Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 434



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Urteilskopf

138 V 434

52. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Kantonale
Arbeitslosenkasse St. Gallen gegen H. (Be- schwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_729/2011 vom 15. November 2012

Regeste

Art. 14 Abs. 2 AVIG; Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit, ähnliche
Gründe.
Die Aussteuerung des Ehepartners aus der Arbeitslosenversicherung gilt nicht
als ähnlicher Grund im Sinne des Art. 14 Abs. 2 AVIG (E. 8).
Hingegen kann - je nach den konkreten Umständen im Einzelfall - das unerwartete
und plötzliche Dahinfallen von Leistungen der Haftpflichtversicherung an den
Ehepartner einen Befreiungsgrund gemäss Art. 14 Abs. 2 AVIG darstellen (E. 9
und 10).

Sachverhalt ab Seite 435

BGE 138 V 434 S. 435

A. H., geboren 1964, ist verheiratet und Mutter von Zwillingen (Geburtsjahr
2002). Ihrem Ehemann wurden infolge eines im Jahr 1999 erlittenen Unfalls unter
anderem Leistungen der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers
ausgerichtet. Nachdem er eine von der Invalidenversicherung unterstützte
Umschulung absolviert hatte, blieb er arbeitslos und wurde am 24. April 2009
bei der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert. H. hatte seit über acht Jahren
keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt, als sie sich auf den 17. August 2009 als
Zeichnerin Konstruktiver Hochbau/Sachbearbeiterin bei der E. AG anstellen
liess. Das Arbeitsverhältnis wurde durch schriftliche Kündigung der
Arbeitgeberin vom 4. September 2009 während der Probezeit per 11. September
2009 aufgelöst. Die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers richtete
letztmals am 24. Dezember 2009 eine monatliche Zahlung von Fr. 4'719.- aus und
überwies am 29. Dezember 2009 Fr. 50'000.- als Schlusszahlung. Am 22. April
2010 stellte H. Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab sofort, wobei sie
darauf hinwies, dass sie Leistungen der Arbeitslosenversicherung infolge
Aussteuerung des Ehemannes aus der Arbeitslosenversicherung und Wegfalls seiner
Unterstützung durch die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers fordere.
Mit Verfügung vom 17. Mai 2010 verneinte die Kantonale Arbeitslosenkasse St.
Gallen einen Anspruch auf Arbeitslosentaggelder mit der Begründung, die
Aussteuerung des Ehemannes berechtige nicht zum Bezug von
Arbeitslosenentschädigung. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 25. Juni
2010 fest.

B. In teilweiser Gutheissung der dagegen geführten Beschwerde hob das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid auf und
wies die Sache zur Prüfung der wirtschaftlichen
BGE 138 V 434 S. 436
Zwangslage und anschliessenden Neuverfügung an die Arbeitslosenkasse zurück
(Entscheid vom 15. Juni 2011).

C. Die Arbeitslosenkasse erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Antrag, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben
und es sei festzustellen, dass H. nicht von der Erfüllung der Beitragszeit
befreit sei.
H. stellt das Rechtsbegehren, es seien ihr ab 22. April 2010
Arbeitslosentaggelder auszurichten. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO)
schliesst auf Gutheissung der Beschwerde.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

5.

5.1 Nach Art. 14 Abs. 2 Satz 1 AVIG (SR 837.0) sind Personen von der Erfüllung
der Beitragszeit befreit, die wegen Trennung oder Scheidung der Ehe, wegen
Invalidität (Art. 8 ATSG; SR 830.1) oder Todes des Ehegatten oder aus ähnlichen
Gründen oder wegen Wegfalls einer Invalidenrente gezwungen sind, eine
unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder zu erweitern.

5.2 Art. 14 Abs. 2 AVIG ist in erster Linie für jene Fälle vorgesehen, in denen
die Person, welche durch Geldzahlungen an den Unterhalt der Familie beiträgt,
oder die Erwerbsquelle plötzlich aus- oder weggefallen ist. Sie zielt auf
Versicherte, die nicht auf die Aufnahme, Wiederaufnahme oder Ausdehnung der
Erwerbstätigkeit vorbereitet sind und aus wirtschaftlicher Notwendigkeit in
verhältnismässig kurzer Zeit neu disponieren müssen (BGE 137 V 133 E. 4.2 S.
135; THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR
Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 2252 Rz. 243).

