Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 377



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Urteilskopf

138 V 377

45. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen gegen S. (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_197/2012 vom 7. September 2012

Regeste

Art. 25a Abs. 5 KVG; Restfinanzierung der Pflegekosten; Zuständigkeit und
Verfahren.
Die II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichtes ist zuständig für die
Behandlung von Beschwerden, sofern diese nach Eintritt eines Leistungsfalles
erhoben werden (E. 2).
Ob eine kantonale Kompetenz zur Verfahrensregelung im Bereich der
Restfinanzierung von Pflegeleistungen besteht, wird offengelassen.
Grundsätzlich sprechen überzeugende Gründe - namentlich die Nähe zu den
Ergänzungsleistungen - für die Anwendbarkeit der verfahrensrechtlichen
Bestimmungen von Art. 56 ff. ATSG. Diese Lösung war im Kanton St. Gallen auch
vom Gesetzgeber gewollt (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 378

BGE 138 V 377 S. 378

A. Die 1915 geborene, verheiratete S. hatte ihren Wohnsitz in X., Kanton
Wallis. Im Juli 2010 trat sie in das Alterszentrum Y., Kanton St. Gallen, ein
und meldete sich am 6. Dezember 2010 beim Einwohneramt an; das Einwohneramt
vermerkte den Zuzug per 21. Oktober 2010. Nachdem S. um Pflegefinanzierung
ersucht hatte (Anmeldung vom 31. Dezember 2010; eingegangen bei der
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen am 3. Februar 2011), ergab
sich zwischen der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen und der
Ausgleichskasse des Kantons Wallis eine Kontroverse betreffend Zuständigkeit
für die Kostenübernahme. Mit Verfügung vom 5. Juli 2011 verneinte die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen ihre Zuständigkeit und trat
auf das Gesuch um Pflegefinanzierung nicht ein.

B. Hiegegen erhob S. Beschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung der Verfügung
sei die Sozialversicherungsanstalt anzuweisen, auf das Gesuch um
Pflegefinanzierung einzutreten. Auch das Gesundheitsdepartement des Kantons
Wallis führte Beschwerde mit demselben Rechtsbegehren. Das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen vereinigte die Verfahren, trat auf die Beschwerden mit
Entscheid vom 19. Januar 2012 nicht ein und entschied, diese seien
zuständigkeitshalber dem kantonalen Departement des Innern zu überweisen.

C. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des
angefochtenen Entscheids sowie die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur
(materiellen) Entscheidung.
Das Versicherungsgericht und der Kanton Wallis verzichten auf eine
Vernehmlassung, S. und das Departement des Innern des Kantons St. Gallen
schliessen auf Gutheissung der Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Restfinanzierung im Bereich der Pflegekosten betrifft eine Leistung,
die nicht von der obligatorischen Krankenversicherung
BGE 138 V 377 S. 379
getragen wird. Es fragt sich daher, ob die Zuständigkeit zur Behandlung der
Beschwerde bei der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts liegt
(Art. 35 lit. d des Reglements vom 20. November 2006 für das Bundesgericht
[BgerR; SR 173.110.131]) oder bei der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
(Art. 30 Abs. 1 lit. c Ziff. 14 BgerR).

