Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 386



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

138 V 386

46. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. W. und C.
gegen Gemeinde X. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_325/2012 vom 24. August 2012

Regeste

§§ 1 und 14 des Sozialhilfegesetzes des Kantons Zürich vom 14. Juni 1981; §§ 16
Abs. 1 und 30 der Verordnung vom 21. Oktober 1981 zum Sozialhilfegesetz;
Behandlung des Überschusses im Sozialhilfebudget.
Die Frage der Anrechenbarkeit von Taggeldern der Invalidenversicherung und
andern Einkünften stellt sich so lange, als sich die Person
sozialhilferechtlich in einer Notlage befindet. Es ist nicht
bundesrechtswidrig, wenn die Sozialhilfebehörde bei laufenden, nicht immer den
tatsächlichen Bedarf deckenden, variablen Einnahmen allfällige Überschüsse
nicht monatlich abrechnet und der Person ausrichtet (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 387

BGE 138 V 386 S. 387

A. W. und C. sowie die zwei in ihrem Haushalt lebenden minderjährigen Kinder
werden von der Gemeinde X . mit wirtschaftlicher Hilfe unterstützt. In der Zeit
vom 17. Januar bis 8. April 2011 und vom 4. Mai bis 31. Juli 2011 nahm C . an
beruflichen Integrationsprogrammen der Invalidenversicherung teil. Die während
der Dauer der Eingliederungsmassnahmen entrichteten Taggelder trat die
IV-Stelle dem Sozialdienst X . ab. Aufgrund dieser zusätzlichen Einnahmen ergab
sich im Sozialhilfebudget in den Monaten März und April 2011 ein
Einnahmenüberschuss in Höhe von Fr. 635.-bzw. Fr. 176.-. Am 15. März 2011
ersuchten W. und C. die Fürsorgebehörde der Gemeinde X . (nachfolgend:
Fürsorgebehörde) um Auszahlung der Überschüsse.
Mit Entscheid vom 25. Mai 2011 trat die Fürsorgebehörde auf das Gesuch vom 15.
März 2011 nicht ein. Zur Begründung führte sie aus, bei den Taggeldern handle
es sich nicht um Rentenleistungen, sondern um Lohnersatz, welcher analog der
Praxis bei unregelmässigem Erwerbseinkommen unter Berücksichtigung der gesamten
Unterstützungsperiode mit Leistungen der Sozialhilfe zu verrechnen sei.
Den von W. und C. dagegen erhobenen Rekurs wies der Bezirksrat Bülach am 6.
Oktober 2011 ab. Der Aufsichtsbeschwerde leistete dieser in Form eines
Hinweises Folge. Das zugleich gestellte Gesuch um Beiordnung eines Anwalts als
unentgeltlichen Rechtsbeistand wurde bewilligt.

B. Gegen diesen Entscheid gelangten W. und C. an das Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich, welches die Beschwerde am 27. Februar 2012 abwies. Ebenso wies
dieses das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und
Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters für das gerichtliche
Beschwerdeverfahren ab.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lassen W. und C.
beantragen, es sei ihnen der durch Taggeldleistungen der Invalidenversicherung
zustande kommende Einnahmenüberschuss auszurichten; eventualiter sei ihnen die
unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor dem kantonalen
Verwaltungsgericht zu gewähren. Zudem wird um unentgeltliche Rechtspflege für
das letztinstanzliche Verfahren ersucht. Des Weitern verlangen sie einen
zweiten Schriftenwechsel.
Die Fürsorgebehörde schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
BGE 138 V 386 S. 388

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Streitig und zu prüfen ist, ob ein Anspruch auf Auszahlung des durch die
Ausrichtung von IV-Taggeldern im Sozialhilfebudget entstandenen Überschusses
besteht.

3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, die Zulässigkeit einer Verrechnung setze
voraus, dass für den gleichen Zeitraum Sozialhilfe- und
Invalidenversicherungsleistungen fliessen müssten (zeitliche Kongruenz) und
eine sachliche Kongruenz der miteinander indirekt zu verrechnenden Leistungen
gegeben sei. Es hat den Entscheid der Verwaltung geschützt, da mit der
Berücksichtigung der gesamten Zeitspanne des Sozialhilfebezugs als
einheitliches Ganzes die Kongruenz gewahrt bleibe. Gemäss Beschwerde ist diese
Betrachtungsweise rechtswidrig und stattdessen auf eine monatliche
Beurteilungsperiode abzustellen. Die Fürsorgebehörde sieht demgegenüber eine
längere Zeitspanne vor, um beurteilen zu können, ob sich die wirtschaftliche
Lage der Unterstützungsgemeinschaft mit Blick auf das seit Januar 2011 neu
hinzugetretene, jedoch je nach Anzahl der Eingliederungstage monatlich
unterschiedlich hoch ausgefallene IV-Taggeld des Beschwerdeführers stabilisiert
hat.