5.3 Gemäss Rechtsprechung ist eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit
nach Art. 14 Abs. 2 AVIG nur möglich, wenn zwischen dem geltend gemachten Grund
und der Notwendigkeit der Aufnahme oder Erweiterung einer unselbstständigen
Erwerbstätigkeit ein Kausalzusammenhang gegeben ist. Dabei ist kein strikter
Kausalitätsnachweis im naturwissenschaftlichen Sinne zu verlangen (BGE 125 V
123 E. 2a S. 125; BGE 121 V 336 E. 5c/bb S. 344; BGE 119 V 51 E. 3b S. 55). Der
erforderliche Kausalzusammenhang ist (unter Vorbehalt der zeitlichen Schranke
gemäss Satz 2 dieser Bestimmung) vernünftigerweise bereits zu bejahen, wenn es
glaubwürdig und nachvollziehbar erscheint, dass der Entschluss der versicherten
Person, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder zu erweitern,
in
BGE 138 V 434 S. 437
dem als Befreiungsgrund in Frage kommenden Ereignis mitbegründet liegt (BGE 121
V 336 E. 5c/bb S. 344; SVR 2012 ALV Nr. 7 S. 21, 8C_345/2011 E. 7.1.1). Das
Gesetz lässt die enumerierten oder ähnlichen Befreiungsgründe im Rahmen der
Generalklausel nicht mehr zu, wenn das betreffende Ereignis mehr als ein Jahr
zurückliegt (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 AVIG). Dies ist Ausdruck der
gesetzgeberischen Entscheidung, ein solches Ereignis nicht mehr als kausal für
die über ein Jahr später versuchte Arbeitsaufnahme zu betrachten (BGE 121 V 336
E. 5c/bb S. 344; SVR 2012 ALV Nr. 7 S. 21, 8C_345/ 2011 E. 7.1.2).

6. In ihrem Antrag auf Arbeitslosenentschädigung vom 22. April 2010 nennt die
Beschwerdegegnerin als Befreiungsgrund sowohl die Aussteuerung ihres Ehemannes
aus der Arbeitslosenversicherung auf den 24. April 2009 als auch den Wegfall
der von ihm empfangenen Leistungen der Haftpflichtversicherung des
Unfallverursachers (per 24. bzw. 29. Dezember 2009). Beide Ereignisse liegen
innerhalb eines Jahres vor der Antragstellung bei der Arbeitslosenversicherung.

6.1 Gestützt auf diese Ausgangslage vertritt das kantonale Gericht die Ansicht,
dass jedenfalls die Aussteuerung des Ehepartners aus der
Arbeitslosenversicherung als "ähnlicher Grund" im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG
anzuerkennen sei. Die Auswirkungen der Situation seien durchaus vergleichbar
mit den Folgen eines in Konkurs geratenen Unternehmer-Ehegatten gemäss BGE 119
V 51. Da ein Befreiungsgrund vorliege, habe die Verwaltung im Rahmen der
Rückweisung zu prüfen, ob nach der Aussteuerung auch eine wirtschaftliche
Zwangslage eingetreten sei.

6.2 Die Arbeitslosenkasse wendet dagegen ein, die Beschwerdegegnerin habe ihren
Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung nicht etwa nach der Aussteuerung,
sondern erst im April 2010 und somit einige Monate nach Wegfall der Leistungen
der Haftpflichtversicherung geltend gemacht. Die massgebende Änderung der
wirtschaftlichen Verhältnisse sei demnach durch das letztere Ereignis
verursacht worden. Da die Beschwerdegegnerin allerdings vom 17. August bis 11.
September 2009, somit vor der Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, nicht
nur darum bemüht gewesen sei, eine Anstellung zu finden, sondern tatsächlich
eine Stelle angetreten habe, fehle es an der bei den Befreiungsgründen nach
Art. 14 Abs. 2 AVIG geforderten Kausalität. Die Beschwerdegegnerin sei folglich
nicht von der Erfüllung der Beitragszeit befreit.
BGE 138 V 434 S. 438

