Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 339



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Urteilskopf

138 V 339

42. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle
des Kantons St. Gallen gegen O. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_302/2012 vom 13. August 2012

Regeste

Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG; Art. 57 Abs. 1 lit. g IVG; Art. 41 Abs. 1 lit. i IVV
in Verbindung mit Art. 62 Abs. 1^bis ATSG; Art. 61 lit. d ATSG;
Beschwerdelegitimation der IV-Stellen.
Die IV-Stelle ist legitimiert, den Entscheid des kantonalen Gerichts mit dem
Antrag an das Bundesgericht weiterzuziehen, es sei - abweichend von der
Verfügung - keine Invalidenrente zuzusprechen (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 339

BGE 138 V 339 S. 339

A. Mit Verfügung vom 21. Dezember 2009 sprach die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen (nachfolgend: IV-Stelle) dem 1947 geborenen O. eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung ab 1. Juni 2007 zu, dies in Berücksichtigung u.a. der
Gutachten des Dr. med. K., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom
27. Mai 2008 und des Zentrums A. vom 20. Juni 2008.

B. In Gutheissung der Beschwerde des O. hob das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 19. März 2012 die
BGE 138 V 339 S. 340
Verfügung vom 21. Dezember 2009 auf und sprach dem Versicherten eine halbe
Rente ab dem 1. September 2006 zu.

C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 19. März 2012 sei aufzuheben und es sei
festzustellen, dass O. keinen Rentenanspruch hat.
O. beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Versicherungsgericht
und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der Beschwerde von Amtes wegen und
mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; vgl. BGE 135 II 94 E. 1 S. 96; Urteil
9C_959/2009 vom 19. Februar 2010 E. 2.1).

2. Der angefochtene Entscheid spricht dem Beschwerdegegner eine halbe Rente der
Invalidenversicherung ab 1. September 2006 zu. Die Beschwerde führende
IV-Stelle beantragt, es sei festzustellen, dass kein Rentenanspruch bestehe. Im
selben Sinne hatte sie sich schon in der vorinstanzlichen Vernehmlassung
geäussert, nachdem sie mit der angefochtenen Verfügung den Anspruch auf eine
Viertelsrente ab 1. Juni 2007 bejaht hatte.

2.1 Gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen
hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a), durch den
angefochtenen Entscheid oder Erlass besonders berührt ist (lit. b) und ein
schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat (lit. c). Auf
diese in erster Linie auf Privatpersonen zugeschnittene Beschwerdebefugnis kann
sich auch eine Behörde berufen, sofern sie nicht nur ein öffentliches Interesse
an der richtigen Durchführung des Bundesrechts, sondern wie ein Privater ein
bestimmtes, eigenes finanzielles Interesse verfolgt oder aber in schutzwürdigen
eigenen hoheitlichen Interessen berührt ist (BGE 133 V 188 E. 4.3.2 S. 192 mit
Hinweisen). Dazu reicht der Umstand allein nicht aus, im Rechtsmittelverfahren
unterlegen zu sein (BGE 134 II 45 E. 2.2.1 S. 47 mit Hinweisen). Heisst ein
kantonales Versicherungsgericht die Beschwerde gegen die Verfügung einer
BGE 138 V 339 S. 341
IV-Stelle gut, indem es einen Rentenanspruch bejaht oder eine höhere Rente
zuspricht, kann diese den betreffenden Entscheid mangels eines schutzwürdigen
Interesses im Sinne von Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG daher nicht ans Bundesgericht
weiterziehen. Der Beschwerdeführerin kann somit nicht gestützt auf diese
Bestimmung die Rechtsmittelbefugnis zuerkannt werden.

2.2 Nach Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG sind ferner zur Beschwerde berechtigt
Personen, Organisationen und Behörden, denen ein anderes Bundesgesetz dieses
Recht einräumt.