2.2 Für die Zuteilung eines Geschäfts an eine Abteilung ist die Rechtsfrage
massgeblich, auf der das Schwergewicht der Entscheidung liegt, wobei von der
reglementarischen Geschäftsverteilung im Einzelfall aufgrund der Natur des
Geschäfts und seiner Konnexität mit anderen Geschäften abgewichen werden kann.
Vorausgesetzt wird eine Einigung der Präsidenten und Präsidentinnen der
betroffenen Abteilungen (Art. 36 Abs. 1 und 2 BgerR). Im Rahmen des Verfahrens
2C_796/2011 (zur Publikation vorgesehenes Urteil vom 10. Juli 2012) erfolgte
ein Meinungsaustausch zwischen der II. öffentlich-rechtlichen und der II.
sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts, welcher ergab, dass
Streitigkeiten nach Eintritt eines Leistungsfalles in die Zuständigkeit der II.
sozialrechtlichen Abteilung fallen, wenn - allenfalls auch nur im Hintergrund -
sozialversicherungsrechtliche Leistungen umstritten sind, wozu auch die
kantonale Restfinanzierung der Pflegekosten gehört. Die übrigen - abstrakten -
spital- und pflege(finanzierungs)rechtlichen Streitigkeiten sind als
Angelegenheiten des öffentlichen Gesundheitsrechts von der II.
öffentlich-rechtlichen Abteilung zu beurteilen. Damit ist die Zuständigkeit der
II. sozialrechtlichen Abteilung für die Behandlung der vorliegenden Beschwerde
gegeben und es ist auf diese einzutreten.

3. Streitig ist die innerkantonale Zuständigkeit zur Beurteilung der
Rechtmässigkeit des Nichteintretensentscheides der Sozialversicherungsanstalt.
In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Rechtsfrage, ob auf
Streitigkeiten betreffend die Pflegefinanzierung (Art. 25a KVG) die
(verfahrensrechtlichen) Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) zur
Anwendung gelangen. Trifft dies zu, richtet sich der Rechtsweg nach Art. 56 ff.
ATSG und es ist das kantonale Versicherungsgericht zuständig.

4.

4.1 Die Vorinstanz erwog, Art. 25a Abs. 5 KVG sei mit Art. 41 Abs. 3 Satz 1 KVG
(Kostenübernahme bei Hospitalisation in einem nicht auf der Spitalliste des
Wohnkantons aufgeführten Spital)
BGE 138 V 377 S. 380
vergleichbar. Nach der Rechtsprechung zu Art. 41 KVG ergebe sich die
Zuständigkeit des Versicherungsgerichtes trotz fehlendem Vorbehalt in Art. 1
Abs. 2 KVG nicht aus dem ATSG, sondern es sei das kantonale Recht massgebend.
Obwohl die Differenzzahlungspflicht gemäss Art. 41 Abs. 3 Satz 1 KVG
sozialversicherungsrechtlicher Natur sei, gälten die Kantone nicht als
Versicherer im Sinne des KVG, weshalb nicht das kantonale Versicherungsgericht
gestützt auf das ATSG zuständig sei. Nichts anderes könne für die
Pflegefinanzierung gemäss Art. 25a Abs. 5 KVG gelten, welche ebenfalls
Subventionscharakter habe und nicht das Verhältnis zwischen Versicherten und
Krankenversicherung beschlage. Zudem falle die Regelung von Zuständigkeit und
Verfahren im Bereich der Restfinanzierung grundsätzlich - als selbstständiges
kantonales Recht - in die Kompetenz der Kantone. Auch aus diesem Grund könne
das ATSG keine Anwendung finden. Zuständig sei vielmehr nach Art. 43^bis Abs. 1
lit. a des Gesetzes des Kantons St. Gallen vom 16. Mai 1965 über die
Verwaltungsrechtspflege (sGS 951.1) in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 lit. i
Geschäftsreglement der Regierung und der Staatskanzlei vom 7. Dezember 1951
(sGS 141.3) das kantonale Departement des Innern.