6.3 Das SECO weist namentlich darauf hin, dass die Höchstzahl der einer
arbeitslosen Person zustehenden Arbeitslosentaggelder von Anfang an feststehe,
weshalb die Einstellung dieser Versicherungsleistungen vorhersehbar sei. Die
Taggelder der Arbeitslosenversicherung wie auch die Ersatzleistungen der
Haftpflichtversicherung seien dazu bestimmt gewesen, die Beschwerdegegnerin
bzw. ihren Ehepartner auf die veränderte Situation vorzubereiten. Weil die
Versicherte bereits vor dem Wegfall der Leistungen der Haftpflichtversicherung
eine Arbeitsstelle bekleidet habe, sei zudem die Kausalität im Sinne von Art.
14 Abs. 2 AVIG im Zusammenhang mit der im Dezember 2009 eingetretenen Situation
nicht gegeben. Eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit komme
demzufolge weder wegen der Einstellung der Arbeitslosenentschädigung noch
aufgrund des Wegfalls der Haftpflichtversicherungsleistungen in Frage.

6.4 Die Beschwerdegegnerin bringt in ihrer letztinstanzlich eingereichten
Vernehmlassung vor, dass sie im Sommer 2009 durch einen Hinweis aus ihrem
Bekanntenkreis auf die Idee gekommen sei, sich um eine Arbeit in ihrem
erlernten Beruf zu bewerben. Nachdem sie bereits zwei Wochen nach
Stellenantritt die Kündigung erhalten habe, sei es nicht notwendig gewesen,
eine neue Erwerbstätigkeit zu suchen, da ihr Mann von der
Haftpflichtversicherung sowohl bei der (beruflichen) Eingliederung als auch
finanziell unterstützt worden sei. Damals seien sie, ihr Ehemann und die
Haftpflichtversicherung überzeugt gewesen, dass er in absehbarer Zeit eine
Stelle als Elektrotechniker finden werde. Im Dezember 2009 hätten sie aber die
"Hiobsbotschaft" erhalten, dass er ab sofort keine Eingliederungsunterstützung
und per Ende Monat keine Zahlungen mehr bekommen werde. Da sie laut
telefonischer Auskunft des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums vom Januar
2010 davon ausgegangen sei, dass sie sich vor einer Anmeldung bei der
Arbeitslosenversicherung während dreier Monate aktiv um eine Anstellung bemüht
haben müsse, sei ihr Antrag auf Arbeitslosenentschädigung erst im April 2010
erfolgt. Die Familie sei wegen des plötzlichen und unerwarteten Wegfalls der
Haftpflichtversicherungsleistungen auf Ende 2009 in eine finanzielle Notlage
geraten, weshalb die Beschwerdegegnerin ab Januar 2010 gezwungen gewesen sei,
sich aktiv um eine unselbstständige Erwerbstätigkeit zu bemühen. Unter diesen
Umständen sei ein Befreiungsgrund gegeben und es bestehe ab 22. April 2010
Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung.
BGE 138 V 434 S. 439

7.

7.1 Die Formulierung "aus ähnlichen Gründen" in Art. 14 Abs. 2 AVIG stellt
einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, welcher vom Gesetzgeber bewusst nicht
näher umschrieben wurde, um die Vorschrift entsprechend der Vielfalt des Lebens
flexibel handhaben zu können (Botschaft vom 2. Juli 1980 zu einem neuen
Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die
Insolvenzentschädigung [BBl 1980 III 565 zu Art. 13 E-AVIG]). Auch wenn die
Aufzählung der massgeblichen Gründe demnach nicht abschliessend ist, so ändert
dies nichts daran, dass eine Befreiung nach Art. 14 Abs. 2 AVIG nur möglich
ist, wenn zwischen dem geltend gemachten Grund und der Notwendigkeit einer
Aufnahme oder Erweiterung einer Erwerbstätigkeit ein Kausalzusammenhang gegeben
ist (Botschaft, a.a.O., S. 566). Dies kommt unter anderem auch im verlangten
zeitlichen Zusammenhang zum Ausdruck (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 AVIG; BGE 137 V 133
E. 6.2.1 S. 138). Die unter den Begriff "ähnliche Gründe" in Art. 14 Abs. 2
AVIG fallenden Umstände haben den in derselben Bestimmung ausdrücklich
erwähnten Ereignissen "Trennung oder Scheidung der Ehe" und "Invalidität oder
Tod des Ehegatten" in Auswirkung und Tragweite zu entsprechen. Für die Annahme
eines "ähnlichen Grundes" im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG muss verlangt
werden, dass der Ehepartner des Leistungsansprechers voraussichtlich dauernd
oder zumindest längerfristig nicht mehr bereit oder fähig sein wird, wie bisher
für die ehelichen Bedürfnisse zu sorgen (BGE 120 V 145 E. 3a S. 147 f.).

