Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 402



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Urteilskopf

138 V 402

48. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für
Sozialversicherungen gegen L. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_14/2012 vom 17. September 2012

Regeste

Art. 50 Abs. 2 IVG; Art. 20 Abs. 2 AHVG; Art. 20 ATSG.
Die Wahrung des Existenzminimums ist als Schranke der Verrechnung bei
Nachzahlungen von Renten früherer Perioden dann nicht zu beachten, wenn die
nachzuzahlende Rente lediglich eine in der früheren Periode geleistete Rente
ersetzt und sich beide gegenseitig ausschliessen (E. 4.5).

Sachverhalt ab Seite 403

BGE 138 V 402 S. 403

A.a Ab 1. März 2008 bezog die altersrentenberechtigte E. Zusatzrenten der AHV
zugunsten ihres Ehemannes L. (1952). Mit Verfügung vom 5. November 2009,
ersetzt durch Verfügung vom 11. November 2010, wurde diesem selber eine Rente
der Invalidenversicherung mit Wirkung ebenfalls ab 1. März 2008 zugesprochen.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich (nachfolgend: IV-Stelle) kürzte gleichzeitig
den Betrag der nachzuzahlenden Invalidenrenten um den Betrag der im Zeitraum
vom 1. März 2008 bis und mit Oktober 2009 bezogenen Zusatzrenten der AHV,
entsprechend einer Verrechnung von insgesamt Fr. 11'320.-.

A.b Die dagegen von L. erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich mit Entscheid vom 16. November 2011 gut und wies die Sache
an die Verwaltung zurück, damit diese prüfe, ob die angeordnete Verrechnung in
das Existenzminimum eingreife, und hernach neu verfüge.

A.c Auf die dagegen vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erhobene
Beschwerde trat das Bundesgericht nicht ein (Urteil 8C_1053/2010 vom 26. Januar
2011).

A.d Am 20. Mai 2011 erliess die IV-Stelle eine neue Verfügung. In der
Begründung wies sie darauf hin, dass nach der Berechnung der grossen Härte nur
noch Fr. 1'341.- verrechnet würden bzw. Fr. 9'979.- an den Versicherten
auszurichten seien.

B. Dagegen erhob das BSV Beschwerde, die das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 14. November 2011 abwies.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt das BSV,
der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom 20. Mai 2011 seien
aufzuheben, und die IV-Stelle sei anzuweisen, die vollumfängliche Verrechnung
der bezogenen Zusatzrenten mit den nachzuzahlenden Invalidenrenten anzuordnen.
Die IV-Stelle schliesst in ihrer Vernehmlassung, welche sie durch die
Ausgleichskasse Berner Arbeitgeber erstellen liess, auf Gutheissung der
Beschwerde. L. trägt mit Eingabe vom 20. Februar 2012 auf Abweisung der
Beschwerde an.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
BGE 138 V 402 S. 404

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Unbestritten ist, dass die vom 1. März 2008 bis 31. Oktober 2009 an die
Ehefrau des Versicherten (zugunsten ihres Ehemannes) ausgerichteten
Zusatzrenten zu Unrecht geleistet wurden und zurückgefordert werden müssen,
nachdem der Versicherte ab 1. März 2008 einen eigenen Anspruch auf eine
Invalidenrente erworben hat (Art. 22^bis AHVG; Rz. 3219 der Wegleitung des BSV
über die Renten [RWL] in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung, gültig ab 1. Januar 2003, Stand 1. Januar 2008 http://
www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/75/lang:deu/category:23. Zu Recht
unbestritten ist grundsätzlich auch, dass die Forderung auf Rückerstattung von
Zusatzrenten gegenüber dem einen Ehegatten mit ausstehenden Betreffnissen einer
dem anderen Ehegatten zugesprochenen Invalidenrente verrechnet werden kann,
obwohl Schuldner und Gläubiger der beiden Forderungen nicht identisch sind (BGE
137 V 175 E. 2 S. 177; BGE 130 V 505; Urteil 9C_682/2010 vom 29. April 2011 E.
3).
Umstritten und zu prüfen ist, ob die Verrechnung des Betrages von Fr. 11'320.-
deshalb nicht zulässig ist, weil damit in das betreibungsrechtliche
Existenzminimum des Versicherten eingegriffen wird.