2.3 Nach Art. 62 ATSG (SR 830.1) kann gegen Entscheide der kantonalen
Versicherungsgerichte nach Massgabe des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni
2005 beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden (Abs. 1). Der Bundesrat
regelt das Beschwerderecht der Durchführungsorgane der einzelnen
Sozialversicherungen vor dem Bundesgericht (Abs. 1^bis). Gemäss Art. 57 IVG
gehört zu den Aufgaben der IV-Stellen u.a. der Erlass der Verfügungen über die
Leistungen der Invalidenversicherung (Abs. 1 lit. g). Der Bundesrat kann ihnen
weitere Aufgaben zuweisen (Abs. 2). Der gestützt auf diese Delegationsnorm
erlassene Art. 41 IVV (SR 831.201) nennt namentlich die Stellungnahme in
Beschwerdefällen und die Erhebung von Beschwerden beim Bundesgericht (Abs. 1
lit. i). Diese Regelung stellt eine hinreichende gesetzliche Grundlage im Sinne
von Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG dar (BGE 134 V 53 E. 2.2 S. 56 f.). Danach kommt
derjenigen IV-Stelle, welche die Verfügung erlassen und am vorinstanzlichen
Verfahren teilgenommen hat, Rechtsmittelbefugnis zu (vgl. auch Art. 201 Abs. 1
Satz 1 AHVV [SR 831.101] in Verbindung mit Art. 89 IVV; BGE 130 V 514 E. 4.1 S.
516; BERNHARD WALDMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl.
2011, N. 64 in fine und Fn. 277 zu Art. 89 BGG). Die Beschwerdeführerin war
somit grundsätzlich berechtigt, den vorinstanzlichen Entscheid, der ihre
Verfügung über eine Viertelsrente aufhebt und dem Versicherten eine halbe Rente
zuspricht, beim Bundesgericht anzufechten.

2.3.1 Das spezialgesetzliche Beschwerderecht nach Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG
bedarf nicht des Nachweises der Voraussetzungen gemäss Art. 89 Abs. 1 lit. b
und c BGG, insbesondere ist kein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder
Änderung des angefochtenen Entscheids erforderlich (BGE 134 V 53 E. 2.2.2 in
fine S. 57; BGE 106 V 139 E. 1 S. 141; vgl. WALDMANN, a.a.O., N. 45 und 64a zu
Art. 89 BGG; ALAIN WURZBURGER, in: Commentaire de la LTF [Loi sur
BGE 138 V 339 S. 342
le Tribunal fédéral], 2009, N. 43 zu Art. 98 BGG). Da die IV-Stelle im
Beschwerdeverfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht die Stellung einer
Partei mit allen Rechten und Pflichten (BGE 105 V 188; ISABELLE HÄNER, Die
Beteiligten im Verwaltungsverfahren, 2000, S. 155 f.; FRITZ GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 1983, S. 177 und 179) hat, setzt auch ihre
Rechtsmittelbefugnis indessen voraus, dass sie durch den Entscheid beschwert
ist (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 199/06 vom 30. Oktober 2006 E.
2.2 mit Hinweisen zu dem insoweit gleichen Art. 103 lit. c OG [SEILER/VON WERDT
/GÜNGERICH, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2007, N. 60 zu Art. 89 BGG;
WURZBURGER, a.a.O., N. 17 zu Art. 89 BGG]). Beschwert ist die IV-Stelle, wenn
sie mit ihren Anträgen nicht oder nur teilweise durchgedrungen ist (SVR 2006 IV
Nr. 48 S. 176, I 586/04 E. 1.2; vgl. auch BGE 123 II 115 E. 2a S. 117 und
Urteil 2C_769/2009 vom 22. Juni 2010 E. 2.1). Dies trifft vorliegend zu. Die
Beschwerdeführerin hatte in der vorinstanzlichen Vernehmlassung beantragt, es
sei festzustellen, dass kein Rentenanspruch bestehe; das kantonale
Versicherungsgericht sprach dem Versicherten indessen eine halbe Rente (ab 1.
September 2006) zu.

2.3.2 Es fragt sich, wie im Kontext der Umstand zu werten ist, dass die am
Recht stehende IV-Stelle mit der vorinstanzlich angefochtenen Verfügung einen
Rentenanspruch nicht verneint, sondern eine Viertelsrente (ab 1. Juni 2007)
zugesprochen hatte.

2.3.2.1 Nach Art. 61 lit. d ATSG ist das Versicherungsgericht nicht an die
Begehren der Parteien gebunden (Satz 1). Es kann eine Verfügung oder einen
Einspracheentscheid zu Ungunsten der Beschwerde führenden Person ändern oder
dieser mehr zusprechen, als sie verlangt hat, wobei den Parteien vorher
Gelegenheit zur Stellungnahme sowie zum Rückzug der Beschwerde zu geben ist
(Satz 2). Danach ist es zulässig, wenn eine IV-Stelle, wie im vorliegenden
Fall, im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren weniger beantragt (kein
Rentenanspruch), als sie selber mit der angefochtenen Verfügung zugesprochen
hat (Viertelsrente; vgl. SVR 2002 IV Nr. 40 S. 125, I 730/01 E. 3).