7.2 In BGE 119 V 51 erkannte das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht
(seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche Abteilungen des
Bundesgerichts), dass der Konkurs eines Ehepartners durchaus vergleichbar mit
den Befreiungsgründen Trennung oder Scheidung der Ehe sowie Invalidität oder
Tod des Ehegatten sei. Aufgrund der weitgehenden Vernichtung seiner
wirtschaftlichen Existenz sei ein Konkursit nur noch in beschränktem Umfang in
der Lage, für sich und seine Angehörigen zu sorgen, weshalb sich der Ehepartner
- ebenso wie bei den im Gesetz ausdrücklich erwähnten Befreiungstatbeständen -
häufig veranlasst sehe, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um die finanzielle
Bedrängnis zu überwinden oder wenigstens zu mildern. Der Konkurs des
Ehepartners sei demgemäss als "ähnlicher Grund" im Sinne von Art. 14 Abs. 2
AVIG anzuerkennen (BGE 119 V 51 E. 3a S. 54). Im Gegensatz dazu wurden in BGE
120 V 145 weder die Arbeitslosigkeit noch im Zusammenhang
BGE 138 V 434 S. 440
mit einem Konkurs der früheren Arbeitgeberfirma erlittene Verluste des
Ehegatten als Befreiungsgrund anerkannt. Der Ehemann war im dort zu
beurteilenden Fall zwar seit längerer Zeit arbeitslos und hatte auch erhebliche
Schwierigkeiten auf der Suche nach einer geeigneten neuen Stelle. Da ihm zur
zumindest teilweisen Deckung des dadurch bedingten Lohnausfalls allerdings
bereits Ansprüche auf Arbeitslosenentschädigung zustanden, war der finanzielle
Engpass einigermassen zu überwinden. Es lässt sich bei einer solchen
Konstellation nicht sagen, dass der Ehepartner dauernd oder zumindest für
voraussichtlich sehr lange Zeit objektiv gar nicht in der Lage wäre, eine
Erwerbstätigkeit aufzunehmen und damit seinen Beitrag an die ehelichen
Lebenshaltungskosten zu leisten (BGE 120 V 145 E. 3b S. 148). In SVR 1997 ALV
Nr. 100 S. 305 (C 360/96) wurde festgehalten, der Wegfall von gemäss
zürcherischem Jugendhilfegesetz durch Eltern in schwierigen Verhältnissen
während zweier Jahre ab Geburt bezogenen Kinderbetreuungsbeiträgen stelle
keinen Befreiungstatbestand nach Art. 14 Abs. 2 AVIG dar. Dieser
Gesetzesartikel mache den Anspruch auf Befreiung von der Beitragszeit nicht von
der Plötzlichkeit des Eintritts der darin genannten Sachverhalte (Trennung,
Scheidung, Invalidität, Tod) abhängig. Trotzdem bestehe aber kein Zweifel, dass
es sich bei den genannten Ereignissen durchwegs um Lebenssachverhalte handle,
die programmwidrig und meist sogar unvorbereitet und plötzlich eintreten
würden. Die mit den geregelten und ähnlichen Situationen konfrontierten
Versicherten, die aus wirtschaftlicher Notwendigkeit in verhältnismässig kurzer
Zeit neu disponieren müssten, sollen begünstigt werden (SVR 1997 ALV Nr. 100 S.
305, C 360/96 E. 4a/aa).