4.2 Die beschwerdeführende Sozialversicherungsanstalt rügt, die Vorinstanz habe
zu Unrecht das ATSG für nicht anwendbar erklärt. Zum einen sehe das KVG im
Bereich der Pflegefinanzierung nicht ausdrücklich eine Abweichung vom ATSG vor.
Zum anderen sei die Rechtsprechung zur Differenzzahlungspflicht der Kantone
nicht einschlägig. Das Bundesgericht habe zwar Streitigkeiten zwischen
Versicherern und Kantonen nicht unter Art. 1 Abs. 2 lit. d KVG subsumiert,
hingegen explizit offengelassen, ob im Rahmen von Art. 41 Abs. 3 KVG die
verfahrensrechtliche Ordnung des ATSG zur Anwendung gelange (BGE 130 V 215 E.
5.5 S. 224). Die Pflegefinanzierung sei weder vom ATSG ausgenommen noch lege
die Vorinstanz dar, weshalb das ATSG-Verfahren für die Beurteilung der damit
zusammenhängenden Fragen nicht geeignet sein solle, was zugleich die
Begründungspflicht verletze. Die Nichtanwendbarkeit des ATSG wäre mit vielen
Nachteilen verbunden und nicht zuletzt sei die Pflegefinanzierung häufig
verfahrensmässig mit den Ergänzungsleistungen gekoppelt, so dass ein
Verfahrenssplitting für die Durchführungsstellen wie auch für die Betroffenen
zu unhaltbaren Situationen führte. Das Gesetzgebungsverfahren lasse darauf
schliessen, dass die Anwendbarkeit des ATSG auf die Pflegefinanzierung dem
erklärten Willen des
BGE 138 V 377 S. 381
Gesetzgebers entsprochen habe. Den Kantonen komme überdies praktisch
Versicherereigenschaft zu.

5.

5.1 Das KVG regelt - entsprechend seiner Verfassungsgrundlage (Art. 117 BV) -
nicht das gesamte schweizerische Gesundheitswesen, sondern einzig die soziale
Krankenversicherung (Art. 1a Abs. 1 KVG). Zwar waren unter der bis Ende 2010
geltenden Regelung ärztlich angeordnete Pflegemassnahmen in Pflegeheimen
grundsätzlich Pflichtleistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
(Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG in der bis 31. Dezember 2010 gültig gewesenen
Fassung) und unterstanden an sich dem Tarifschutz gemäss Art. 44 KVG. Weil die
festgelegten Tarife (aArt. 9a Abs. 2 KLV; in Kraft bis 31. Dezember 2010) nicht
kostendeckend waren, wurde dieser Tarifschutz in der Praxis nicht voll
umgesetzt, was zu einer unbefriedigenden und intransparenten Situation führte,
welcher mit der Neuordnung der Pflegefinanzierung im Bundesgesetz vom 13. Juni
2008 über die Neuordnung der Pflegefinanzierung (AS 2009 3517 ff.) begegnet
wurde. Die neuen Bestimmungen sollen einerseits die bisherige sozialpolitisch
schwierige Situation vieler pflegebedürftiger Personen entschärfen, zugleich
aber eine zusätzliche Belastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
verhindern. Deshalb wurde einerseits im Gesetz ausdrücklich festgelegt, dass
die Krankenversicherung nicht die gesamten Pflegekosten übernimmt, sondern nur
einen Beitrag daran leistet (Art. 25a Abs. 1 KVG). Anderseits begrenzte der
Gesetzgeber aus sozialpolitischen Gründen die von den Heimbewohnern zu
leistenden Pflegekosten betragsmässig (Art. 25a Abs. 5 KVG) und erleichterte
zugleich für bedürftige Heimbewohner die Bezahlung dieser Pflegekosten durch
eine Erhöhung der Ergänzungsleistungen (vgl. die Revision von Art. 10 und 11
ELG [SR 831.30] durch das Bundesgesetz über die Neuordnung der
Pflegefinanzierung). Der verbleibende Betrag, der weder von der
Krankenversicherung noch von den Bewohnern bezahlt wird, ist von der
öffentlichen Hand (Kanton oder Gemeinden) zu übernehmen, was im Gesetz nicht
klar gesagt, aber gemeint ist (Urteil 2C_864/2010 vom 24. März 2011 E. 4.2 mit
zahlreichen Hinweisen). Für die Regelung der Restfinanzierung sind die Kantone
zuständig (Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG).

