Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 457



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Urteilskopf

138 V 457

54. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle
des Kantons Aargau gegen Z. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_149/2011 vom 25. Oktober 2012

Regeste

Art. 16 ATSG; Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen
ausgeglichenen Arbeitsmarkt.
Für den Zeitpunkt, in welchem die Frage nach der Verwertbarkeit der (Rest-)
Arbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter beantwortet wird, ist auf das
Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit einer (Teil-)Erwerbstätigkeit
abzustellen (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 3.3).

Sachverhalt ab Seite 458

BGE 138 V 457 S. 458

A. Die am 24. Dezember 1947 geborene Z. meldete sich im September 2002 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 5. September
2007 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Aargau (nachfolgend: IV-Stelle) vom
1. Juni 2002 bis zum 30. November 2003 eine ganze und ab 1. Dezember 2003
aufgrund eines Invaliditätsgrades von 55 % eine halbe Invalidenrente zu. In
teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 28. Mai 2008 die
Verfügung vom 5. September 2007 auf, soweit sie den Rentenanspruch ab 1.
Dezember 2003 betraf, und wies die Angelegenheit zur Vornahme weiterer
Abklärungen und zum Erlass einer neuen Verfügung an die IV-Stelle zurück. Nach
zusätzlichen medizinischen Ermittlungen und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens sprach diese der Versicherten mit Verfügung vom 9. Juli
2009 aufgrund eines Invaliditätsgrades von 55 % eine halbe Invalidenrente ab 1.
Juni 2002 zu. Gleichzeitig verfügte sie für zu viel ausgerichtete
Rentenbetreffnisse eine Rückforderung im Betrag von insgesamt Fr. 6'532.- und
deren Erlass im Umfang von Fr. 6'489.-.

B. In Gutheissung der Beschwerde der Z. hob das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 13. Januar 2011 die Verfügung vom 9. Juli 2009
auf und sprach der Versicherten ab dem 1. Juni 2002 eine ganze Rente zu.

C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie die Zusprechung
einer ganzen Invalidenrente ab 1. Juni 2002 bis 30. November 2003, einer halben
Rente ab 1. Dezember 2003 bis 31. Juli 2009 und wiederum einer ganzen Rente ab
1. August 2009.
Z. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das kantonale Gericht und
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichten.
BGE 138 V 457 S. 459

D. In Bezug auf die Rechtsfrage, zu welchem Zeitpunkt die Verwertbarkeit der
Restarbeitsfähigkeit zu beurteilen sei, ist zwischen den sozialrechtlichen
Abteilungen das Verfahren gemäss Art. 23 Abs. 2 BGG durchgeführt worden.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Das kantonale Gericht hat gestützt auf das Gutachten des Dr. med. J. vom
19. Dezember 2008 eine Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepassten
Tätigkeiten festgestellt. Es ist indessen der Auffassung, dass die Versicherte
auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt keine Stelle mehr finde. Bei Erlass der
Verfügung vom 9. Juli 2009 sei sie 61 Jahre und sechseinhalb Monate alt gewesen
und es sei eine relativ kurze Aktivitätsdauer von knapp zweieinhalb Jahren bis
zum Erreichen des AHV-Alters verblieben; sie habe keinen Beruf erlernt und sei
ausschliesslich im Gastgewerbe tätig gewesen, solche Arbeit sei ihr jedoch
aufgrund der vom Gutachter festgestellten Einschränkungen nicht mehr zumutbar;
schliesslich sei altersbedingt von einer geringen Anpassungsfähigkeit an eine
neue Tätigkeit und Branche auszugehen. Folglich hat es - trotz der vorhandenen
Restarbeitsfähigkeit - eine vollständige Erwerbsunfähigkeit angenommen und der
Versicherten eine ganze Invalidenrente zugesprochen.

2.2 Streitig und zu prüfen ist die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit. Die
IV-Stelle beanstandet einzig, dass das kantonale Gericht für deren Beurteilung
auf den Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung am 9. Juli 2009
abgestellt hat. Gemäss Gutachten des Dr. med. J. sei der Versicherten indessen
bereits ab 1. Dezember 2003 eine körperlich leichte Tätigkeit im Umfang von 50
% zumutbar gewesen. Damals, mithin im Alter von 56 Jahren, sei das Finden einer
angepassten Tätigkeit nicht ausgeschlossen gewesen.
Einigkeit besteht über den Anspruch auf eine ganze Rente vom 1. Juni 2002 bis
30. November 2003 aufgrund des vorinstanzlichen Entscheides vom 28. Mai 2008
(vgl. Art. 90 und 91 lit. a BGG; BGE 135 V 141) sowie ab 1. August 2009 infolge
der Verwitwung der Versicherten (Art. 43 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 23
Abs. 3 und Art. 24 AHVG).