3.2 In den Erwägungen des angefochtenen Entscheids wird auf Art. 22 ATSG (SR
830.1) und Art. 85^bis IVV (SR 831.201) verwiesen. Es gilt daher zunächst
festzuhalten, dass es sich bei Taggeldern der Invalidenversicherung um
nachträglich ausgerichtete Leistungen oder um Zahlungen handeln kann, die
laufend eingehen. Nachzahlungen von Leistungen des Sozialversicherers können an
die öffentliche Fürsorge abgetreten werden, soweit diese Vorschusszahlungen
leistet (Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG). Sofern die notwendigen Voraussetzungen
erfüllt sind, können die Nachzahlungen mit der ausgerichteten Sozialhilfe
verrechnet werden. Da die IV-Taggelder vorliegend nicht nachgezahlt, sondern
laufend ausgerichtet wurden, geht es hier nicht um die Verrechenbarkeit
erbrachter Sozialhilfe mit abgetretenen Sozialversicherungsleistungen. Auch
Art. 85^bis Abs. 1 IVV, welcher die Nachzahlung an Dritte zum Gegenstand hat,
die im Hinblick auf eine Rente der Invalidenversicherung Vorschussleistungen
erbracht haben, und bei rückwirkend ausgerichteten Taggeldern sinngemäss
Anwendung findet (BGE 128 V 108), ist für die hier interessierenden Belange
nicht massgebend. Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet zudem die
Frage, ob die Voraussetzungen zur Abtretung der laufenden IV-Taggelder an die
Sozialhilfebehörde vorlagen
BGE 138 V 386 S. 389
(vgl. Art. 20 ATSG und § 19 Abs. 1 des Sozialhilfegesetzes des Kantons Zürich
vom 14. Juni 1981 [SHG; LS 851.1]).

4.

4.1 Gemäss § 1 Abs. 1 SHG sorgen die politischen Gemeinden nach Massgabe dieses
Gesetzes für die notwendige Hilfe an Personen, die sich in einer Notlage
befinden. Laut § 2 desselben Gesetzes richtet sich die Hilfe nach den
Besonderheiten und Bedürfnissen des Einzelfalls und den örtlichen Verhältnissen
(Abs. 1). Sie berücksichtigt andere gesetzliche Leistungen sowie die Leistungen
Dritter und sozialer Institutionen (Abs. 2). Wer für seinen Lebensunterhalt und
den seiner Familienangehörigen mit gleichem Wohnsitz nicht hinreichend oder
nicht rechtzeitig aus eigenen Mitteln aufkommen kann, hat Anspruch auf
wirtschaftliche Hilfe (§ 14 SHG). Zu den eigenen Mitteln gehören nach § 16 Abs.
2 der Verordnung vom 21. Oktober 1981 zum Zürcher Sozialhilfegesetz (SHV; LS
851.11) alle Einkünfte und das Vermögen (a.) der hilfesuchenden Person, (b.)
des Ehegatten, der eingetragenen Partnerin oder des eingetragenen Partners
dieser Person, sofern sie nicht getrennt leben. § 17 Abs. 1 SHV verweist für
die Bemessung der wirtschaftlichen Hilfe auf die Richtlinien der
Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien) in der Fassung der
4. überarbeiteten Ausgabe April 2005 mit den Ergänzungen 12/05, 12/07, 12/08
und 12/10. Zudem erlässt die Sicherheitsdirektion Weisungen über die Anwendung
der SKOS-Richtlinien (§ 17 Abs. 3). Nach § 30 Abs. 1 SHV plant die
Fürsorgebehörde unter Mitwirkung des Hilfesuchenden die notwendige Hilfe. Der
Hilfeplan umfasst: (a.) die zur Verbesserung der gegenwärtigen und Abwendung
künftiger Notlagen erforderlichen Massnahmen, (b.) eine Bedarfsrechnung, in der
das soziale Existenzminimum ermittelt und die anrechenbaren eigenen Mittel des
Hilfesuchenden festgestellt werden, (c.) Angaben über Art, Umfang und Dauer der
vorgesehenen Hilfe. Aus Abs. 2 ergibt sich, dass die Hilfe veränderten
Verhältnissen angepasst wird.