5.2 Die Restfinanzierung der Pflegekosten betrifft somit weder den Umfang der
Grundversorgung noch die Leistungspflicht der Grundversicherung, sondern das
Ausmass einer Vergütung, die nicht von
BGE 138 V 377 S. 382
der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu bezahlen ist.
Leistungserbringer sind - je nach kantonaler Regelung - Kantone oder Gemeinden,
also Personen öffentlichen Rechts, die grundsätzlich nicht dem KVG unterstellt
sind, zumal sie ihre Leistungen nicht zu Lasten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung abrechnen. Vor dem Hintergrund dieser Besonderheiten
ist die beispielsweise im Kanton Thurgau statuierte, vom ATSG abweichende
Verfahrensregelung zu sehen, welche das Departement für Finanzen und Soziales
zur Beurteilung von Rekursen gegen Einspracheentscheide der kantonalen
Ausgleichskasse als zuständig erklärt (§ 36 der Verordnung des Regierungsrates
des Kantons Thurgau vom 20. Dezember 2011 zum Gesetz über die
Krankenversicherung [RB 832.10]; ob die Kantone hiezu kompetent sind, wird
offengelassen; E. 5.3 hienach).

5.3 Die Umsetzungsbestimmungen des Kantons St. Gallen zur Restfinanzierung der
Pflegekosten enthalten weder eigene verfahrensrechtliche Regeln noch verweisen
sie auf das ATSG. Ob die den Kantonen in Art. 25a Abs. 5 KVG eingeräumte
Kompetenz, mit Blick darauf, dass im Bundesgesetz über die Pflegefinanzierung
auf eine explizite Anwendbarkeitserklärung des ATSG verzichtet wurde, weil
diese selbstverständlich sei (vgl. hiezu auch die Empfehlungen zur Umsetzung
der Neuordnung der Pflegefinanzierung der Schweizerischen Konferenz der
kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren vom 22. Oktober 2009,
Vorbemerkung S. 3 http://www.gdk-cds.ch unter Empfehlungen), sich auch auf das
Verfahrensrecht erstreckt oder nur die Finanzierungsmodalitäten im engeren Sinn
umfasst, braucht hier nicht abschliessend geprüft zu werden. Wie im Folgenden
dargelegt wird, hält der vorinstanzliche Entscheid selbst dann nicht vor
Bundesrecht stand, wenn von einer kantonalen Regelungskompetenz auszugehen wäre
mit entsprechend eingeschränkter Kognition des Bundesgerichts (nicht publ. E.
1.2).

5.4

5.4.1 Zunächst ergibt sich entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen die
Nichtanwendbarkeit der verfahrensrechtlichen Bestimmungen von Art. 56 ff. ATSG
im Bereich der Restfinanzierung von Pflegeleistungen nicht aus der
Rechtsprechung zur - ebenfalls von den Kantonen zu übernehmenden -
Differenzzahlungspflicht bei ausserkantonaler Spitalbehandlung gemäss Art. 41
Abs. 3 KVG. Das Bundesgericht hat in jenem Zusammenhang entschieden (BGE 130 V
215), Zuständigkeit und Verfahren zur Geltendmachung und allfälligen
gerichtlichen Durchsetzung auf kantonaler Ebene bleibe auch
BGE 138 V 377 S. 383
nach Inkrafttreten des ATSG weiterhin grundsätzlich Sache der Kantone (BGE 130
V 215 E. 6.3.2 S. 225 f.). Es erwog, die sozialversicherungsrechtliche Natur
der Verpflichtung vermöge nichts daran zu ändern, dass die Kantone keine
Versicherer im Sinne des KVG seien, so dass Streitigkeiten nach Art. 41 Abs. 3
KVG nicht unter Art. 1 Abs. 2 lit. d KVG fielen. Der Subventionscharakter der
Kostenbeteiligungspflicht als versicherungsfremdes Element lasse die Kantone
qualifiziert anders erscheinen als die Versicherer. Ob die verfahrensrechtliche
Ordnung des ATSG anwendbar ist, liess das Bundesgericht offen (BGE 130 V 215 E.
5.5 S. 224). In einer weiteren Erwägung stellte es fest, bei Streitigkeiten
zwischen Krankenversicherern und Kantonen betreffend die
Differenzzahlungspflicht gemäss Art. 41 Abs. 3 KVG seien drei
Verfahrensordnungen möglich: Nebst den Verfahrensvorschriften des ATSG käme das
Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG; SR 172.021) kraft Art. 55 Abs. 1 ATSG oder
(weiterhin) kantonales Recht in Frage.

