Kopfsprünge] erforderlichen Wassertiefe: BGE 126 III 306 E. 3b) und
er dennoch willentlich gesprungen, hätte er sich zumindest eventualvorsätzlich
selbst geschädigt. Da jedoch keine Selbstschädigungsabsicht bestand, hätte er
sich später nicht kopfüber vom Baumast fallen lassen, wenn er vorgängig ins
Wasser getreten wäre und damit auch um die konkrete Tatsache des viel zu
seichten Wassers für ein solches Tun gewusst hätte.

7.2 Hier steht das gewagte, riskante Vorhaben des Versicherten im Vordergrund,
welches so grosse Gefahren in sich barg, dass sich mit Blick auf den
dargelegten Sinn und Zweck des Art. 39 UVG in Verbindung mit Art. 50 UVV nicht
rechtfertigt, die Versichertengemeinschaft die gesamten finanziellen Folgen des
Nichtberufsunfalls tragen zu lassen. Bei dem hohen Risiko, das der Versicherte
beim
BGE 138 V 522 S. 532
kopfüber Eintauchen aus vier Metern Höhe in ein fliessendes Gewässer mit
unbekannter Tiefe eingegangen war, kann nicht bloss von einer groben
Fahrlässigkeit bei einer an sich ungefährlichen Handlung die Rede sein (vgl.
RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 313; vgl. E. 5.2 und 5.3). Ob dies Verletzungen nach
sich zieht, hängt allein vom Zufall ab, nämlich davon, ob man eine genügend
tiefe Stelle trifft oder nicht. Ist die Stelle seicht, was hier der Fall war,
führt der Aufprall des Kopfes auf den Flussgrund zwingend zu schweren
Verletzungen. Indem sich der Beschwerdegegner - ohne dass die konkrete Stelle
des Flusses, insbesondere hinsichtlich Tiefe und Beschaffenheit des Grundes
abgeklärt und bekannt war - fallen liess, handelte er vielmehr leichtsinnig und
riskant, ja waghalsig. Bei einem Kopfsprung aus vier Metern Höhe in unbekannt
tiefes Wasser kann die Gefahr nicht auf ein vernünftiges Mass reduziert werden.
Das Vorgehen ist daher als absolutes Wagnis zu qualifizieren. Bei einem
gewollten Fall aus vier Metern Höhe kopfüber in den Rhein wäre es unabdingbar
gewesen, sich der genügenden Flusstiefe vorher zu vergewissern. Der
Beschwerdegegner hat jedoch keinerlei Überlegungen zur Gefahrensituation
angestellt. Er hätte nicht ohne weitere Vorkehrungen bei einem fliessenden
Gewässer annehmen dürfen, das Wasser sei genügend tief. Es ist allgemein
bekannt, dass der Wasserstand eines Flusses je nach Jahreszeit, Wetterlage in
den Vortagen, Beschaffenheit des Grundes etc., stark variieren kann, was eine
gleichbleibende Wassertiefe ausschliesst. Es ist ebenso allgemein bekannt, dass
ein Kopfsprung in trübes oder unbekanntes (und daher allenfalls zu seichtes)
Wasser grosse Gefahren mit sich bringt. So hält die Baderegel Nr. 4 der
Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft SLRG fest: "Nicht in trübe oder
unbekannte Gewässer springen! - Unbekanntes kann Gefahren bergen." In BGE 125 V
312 E. 2b hatte das Eidg. Versicherungsgericht zu beurteilen, ob das Canyoning
ein Wagnis darstellt oder nicht und hielt in diesem Zusammenhang fest, dass es
zu den elementaren Grundregeln gehört, auf Sprünge ins unbekannte Wasser zu
verzichten. Dieses Wissen muss sich der Versicherte entgegenhalten lassen.
Damit ist auch sein Einwand nicht stichhaltig, es handle sich um eine übliche
Badestelle der Dorfjugend. Dass Badende einen Kopfsprung von gleicher Stelle an
anderen Tagen schadlos überstanden haben, schliesst den Wagnischarakter nicht
aus, da nicht von einer über Jahre gleichbleibenden Situation ausgegangen
werden darf. Die einfache Prüfung der Wassertiefe hat er ohne nachvollziehbaren
Grund - trotz des Wissens um die Gefährlichkeit eines Kopfsprungs in unbekannt
tiefes Gewässer - nicht vorgenommen
BGE 138 V 522 S. 533
und ist somit ein Wagnis eingegangen, welches den Unfallversicherer zur
Leistungskürzung berechtigt.

7.3 Anzufügen bleibt, dass ein und dieselbe Handlung gleichzeitig ein Wagnis
und ein schuldhaftes Verhalten darstellen kann. Die Begriffe des Wagnisses und
der Grobfahrlässigkeit schliessen sich nicht aus. Es braucht jedoch nicht
geprüft zu werden, ob der vorliegenden Handlung auch ein schuldhaftes Verhalten
(vgl. E. 5.2.2) zugrunde liegt, da die Leistungskürzung wegen eines Wagnisses
(Art. 39 UVG) derjenigen wegen Grobfahrlässigkeit (Art. 37 Abs. 2 UVG) vorgeht
(BGE 134 V 340 E. 3.2.4; Urteil 8C_504/2007 vom 16. Juni 2008 E. 7.1).