8. Die Vorinstanz ist der Ansicht, die Aussteuerung des Ehegatten aus der
Arbeitslosenversicherung sei mit dem Konkurs des selbstständigerwerbenden
Ehepartners vergleichbar. Da letztgenanntes Ereignis als "ähnlicher Grund"
anerkannt sei (BGE 119 V 51), könne für die Aussteuerung aus der
Arbeitslosenversicherung nichts anderes gelten. Es lässt sich tatsächlich nicht
von der Hand weisen, dass die Wirkungen bei der Aussteuerung aus der
Arbeitslosenversicherung und beim Konkurs eines Selbstständigerwerbenden gleich
oder ähnlich sein können. In beiden Fällen ist nicht mehr gewährleistet, dass
der Ehepartner in finanzieller Hinsicht für sich und seine Angehörigen zu
sorgen in der Lage ist. Allerdings muss beachtet werden, dass der Konkurs eines
Selbstständigerwerbenden in der Regel
BGE 138 V 434 S. 441
unvorbereitet eintritt, währenddem sich die arbeitslose Person und ihr
Ehepartner während der arbeitslosenversicherungsrechtlichen
Leistungsrahmenfrist mit der Möglichkeit auseinandersetzen können und müssen,
dass sie bis zur Aussteuerung keine Arbeitsstelle mehr findet. Es ist dem SECO
beizupflichten, dass die Höchstzahl der Arbeitslosentaggelder jeweils lange vor
Erschöpfung des Taggeldanspruchs bekannt und die Einstellung der
Versicherungsleistungen darum für die versicherte Person voraussehbar ist.
Dementsprechend trifft sie das Versiegen der Arbeitslosentaggelder nicht
unerwartet; sie kann sich mit ihrem Ehepartner frühzeitig auf die neue
finanzielle Situation einstellen und Vorbereitungen treffen. Diese
Konstellation lässt sich mit der Einstellung der Kinderbetreuungsbeiträge nach
zürcherischem Recht (SVR 1997 ALV Nr. 100 S. 305, C 360/96) vergleichen. Da
Personen im Zeitpunkt der Aussteuerung demgemäss aus wirtschaftlicher
Notwendigkeit nicht in verhältnismässig kurzer Zeit neu disponieren müssen,
kann in der Aussteuerung des Ehepartners allein kein Befreiungsgrund im Sinne
von Art. 14 Abs. 2 AVIG liegen.

9.

9.1 Die Beschwerdegegnerin, welche ihre ausserhäusliche Beschäftigung im
Zusammenhang mit der Geburt der Kinder aufgegeben hatte, stellte unter Hinweis
auf die Aussteuerung ihres Ehepartners aus der Arbeitslosenversicherung und das
Wegfallen der Unterstützung durch die Haftpflichtversicherung des
Unfallverursachers Antrag auf Arbeitslosenentschädigung. Da das kantonale
Gericht schon in der Aussteuerung einen "ähnlichen Grund" im Sinne von Art. 14
Abs. 2 AVIG sah, hatte es in diesem Rahmen keinen Anlass, das Wegfallen der
Leistungen der Haftpflichtversicherung rechtlich zu qualifizieren. Bereits in
ihrer Einsprache gegen die ablehnende Verfügung vom 17. Mai 2010 legte die
Versicherte dar, die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers habe ab
April 2009 - nach Wegfall der Arbeitslosentaggelder des Ehemannes - monatliche
Leistungen in der Höhe der bisherigen Arbeitslosenentschädigung übernommen. Die
inzwischen abgeschlossene Umschulung zum Elektrotechniker erfülle die Vorgaben
der behandelnden Ärzte nicht, obwohl die Invalidenversicherung von einer
rentenausschliessenden Eingliederung ausgehe. Der Ehepartner der Versicherten
habe im Januar 2010 eine dreijährige Vollzeit-Ausbildung zum Naturheilpraktiker
angefangen. Nach den Angaben der Beschwerdegegnerin wurden die monatlichen
BGE 138 V 434 S. 442
Beiträge per Ende Dezember 2009 eingestellt, nachdem ihr Ehemann der
Haftpflichtversicherung dieses Vollzeitstudium im Dezember 2009 vorgestellt
hatte. In der vorinstanzlichen Beschwerde präzisiert sie, die
Haftpflichtversicherung habe die Eingliederung im Berufsfeld Elektrotechniker
im Dezember 2009 als gescheitert erachtet. Bis zu diesem Zeitpunkt sei ein
regelmässiges Einkommen für den Lebensunterhalt der Familie vorhanden gewesen,
weshalb sie nicht gezwungen gewesen sei, neben der Erziehung der zwei
mittlerweile primarschulpflichtigen Kinder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen,
was sich aber mit der Einstellung der Zahlungen durch die
Haftpflichtversicherung schlagartig geändert habe.