3.

3.1 Die Vorinstanz stützte sich namentlich auf das Urteil 9C_365/2008 vom 17.
Juni 2009, in welchem in E. 5.4 erwähnt wurde, es könne angenommen werden, dass
das betreibungsrechtliche Existenzminimum durch die Verrechnung nicht tangiert
werde. Daraus leitete das Sozialversicherungsgericht ab, die bundesgerichtliche
Rechtsprechung erachte in solchen Fällen die Wahrung des Existenzminimums als
wesentlich.

3.2 Das beschwerdeführende BSV beruft sich namentlich auf BGE 136 V 286 und das
Urteil 9C_1015/2010 vom 12. April 2011, in: SVR 2011 IV Nr. 70 S. 210 sowie Rz.
10922 RWL. Dabei macht es geltend, dass im vorliegenden Fall eine Verrechnung
der Rentennachzahlung zulässig sei, da es um eine Frage der Rentenkoordination
gehe. Nur wenn die kompensatorische Verrechnung gemäss Art. 20 AHVG zugelassen
werde, sei eine rechtsgleiche Handhabung gewährleistet, weil ansonsten der
zeitliche Faktor (verspätete Anmeldungen, Verzögerungen bei der
Rentenberechnung) zu rein zufälligen und stossenden Doppelbezügen führen würde.
BGE 138 V 402 S. 405

4.

4.1 Aus dem Urteil 9C_365/2008 kann entgegen der Vorinstanz nicht abgeleitet
werden, dass nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in Fällen, da
Rentennachzahlungen mit früheren Leistungen verrechnet werden, das
Existenzminimum einzuhalten ist. Da in jenem Verfahren aufgrund der Akten keine
Anhaltspunkte für eine mögliche Verletzung des Existenzminimums bestanden und
die Beschwerdeführerin auch nichts dergleichen geltend gemacht hatte, musste
die Frage zum Vornherein nicht geprüft werden. Im Übrigen erging das Urteil
nicht als Grundsatzentscheid (Art. 20 Abs. 2 BGG).

4.2 Das ATSG (SR 830.1) enthält keine allgemeine Verrechnungsnorm (vgl. aber
Art. 20 Abs. 2 ATSG). Art. 50 Abs. 2 IVG (in der seit 1. Januar 2003 in Kraft
stehenden Fassung) verweist für die Verrechnung auf Art. 20 Abs. 2 AHVG, welche
Bestimmung somit in der Invalidenversicherung sinngemäss Anwendung findet.
Damit statuiert Art. 50 Abs. 2 IVG eine allgemeine Verrechenbarkeit von
Beitragsforderungen, Leistungen und Leistungsrückforderungen der AHV und der IV
(ULRICH MEYER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 2. Aufl. 2010, S.
453). Die zweigintern und zweigübergreifend zulässige Verrechnung von
Leistungen und Forderungen kann sich sowohl auf laufende Renten als auch auf
Rentennachzahlungen beziehen (BGE 136 V 286 E. 4.1 S. 288). Sie darf indessen
den nach betreibungsrechtlichen Regeln zu ermittelnden Notbedarf der
versicherten Person nicht beeinträchtigen (BGE 136 V 286 E. 6.1 S. 291; BGE 131
V 249 E. 1.2 S. 252). Dabei stellt sich nach der Rechtsprechung die Frage der
Zulässigkeit der Verrechnung unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des
betreibungsrechtlichen Existenzminimums nicht nur bei einer laufenden,
monatlich ausgerichteten Rente, sondern auch bei Rentennachzahlungen, weil auch
diese zum Zweck haben, den Existenzbedarf der versicherten Person zu decken
(Art. 34^quater Abs. 2 Satz 3 aBV; Art. 112 Abs. 2 lit. b BV), und zwar in
jener Zeitspanne, für welche sie nachbezahlt werden (BGE 136 V 286 E. 6.2 S.
291; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 305/03 vom 15. Februar 2005 E. 4;
vgl. auch Urteil I 141/05 vom 20. September 2006 E. 5.3.1; kritisch dazu: FRANZ
SCHLAURI, Die zweigübergreifende Verrechnung und weitere Instrumente der
Vollstreckungskoordination des Sozialversicherungsrechts, in:
Sozialversicherungsrechtstagung 2004, S. 137 ff., 150 f.). Begründet wurde
diese Praxis teilweise damit, dass es die Verwaltung sonst in der Hand hätte,
durch Zuwarten mit dem
BGE 138 V 402 S. 406
Erlass der Rentenverfügung die Verrechnungsschranke zu umgehen (bereits
erwähntes Urteil I 141/05 E. 5.3.1 mit Hinweis auf das Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts H 153/85 vom 29. April 1986).