4.2 Aufgrund des in der Sozialhilfe geltenden Subsidiaritätsprinzips (vgl. dazu
SKOS-Richtlinien, Ausgabe 2005, A.4), wonach wirtschaftliche Hilfe prinzipiell
nur gewährt wird, wenn der Einzelne keinen Zugang zu einer anderweitigen,
zumutbaren Hilfsquelle hat (vgl. auch §§ 2 Abs. 2 und 14 SHG sowie § 16 Abs. 2
SHV), sind die verfügbaren Einkommen den anrechenbaren Ausgaben
gegenüberzustellen. Zu den sozialhilferechtlich relevanten Einkünften zählen
nebst dem Erwerbseinkommen auch laufend eingehende Leistungen wie
BGE 138 V 386 S. 390
AHV- und IV-Renten, Arbeitslosenunterstützung oder andere
Versicherungstaggelder (CLAUDIA HÄNZI, Die Richtlinien der schweizerischen
Konferenz für Sozialhilfe, 2011, S. 388 f.). Ob es sich bei den laufenden
Versicherungsleistungen um Taggelder oder Renten handelt, ist in diesem
Zusammenhang nicht massgebend. Auf die von der Verwaltung vorgenommene
Abgrenzung ist daher nicht näher einzugehen.

4.3 Die Frage der Anrechenbarkeit von Einkünften und somit auch der hier
interessierenden Taggelder der Invalidenversicherung stellt sich im
sozialhilferechtlichen Sinne so lange, als sich die bedürftige Person in einer
Notlage befindet (§ 1 SHG). Reichen die eigenen Mittel der Hilfe suchenden
Person für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familienangehörigen aus, wird
keine wirtschaftliche Hilfe mehr gewährt (§ 14 SHG und § 16 Abs. 1 SHV e
contrario). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die laufenden
Sozialversicherungsleistungen höher ausfallen als die geleistete Sozialhilfe
(vgl. SKOS-Richtlinien, A.6).

4.4

4.4.1 Eine besondere Problematik ergibt sich, wenn eine unterstützte Person
Einkommen erzielt, das nicht immer den effektiven sozialhilferechtlichen Bedarf
zu decken vermag, indem dieses im einen Monat höher als die Sozialhilfe
ausfällt und im anderen Monat ein Fehlbetrag bleibt. Bei solchen Sachverhalten
ist entscheidend, für welchen Zeitraum die Bedürftigkeit beurteilt wird und
wann gesagt werden kann, die Verhältnisse hätten sich so geändert, dass die
Hilfe angepasst oder eingestellt werden muss (§ 30 SHV). Dabei kann es zu
unterschiedlichen Ergebnissen führen, je nachdem, ob die Prüfung monatlich
erfolgt oder ob eine Gesamtperiode berücksichtigt wird.

4.4.2 Das vom Kantonalen Sozialamt Zürich herausgegebene
Sozialhilfe-Behördenhandbuch - auf welches insbesondere die Fürsorgebehörde
verweist - sieht vor, dass, wenn eine unterstützte Person über ein
unregelmässiges, nicht immer den tatsächlichen Bedarf deckendes Einkommen
(durch Gelegenheitsarbeiten, Teilzeit, Stundenlohn etc.) verfügt und daher auf
Unterstützung angewiesen ist, bei der Verrechnung der Sozialhilfe mit den
Einnahmen von der gesamten Unterstützungsperiode auszugehen ist, während der
ein Einkommen erzielt worden ist. Geprüft werden muss auch, ob eine Ablösung
vorgenommen und die Unterstützung eingestellt werden darf, wenn die monatlichen
Schwankungen mit einem Vermögen in der Höhe des
BGE 138 V 386 S. 391
Vermögensfreibetrages gemäss den SKOS-Richtlinien ausgeglichen werden kann
(Sozialhilfe-Behördenhandbuch, Fassung vom Dezember 2010, Kap. 2.5.1 S. 153
Ziff. 14). Dies empfiehlt auch die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe
(ZeSo 1999 S. 192).

4.4.3 Die Richtlinienkommission der SKOS hat sich zudem dazu geäussert, ob der
Sozialhilfeempfänger Anspruch auf den Überschuss der IV-Taggelder hat
(BERNADETTE VON DESCHWANDEN, IV-Taggelder: Hat der Klient Anspruch auf den
Überschuss?, ZESO 1/2012 S. 8). Danach sind bei laufenden, variablen Einnahmen
die Einnahmenüberschüsse im Folgemonat anzurechnen. Liegt das durchschnittliche
Einkommen über dem sozialen Existenzminimum, ist die Unterstützung zu beenden.
Diese Empfehlung gehört allerdings nicht zu den gemäss Verweis in § 17 Abs. 1
SHV zu berücksichtigenden Richtlinien.

4.5 Nach dem in E. 4.3 hievor Gesagten ist es nicht bundesrechtswidrig und
bedeutet insbesondere keine willkürliche Auslegung und Anwendung (Art. 9 BV)
der Bestimmungen des zürcherischen Sozialhilferechts, wenn die
Überschussabrechnung nicht monatlich erfolgt. Wie lange die Zeitspanne
zulässigerweise dauern darf, ist hier nicht zu beurteilen. Denn wie nachfolgend
zu zeigen ist, bietet der vorliegende Fall keinen Anlass zur Bestimmung des
genauen Abrechnungszeitraumes.