9.2 In diesem Zusammenhang ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die
Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers nach der Aussteuerung im April
2009 nahtlos die bisher von der Arbeitslosenkasse des Ehemannes geleisteten
Geldbeträge in gleicher Höhe erbrachte. Die Versicherte konnte also damals
zunächst davon ausgehen, dass ihre Familie finanziell abgesichert war, während
ihr Ehemann sich weiterhin um seine berufliche Wiedereingliederung kümmern
konnte. Der Einwand der Arbeitslosenkasse, wonach nicht die Aussteuerung im
April 2009, sondern der Wegfall der Leistungen der Haftpflichtversicherung im
Dezember 2009 die massgebliche Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse mit
sich gebracht habe, ist bei dieser Sachlage offensichtlich begründet.

9.3 Die Einstellung der Arbeitslosenentschädigung im April 2009 war für die
Versicherte vorhersehbar. Im Zeitpunkt der Aussteuerung wusste sie zudem
bereits, dass die Haftpflichtversicherung eine finanzielle Überbrückungshilfe
während der beruflichen Eingliederung ihres Ehemannes leisten würde. Die
Beschwerdegegnerin macht geltend, dass ausgerechnet in dem Moment, in welchem
sich ihr Ehemann für eine dreijährige, vollzeitliche Ausbildung entschieden
hatte, die Haftpflichtversicherung - abgesehen von einer substanziellen
Abschlusszahlung für den Start der Ausbildung in einem anderen Berufszweig -
jegliche weitere Unterstützung verweigert habe. Traf sie die Einstellung dieser
Leistungen im Dezember 2009 tatsächlich völlig unerwartet, so lässt sie sich in
ihrer Auswirkung und Tragweite mit den in Art. 14 Abs. 2 AVIG ausdrücklich
erwähnten Ereignissen (E. 5.1 hiervor) vergleichen (E. 7.1 hiervor). Es kann
sich dabei durchaus um einen Lebenssachverhalt handeln, welcher programmwidrig
und unvorbereitet eintrat (SVR 1997 ALV Nr. 100
BGE 138 V 434 S. 443
S. 305, C 360/96 E. 4a/aa), falls die Eheleute vom Wegfall der Leistungen der
Haftpflichtversicherung überrascht wurden und sich innert kurzer Zeit auf die
veränderten Verhältnisse einstellen mussten. Die Beschwerdegegnerin bringt
zusammenfassend vor, da sich der Ehemann verpflichtet habe, ab Anfang 2010
einen dreijährigen Studiengang zu absolvieren, und die finanzielle Versorgung
der Familie unerwartet weggefallen sei, habe sie sich, um künftig einen
massgeblichen finanziellen Beitrag zum Familienunterhalt erbringen zu können,
gezwungen gesehen, eine Erwerbstätigkeit zu suchen und sich bei der
Arbeitslosenversicherung anzumelden. Ob dieser behauptete Tatsachenverlauf
zutrifft, musste von der Vorinstanz nicht geprüft werden, da sie bereits im
Wegfall der Arbeitslosenentschädigung einen Befreiungsgrund sah. Daher ist die
Angelegenheit zur entsprechenden Sachverhaltsergänzung und erneuten
Entscheidung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Sollte sich nach
zusätzlichen Abklärungen bestätigen, dass die langjährige Rollenteilung in der
Ehe zufolge des plötzlichen, unerwarteten Dahinfallens der Leistungen des
Haftpflichtversicherers definitiv aufgegeben werden musste, so ist dieses
Ereignis als Befreiungsgrund im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG zu qualifizieren,
falls die Kausalität (vgl. E. 9.4 nachfolgend) zu bejahen ist.