4.3 Diese Rechtsprechung wurde mit den beiden vom beschwerdeführenden BSV
zitierten Urteilen des Bundesgerichts bestätigt. Im bereits erwähnten Urteil
9C_1015/2010 E. 3.4 wurde die Verrechnung einer Rentennachzahlung verweigert
für einen früheren Zeitraum, in welchem der Versicherte mangels Unterstützung
durch die Sozialbehörde unter dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum gelebt
hatte. Das Bundesgericht lehnte eine Änderung der Rechtsprechung ab, wonach bei
Rentennachzahlungen die Zulässigkeit einer Verrechnung generell nicht mehr
unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des Existenzminimums zu prüfen gewesen wäre
und verwies namentlich auf den bereits im Urteil I 141/05 hervorgehobenen
Gesichtspunkt, dass es die Verwaltung sonst in der Hand hätte, durch Zuwarten
mit dem Erlass der Rentenverfügung die Verrechnungsschranke zu umgehen. In BGE
136 V 286 (E. 7 f.) wurde sodann die Verrechnung von Rentennachzahlungen mit
Schadenersatzforderungen nach Art. 52 Abs. 2 AHVG zugelassen, weil die
Sozialbehörde für den Zeitraum, für den die Renten nachbezahlt wurden,
Vorschussleistungen erbracht hatte. Könnte sich die versicherte Person in einem
solchen Fall auf das Existenzminimum berufen und die Auszahlung der
Rentennachzahlung an sich selbst verlangen, käme sie zweimal in den Genuss von
Leistungen, was nicht angehe (E. 8.1).
Damit ergibt sich aus beiden Urteilen, dass das Verrechnungsverbot dann nicht
gilt, wenn das Existenzminimum während der fraglichen Zeitspanne durch
Leistungen der Sozialhilfe gewährleistet war, und dass die Beachtung der
Verrechnungsschranke bei Nachzahlungen vor allem sicherstellen soll, dass es
nicht zufolge zeitlicher Verschiebungen von Zahlungen zu ungerechtfertigten
Nachteilen für den Versicherten kommt.