3.

3.1 Das trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung zumutbarerweise erzielbare
Einkommen ist bezogen auf einen ausgeglichenen
BGE 138 V 457 S. 460
Arbeitsmarkt zu ermitteln, wobei an die Konkretisierung von
Arbeitsgelegenheiten und Verdienstaussichten keine übermässigen Anforderungen
zu stellen sind (im Einzelnen dazu Urteil 9C_830/2007 vom 29. Juli 2008 E. 5.1,
in: SVR 2008 IV Nr. 62 S. 203). Das fortgeschrittene Alter wird, obgleich an
sich ein invaliditätsfremder Faktor, in der Rechtsprechung als Kriterium
anerkannt, welches zusammen mit weiteren persönlichen und beruflichen
Gegebenheiten dazu führen kann, dass die einer versicherten Person verbliebene
Resterwerbsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise
nicht mehr nachgefragt wird, und dass ihr deren Verwertung auch gestützt auf
die Selbsteingliederungslast nicht mehr zumutbar ist. Fehlt es an einer
wirtschaftlich verwertbaren Resterwerbsfähigkeit, liegt eine vollständige
Erwerbsunfähigkeit vor, die einen Anspruch auf eine ganze Invalidenrente
begründet (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 831/05 vom 21. August 2006
E. 4.1.1 mit Hinweisen). Der Einfluss des Lebensalters auf die Möglichkeit, das
verbliebene Leistungsvermögen auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu verwerten,
lässt sich nicht nach einer allgemeinen Regel bemessen, sondern hängt von den
Umständen des Einzelfalls ab. Massgebend können die Art und Beschaffenheit des
Gesundheitsschadens und seiner Folgen, der absehbare Umstellungs- und
Einarbeitungsaufwand und in diesem Zusammenhang auch Persönlichkeitsstruktur,
vorhandene Begabungen und Fertigkeiten, Ausbildung, beruflicher Werdegang oder
Anwendbarkeit von Berufserfahrung aus dem angestammten Bereich sein (Urteile
9C_153/2011 vom 22. März 2012 E. 3.1; 9C_918/2008 vom 28. Mai 2009 E. 4.2.2 mit
Hinweisen).

3.2 Die Möglichkeit, die verbliebene Arbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt zu verwerten, hängt nicht zuletzt davon ab, welcher Zeitraum der
versicherten Person für eine berufliche Tätigkeit und vor allem auch für einen
allfälligen Berufswechsel noch zur Verfügung steht. Als massgeblicher Stichtag
für die Beantwortung der Frage nach der Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit
in Betracht fallen namentlich der Tag, ab dem eine volle oder teilweise
Erwerbstätigkeit medizinisch zumutbar ist, jener des Rentenbeginns resp. der
Änderung des Rentenanspruchs (vgl. Urteil 9C_145/2011 vom 30. Mai 2011 E. 3.4),
weiter der Zeitpunkt, in dem eine Arbeitsfähigkeit aus medizinischer Sicht
feststeht, oder derjenige des Verfügungserlasses (vgl. Urteil 9C_949/2008 vom
2. Juni 2009 E. 2, wo die Frage des massgeblichen Zeitpunktes offengelassen
wird).
BGE 138 V 457 S. 461
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung ist diesbezüglich nicht einheitlich.
Während in der Mehrzahl der Urteile - regelmässig ohne Erwägungen zur Frage des
massgeblichen Zeitpunktes - auf den Tag des Erlasses der Verfügung resp. des
Einspracheentscheides abgestellt wurde (vgl. Urteile 9C_153/2011 vom 22. März
2012 E. 3.3; 8C_482/2010 vom 27. September 2010 E. 4.3; 9C_979/2009 vom 10.
Februar 2010 E. 5; 9C_918/2008 vom 28. Mai 2009 E. 4.3; 9C_437/2008 vom 19.
März 2009 E. 4.3, in: SVR 2009 IV Nr. 35 S. 97), nannte das Bundesgericht in
dem von der Beschwerdeführerin zitierten Urteil 9C_124/2010 sowohl den
Rentenbeginn als auch den Verfügungserlass, wobei letztlich der frühere
Zeitpunkt des Rentenbeginns entscheidwesentlich war (Urteil 9C_124/2010 vom 21.
September 2010 E. 5.3; ähnlich auch Urteil 8C_657/2010 vom 19. November 2010 E.
5.2.3).
Die im gesamten Bereich des Sozialversicherungsrechts geltende
Schadenminderungspflicht und die daraus abgeleitete Selbsteingliederungslast
(vgl. BGE 113 V 22 E. 4a S. 28 mit Hinweisen; Urteil 9C_916/2010 vom 20. Juni
2011 E. 2.2) gebieten grundsätzlich, die Frage nach der Verwertbarkeit der
Restarbeitsfähigkeit möglichst früh zu beantworten. Für den Zeitpunkt des
Rentenbeginns resp. der Änderung des Rentenanspruchs spricht, dass er von den
Parteien nicht zu beeinflussen ist, dass dann eine Arbeitstätigkeit objektiv,
d.h. unter medizinischen Gesichtspunkten zumutbar ist und dass die
Invaliditätsbemessung, mithin der Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG; SR 830.1),
ebenfalls für dieses Datum vorzunehmen ist (BGE 128 V 174 E. 4a S. 175; BGE 129
V 222 E. 4.2 S. 223 f.). Dagegen ist einzuwenden, dass zu diesem Zeitpunkt in
vielen Fällen gerade die gesundheitlich bedingten Einschränkungen umstritten
sind, diese einer (weiteren) Abklärung bedürfen (Art. 43 Abs. 1 ATSG) und erst
anschliessend retrospektiv festgelegt werden; die versicherte Person hätte
somit eine von ihr bestrittene und zudem (noch) nicht objektiv feststehende
Arbeitsfähigkeit zu verwerten. Im jüngsten Entscheid zur hier interessierenden
Frage wurde denn auch dem Zeitpunkt des Vorbescheides Gewicht beigemessen, und
zwar im Wesentlichen mit der Begründung, zuvor habe keine Klarheit über die
Restarbeitsfähigkeit bestanden, weshalb dem Versicherten deren Verwertung nicht
früher zumutbar gewesen sei (Urteil 8C_880/2011 vom 21. März 2012 E. 5.4).