5.4.2 Selbst wenn die den Kantonen in Art. 25a Abs. 5 KVG übertragene
Regelungskompetenz auch das Verfahrensrecht umfassen würde (vgl. E. 5.3
hievor), spricht nach dem Gesagten nichts gegen eine kantonale Norm, welche die
Anwendbarkeit der ATSG-Normen statuiert. In einigen Kantonen ist eine
entsprechende Regelung denn auch Gesetz geworden (z.B. § 17 des Gesetzes des
Kantons Luzern vom 31. September 2010 über die Finanzierung der
Pflegeleistungen der Krankenversicherung [Pflegefinanzierungsgesetz; SRL 867]
oder § 16 der Pflegefinanzierungsverordnung des Kantons Schwyz vom 3. November
2010 [SRS 361.511]; § 11 Abs. 1 der Verordnung des Kantons Aargau vom 8.
Dezember 2010 über die Umsetzung des Bundesgesetzes über die Neuordnung der
Pflegefinanzierung [SAR 301.213]).

5.5 Für die Anwendbarkeit des ATSG im Rahmen von Art. 25a Abs. 5 KVG sprechen
mehrere überzeugende Gründe. Zunächst sind nach Art. 1 Abs. 1 KVG die
Bestimmungen des ATSG auf die Krankenversicherung anwendbar, soweit das KVG
nicht ausdrücklich eine Abweichung vorsieht. Unter den - allerdings nicht
abschliessenden - Ausnahmen gemäss Art. 1 Abs. 2 KVG findet sich die
Restfinanzierung der Pflegekosten nicht, zudem sieht das KVG diesbezüglich
keine Abweichungen vom ATSG vor. Sodann sind keine Argumente ersichtlich
(solche werden im angefochtenen Entscheid auch nicht angeführt), weshalb das
Verfahrensrecht des ATSG für die Beurteilung von Ansprüchen nach Art. 25a Abs.
5 KVG nicht geeignet sein
BGE 138 V 377 S. 384
soll. Mit Blick auf die enge Verbindung der Ansprüche nach Art. 25a Abs. 5 KVG
mit den Ergänzungsleistungen (EL), die sich verfahrensrechtlich nach dem ATSG
richten, erscheint die Anwendbarkeit des ATSG vielmehr als sachgerecht: Nicht
nur installierte das Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung
mit der Restfinanzierung der stationären Langzeitpflege einen den EL
vorgelagerten Kostenträger (mit entsprechender Entlastung der Pflegebedürftigen
sowie auch der EL) und erhöhte die Vermögensfreibeträge mit entsprechender
Erweiterung des Kreises der EL-Anspruchsberechtigten. Auch und vor allem stellt
sich die Frage nach der Restfinanzierung von Pflegeleistungen häufig dann, wenn
Ansprüche auf Ergänzungsleistungen ebenfalls im Raum stehen (vgl. auch E. 5.6
hienach). Für die (mutmasslich) Anspruchsberechtigten bedeutete es eine -
vermeidbare - verfahrensrechtliche Erschwerung, wenn die beiden Ansprüche auf
zwei unterschiedlichen Rechtswegen geltend zu machen wären.