4.4 Die Frage der Verrechnung kann sich stellen gegenüber Beitragsforderungen,
Leistungen und Leistungsrückforderungen (vgl. E. 4.1 hievor). Im Hinblick auf
die Verrechnung von Nachzahlungen ist von Bedeutung, ob diese mit offenen
Beitragsforderungen oder mit Leistungsrückforderungen erfolgen soll. Im ersten
Fall entstand die Verrechnungsforderung, weil der Versicherte seine
Verpflichtungen gegenüber dem Sozialversicherer nicht erfüllte; im zweiten
Fall, weil ein Sozialversicherer Leistungen erbrachte, deren Rechtsgrund
nachträglich entfiel.
BGE 138 V 402 S. 407
Die Frage der Wahrung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums kann sich nur
in ersterem Fall stellen. Entsprechend ging es auch in den Urteilen 9C_1015/
2010 und I 141/05 darum, dass Rentennachzahlungen mit ausstehenden Beiträgen
verrechnet werden sollten. Da im relevanten Zeitraum, für welchen die
Nachzahlung erfolgen sollte, keine anderen Leistungen geflossen waren, war in
diesen Fällen zu prüfen, ob das Nicht-Erreichen des Existenzminimums der
Verrechnung entgegengehalten werden kann.
Die Situation ist jedoch eine andere, wenn im fraglichen Zeitraum Leistungen
erbracht wurden, deren Rechtsgrund nachträglich entfällt. Hier wird nur eine
Bedarfsleistung durch eine andere ersetzt. Das Bundesgericht hat in BGE 130 V
505 zum rechtlichen Verhältnis zwischen der vorerst einem Ehepartner
zugesprochenen Zusatzrente und der später zugunsten des andern Ehepartners
verfügten Invalidenrente festgehalten, der Anspruch des einen Ehepartners auf
eine Zusatzrente für den andern sei von der Bedingung abhängig, dass jener
keinen eigenen Anspruch auf eine Rente habe. Die beiden zur Diskussion
stehenden Leistungen schlössen sich somit gegenseitig aus (E. 2.6). Das
bedeute, dass die Verrechnung zuzulassen sei. In E. 2.9 des
französischsprachigen Urteils führte das Bundesgericht aus (vgl. Übersetzung
in: Pra 2005 Nr. 153 S. 1038):
Das Gegenteil zuzulassen, könnte eine wirksame Rechtsanwendung verhindern, wenn
die Höhe der Leistungen an einen Ehegatten zufolge des Eintrittes eines zweiten
Versicherungsfalles beim Ehepaar überprüft werden muss. Das
Rückerstattungsbegehren gegenüber dem Leistungsberechtigten würde sich bei
Erlass der Rückerstattung als undurchführbar erweisen. Ein solcher Erlass
müsste häufig erfolgen, weil die Voraussetzung des guten Glaubens immer erfüllt
und dann allein noch die Frage der grossen Härte zu prüfen wäre (Art. 25 ATSG
und Art. 5 ATSV [SR 830.11]; aArt. 47 Abs. 1 AHVG). In zahlreichen Fällen wird
die Bedin
gung der grossen Härte erfüllt sein, was schliesslich unvermeidbar zu einer
ungerechtfertigten Leistungskumulation führen würde, obwohl das Gesetz korrekt
angewendet wird. Diese unvermeidliche Konsequenz ergäbe sich ihrerseits daraus,
dass Entscheide, die in einem gegenseitigen Bezug zueinander stehen,
zwangsläufig in zeitlicher Hinsicht etwas auseinanderliegen.
Auch wenn es in diesem Urteil um die Begründung der Verrechenbarkeit von
Forderungen ging, deren Schuldner und Gläubiger nicht identisch sind, und sich
die obigen Ausführungen auf den Erlass bezogen, folgt daraus doch, dass
entscheidender Gesichtspunkt die Verhinderung einer ungerechtfertigten
Kumulation von zwei sich
BGE 138 V 402 S. 408
grundsätzlich gegenseitig ausschliessenden Leistungen als Folge des zeitlichen
Auseinanderfallens der Zusprache ist, und die finanzielle Situation des
Versicherten nicht dazu führen kann, diese Leistungskumulation trotzdem
zuzulassen. Im gleichen Sinn hat das Bundesgericht in früheren Urteilen auch
die Berufung auf den Härtefall nach aArt. 47 Abs. 1 AHVG ausgeschlossen, wenn
es darum gehe, dem Versicherten bereits ausbezahlte Leistungen durch gleich
hohe unter anderem Titel geschuldete zu ersetzen und die beiden Betreffnisse
miteinander zu verrechnen (BGE 122 V 221 E. 5c S. 226; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts P 8/76 vom 22. November 1976 E. 3, in: ZAK 1977 S. 194
f.). Was für die Härtefallprüfung im Rückforderungsrecht gilt, nämlich dass
Vermögen und Einkommen keine Veränderung erfahren, ist auch hinsichtlich der
Existenzminimumsschranke bei der Verrechnung zu berücksichtigen (SCHLAURI,
a.a.O., S. 152).

4.5 Die Verrechnung ist hier somit zulässig, ohne dass dem die Einhaltung des
betreibungsrechtlichen Existenzminimums entgegengehalten werden kann. Dies
entspricht auch dem oben in E. 4.2 dargelegten grundsätzlichen Ziel, dass
Rechtswirkungen nicht lediglich aus der zeitlichen Verschiebung von Zahlungen
resultieren sollen. Ebenso wenig wie die Beachtung der Verrechnungsschranke bei
Nachzahlungen sicherstellen soll, dass es nicht zufolge zeitlicher
Verschiebungen von Zahlungen zu ungerechtfertigten Nachteilen für den
Versicherten kommt, soll die zeitliche Verschiebung zu vom Gesetz grundsätzlich
ausgeschlossenen Leistungskumulationen führen.