9.4 Beschwerdeführerin und SECO gehen davon aus, es fehle am Kausalzusammenhang
zwischen dem Versuch der Beschwerdegegnerin, eine Anstellung zu finden, und den
veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen, da diese schon vom 17. August bis
11. September 2009, somit vor (allfälligem) Eintritt der finanziellen Notlage,
erwerbstätig gewesen sei. Wie es sich damit verhält, kann erst nach - ebenfalls
vom kantonalen Gericht zu veranlassenden - zusätzlichen Sachverhaltsabklärungen
gesagt werden. Immerhin ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass
rechtsprechungsgemäss kein strikter Kausalitätsnachweis im
naturwissenschaftlichen Sinne verlangt werden kann; vielmehr ist der
erforderliche Kausalzusammenhang bereits zu bejahen, wenn es glaubwürdig und
nachvollziehbar erscheint, dass der Entschluss zur Aufnahme einer
unselbstständigen Erwerbstätigkeit in dem als Befreiungsgrund in Frage
kommenden Ereignis mitbegründet liegt (E. 5.3 hiervor). Stellt sich heraus,
dass die kurzzeitige Tätigkeit der Beschwerdegegnerin für die E. AG zeitlich
vor dem Bekanntwerden des Versiegens der Haftpflichtversicherungsleistungen
liegt, und sollte sich deren Behauptung bestätigen, wonach sie diese Stelle nur
angetreten habe, weil sich ihr die Gelegenheit geboten habe, nach längerer
Pause in ihrem erlernten Beruf
BGE 138 V 434 S. 444
wieder Fuss zu fassen, so kann das diesfalls aus anderen Beweggründen
eingegangene Arbeitsverhältnis nicht zu einer Verneinung des
Kausalzusammenhangs führen. Auch diesbezüglich hat das kantonale Gericht
weitere Abklärungen vorzunehmen, um alsdann die Kausalitätsfrage abschliessend
beantworten zu können.
Sollte die Versicherte erst nach der - angeblich unerwarteten - Einstellung der
dem Ehemann durch die Haftpflichtversicherung gebotenen Überbrückungshilfe im
Dezember 2009 aus finanziellen Gründen gezwungen gewesen sein, in möglichst
kurzer Zeit eine Anstellung zu finden, so kann ihr der Umstand, dass sie mit
der Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung seit Wegfall der
Versicherungsleistungen Ende Dezember 2009 bis April 2010 wartete, nicht zum
Nachteil gereichen. Die zeitlichen Erfordernisse wären erfüllt, da sie sich
innert der von Art. 14 Abs. 2 Satz 2 AVIG vorgegebenen Jahresfrist seit Wegfall
der Leistungen der Haftpflichtversicherung um die Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit bemüht und Antrag auf Arbeitslosenentschädigung gestellt hat.
Ob ihr Zuwarten mit der Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung von Januar
bis April 2010 tatsächlich auf eine entsprechende Auskunft des
Arbeitsvermittlungszentrums zurückzuführen war, wie sie letztinstanzlich
vorbringt, bedarf deshalb so oder anders keiner Klärung.

9.5 Ergeben die notwendigen Abklärungen, dass ein Befreiungsgrund gegeben ist,
so kann das kantonale Gericht die weitere Anspruchsvoraussetzung der
finanziellen Zwangslage selber prüfen oder die Angelegenheit diesbezüglich -
wie im vorliegend angefochtenen Entscheid vorgesehen - an die Verwaltung
zurückweisen.

10. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Dahinfallen von Leistungen der
Haftpflichtversicherung einen Befreiungsgrund im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG
darstellen kann, falls diese als Überbrückungshilfe für den Ehepartner nach
dessen Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung erbracht wurden, um dessen
berufliche Eingliederung nach einer Umschulung sicherzustellen, und alsdann
programmwidrig bzw. unvorbereitet weggefallen sind. Die Angelegenheit muss zur
Sachverhaltsvervollständigung und erneuten Entscheidung an das kantonale
Gericht zurückgewiesen werden.