5.6 Entscheidend ist aber der Wille des (kantonalen) Gesetzgebers. Nach dem
erklärten Willen der Regierung des Kantons St. Gallen sollte der Aufwand für
die Restfinanzierung möglichst gering gehalten werden, weshalb mit Blick
darauf, dass "sich die Zuständigkeit des Kantons und seiner Gemeinden an den EL
orientiert", eine EL-nahe Abwicklung sachgerecht scheine (Botschaft vom 22.
Oktober 2007 zum Gesetz über die Pflegefinanzierung; Amtsblatt des Kantons St.
Gallen Nr. 29 vom 19. Juli 2010 S. 2236). Aus diesem Grund wurde auf
Gesetzesebene auch eine Zuständigkeit der kantonalen Sozialversicherungsanstalt
begründet (Art. 10 Gesetz vom 13. Februar 2011 über die Pflegefinanzierung [sGS
331.2]). Im Bericht und Entwurf des Departementes des Innern und des
Gesundheitsdepartementes vom 27. April 2010 zum Gesetz über die
Pflegefinanzierung führten diese zum Verfahren wörtlich aus: "Nach Art. 2 ATSG
kommen für das Verfahren grundsätzlich die Bestimmungen des ATSG zur Anwendung,
wenn und soweit es die einzelnen Sozialversicherungsgesetze des Bundes
vorsehen. Art. 1 Abs. 1 KVG erklärt die Bestimmungen des ATSG auf die
Krankenversicherung als anwendbar, soweit das KVG nicht ausdrücklich eine
Abweichung vorsieht. In Bezug auf die Neuregelung der Finanzierung nach Art.
25a nKVG sieht das KVG weder eine Abweichung vor, noch sind Bereiche als Ganzes
ausdrücklich vom Geltungsbereich des ATSG ausgenommen. Damit sind auch die
entsprechenden kantonalen Ausführungsbestimmungen grundsätzlich dem ATSG
unterstellt. Unter diesen
BGE 138 V 377 S. 385
Umständen kann auf eine weitere Regelung im kantonalen Erlass verzichtet
werden. Hingegen ist im neuen Gesetz aus Gründen der Transparenz die Regelung
aufzunehmen, dass sich das Verfahren nach dem ATSG richtet, soweit der Erlass
selbst keine Bestimmungen enthält." Ein "kostengünstiger, transparenter und
einfacher Ablauf" namentlich unter Nutzung von Synergien mit den
Ergänzungsleistungen entsprach nicht zuletzt mit Blick darauf, dass von den -
damals - rund 6'000 im Kanton St. Gallen von der neuen Pflegefinanzierung
betroffenen Personen rund 3'000 EL-Bezüger waren, auch den Intentionen der
vorberatenden Kommission (Protokoll der Sitzung vom 23. August 2010 der
vorberatenden Kommission, S. 4 f.). Dass im Folgenden eine explizite
Anwendbarkeit des ATSG nicht Eingang in das kantonale Recht fand - und
verfahrensrechtlich überhaupt keine Regelung erlassen wurde -, ist vor dem
Hintergrund zu sehen, dass der kantonale Gesetzgeber - in Übereinstimmung mit
entsprechenden Informationen des Bundesamtes für Gesundheit - davon ausging,
mit Blick auf die selbstverständliche Anwendbarkeit des ATSG bestehe kein
kantonaler Regelungsbedarf (in diesem Sinne auch die letztinstanzlich
aufgelegte Auskunft der Staatskanzlei St. Gallen vom 7. Juni 2010). Der
angefochtene Entscheid widerspricht diesem gesetzgeberischen Willen, weshalb er
unabhängig davon nicht geschützt werden kann, ob eine kantonale Kompetenz zur
Verfahrensregelung im Bereich der Restfinanzierung von Pflegeleistungen
besteht. Damit ist die Zuständigkeit des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen zu bejahen und die Sache an dieses zum materiellen Entscheid
zurückzuweisen.