3.3 Zwecks Präzisierung der soeben dargelegten Rechtsprechung wurde im Rahmen
des Verfahrens gemäss Art. 23 Abs. 2 BGG
BGE 138 V 457 S. 462
vorgeschlagen, für den Zeitpunkt, in welchem die Frage nach der Verwertbarkeit
der (Rest-)Arbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter beantwortet wird,
abzustellen auf:
a) den Rentenbeginn (bzw. im Revisionsfall die Änderung des Rentenanspruchs);
oder
b) das Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit einer (Teil-)Erwerbstätigkeit;
oder
c) den Vorbescheid; oder
d) die Verfügung.
Die betroffenen Abteilungen haben sich für Variante b) entschieden.

3.4 Die medizinische Zumutbarkeit einer (Teil-)Erwerbstätigkeit steht fest,
sobald die medizinischen Unterlagen diesbezüglich eine zuverlässige
Sachverhaltsfeststellung erlauben. Auch wenn bereits Dr. med. S. in seinem
Gutachten vom 23. Dezember 2003 eine Arbeitsfähigkeit von "etwa 30-50 %"
attestierte, ist dieses Datum nicht massgeblich, zumal das kantonale Gericht in
einem ersten Beschwerdeverfahren den Sachverhalt als ungenügend abgeklärt
erachtete. Erst das daraufhin von der Verwaltung eingeholte Gutachten des Dr.
med. J. vom 19. Dezember 2008 verschaffte Klarheit über die Arbeitsfähigkeit
und bildete die - den Anforderungen an die Beweiskraft (BGE 134 V 231 E. 5.1 S.
232; BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis) genügende - medizinische Grundlage
für den Rentenentscheid. Im konkreten Fall ist demnach für die
Rentenberechtigung ab 1. Dezember 2003 die Verwertbarkeit der
Restarbeitsfähigkeit am 19. Dezember 2008 entscheidend.

3.5 Ende Dezember 2008 war die Versicherte 61 Jahre alt. Die vorinstanzlichen
Erwägungen betreffend die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit (E. 2.1)
beziehen sich auf den 9. Juli 2009 und werden als solche von der
Beschwerdeführerin nicht in Abrede gestellt. Sie gelten analog auch für den
massgeblichen, rund ein halbes Jahr davor liegenden Zeitpunkt (vgl. Urteile
8C_482/2010 vom 27. September 2010 E. 4.2 und 4.3; 9C_949/2008 vom 2. Juni 2009
E. 2; 9C_437/2008 vom 19. März 2009 E. 4.3, in: SVR 2009 IV Nr. 35 S. 97). Die
Beschwerde ist unbegründet.