2.3.2.2 Mit der in Satz 1 von Art. 61 lit. d ATSG statuierten fehlenden Bindung
an die Parteibegehren wird die Verwirklichung des objektiven Rechts über das
subjektive Rechtsschutzinteresse gestellt (BGE 137 V 314 E. 3.2.2 S. 319 mit
Hinweisen). Diese Entscheidung des Bundesgesetzgebers für das Verfahren vor dem
BGE 138 V 339 S. 343
kantonalen Versicherungsgericht muss im Prozess vor Bundesgericht
berücksichtigt werden. Ein bereits erstinstanzlich gestelltes Begehren der
IV-Stelle, selbst wenn es eine Verschlechterung gegenüber dem Verfügten
bedeutet, ist daher auch letztinstanzlich zulässig (in diesem Sinne Urteil
9C_959/2009 vom 19. Februar 2010 E. 2.2; vgl. auch SVR 2006 IV Nr. 13 S. 47, I
628/01; anders und nach dem Gesagten abzulehnen SVR 2002 IV Nr. 40 S. 125, I
730/01 E. 3). Ebenfalls für diese Lösung spricht, dass in Konstellationen wie
der vorliegenden auf die Beschwerde der IV-Stelle ohnehin einzutreten wäre,
soweit der angefochtene Entscheid mehr zuspricht, als sie verfügt hat.
Satz 2 von Art. 61 lit. d ATSG gibt zu keiner anderen Betrachtungsweise Anlass.
Durch diese Vorschrift wird zwar die prozessrechtliche Stellung der Beschwerde
führenden Person verstärkt, indem bei einem Rückzug des Rechtsmittels die
angefochtene Verfügung formell rechtskräftig wird (BGE 109 V 278 E. 2 S. 280;
UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 95 zu Art. 61 ATSG). Sie macht
indessen die Interessenabwägung zugunsten der Verwirklichung des objektiven
Rechts in Satz 1 nicht wieder rückgängig. Nur ist auch Art. 61 lit. d Satz 2
ATSG letztinstanzlich zu berücksichtigen. Erachtet das Bundesgericht, anders
als das kantonale Versicherungsgericht, die eine Rente zusprechende Verfügung
der IV-Stelle als gesetzwidrig, ist der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben
und die Sache an dieses zurückzuweisen, damit es der versicherten Person
Gelegenheit zum Rückzug der Beschwerde gibt, sofern nicht schon die Vorinstanz
das Verfahren nach Art. 61 lit. d Satz 2 ATSG durchgeführt hat.

2.3.3 Unzulässig ist es, wenn die IV-Stelle erstmals vor Bundesgericht weniger
beantragt, als sie verfügt oder im kantonalen Verfahren anbegehrt hat (Art. 99
Abs. 2 BGG; BGE 136 V 362 E. 4.2 S. 367).

2.4 Nach dem Gesagten ist die auch den weiteren formellen Anforderungen
genügende Beschwerde zulässig, und es ist darauf einzutreten.
(...)

6. Damit wird der Beschwerdegegner schlechtergestellt, als er es aufgrund der
Verfügung vom 21. Dezember 2009 (Viertelsinvalidenrente) war. Die Sache ist
daher zur Durchführung des Verfahrens nach Art. 61 lit. d ATSG an die
Vorinstanz zurückzuweisen (vgl.
BGE 138 V 339 S. 344
E. 2.3.2.2). Sollte der Beschwerdegegner die vorinstanzliche Beschwerde
zurückziehen, ist die IV-Stelle daran zu erinnern, dass eine Aufhebung der
Verfügung vom 21. Dezember 2009 betreffend Viertelsrente, vorbehältlich der
Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG, nur nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Betracht
fiele, wobei die Wiedererwägungsvoraussetzungen in Anbetracht des in E. 3 und 4
(hier nicht publ.) Gesagten kaum erfüllt sein dürften (vgl. statt vieler BGE
131 V 414 E. 2 S. 417 mit Hinweis; SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213, 9C_994/2010 E.
3.2.1).