Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 286



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Urteilskopf

138 V 286

34. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. S. gegen
Eidgenössische Ausgleichskasse (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_690/2011 vom 16. Juli 2012

Regeste

Art. 3 Abs. 1 lit. b FamZG; Art. 1 Abs. 1 FamZV; Art. 25 Abs. 5 AHVG.
Wird nach der Maturität kein Studium aufgenommen, sondern eine Berufslehre
absolviert, kann die Maturität nur dann als erster Schritt einer
kontinuierlichen Ausbildung betrachtet werden, wenn sie im Rahmen der weiteren
Ausbildung eine gewisse Auswirkung findet, etwa im Sinne einer verkürzten
Ausbildungsdauer oder als alternative Zulassungsvoraussetzung (E. 4.3).

Sachverhalt ab Seite 287

BGE 138 V 286 S. 287

A. S. ist bei der Bundesverwaltung angestellt. Für seinen 1989 geborenen Sohn,
welcher am 19. Juni 2009 die Matura abgeschlossen (Schuljahresende per 31.
August 2009) und anschliessend die Rekrutenschule (29. Juni bis 20. November
2009) besucht hatte, bezog er eine Ausbildungszulage bis und mit August 2009.
Am 24. Oktober 2009 ersuchte er um Ausbildungszulagen u.a. für seinen Sohn.
Dieser absolvierte vom 8. März 2010 bis 31. März 2011 ein Praktikum, um danach
die Lehre als Tierpfleger zu beginnen. Die Eidgenössische Ausgleichskasse
(nachfolgend: EAK) sprach S. mit Verfügung vom 12. November 2010 für seinen
Sohn ab dem 1. März 2010 eine Ausbildungszulage zu, verneinte jedoch einen
Anspruch für die Zeit vom 1. September 2009 bis 28. Februar 2010. Daran hielt
sie mit Einspracheentscheid vom 4. Januar 2011 fest.

B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde
mit Entscheid vom 21. Juli 2011 ab.

C. S. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und es seien ihm für
seinen Sohn für die Zeit vom 1. September 2009 bis 28. Februar 2010
Ausbildungszulagen auszurichten.
Die EAK schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D. Mit Eingabe vom 25. April 2012 hält S. an seinem Begehren fest.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Streitig ist, ob dem Sohn des Beschwerdeführers auch der Zeitraum vom 1.
September 2009 bis 28. Februar 2010 als Ausbildungszeit anzuerkennen ist und
demnach ein Anspruch auf eine Ausbildungszulage besteht.
BGE 138 V 286 S. 288

4.

4.1 Nach Art. 3 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über die
Familienzulagen (Familienzulagengesetz, FamZG; SR 836.2) werden
Ausbildungszulagen ab Ende des Monats, in welchem das Kind das 16. Altersjahr
vollendet, bis zum Abschluss der Ausbildung ausgerichtet, längstens jedoch bis
zum Ende des Monats, in welchem das Kind das 25. Altersjahr vollendet. Sowohl
im Parlament wie zuvor auch schon in den Kommissionen gab es zum Begriff der
Ausbildung in Art. 3 Abs. 1 FamZG keine einlässlichen Diskussionen (vgl. etwa
AB 2005 N 288 und AB 2005 S 714; Protokoll der nationalrätlichen Kommission vom
30. Juni bis 2. Juli 2004, S. 14 und der ständerätlichen Kommission vom 2./3.
Mai 2005, S. 25). Aus den Materialien zum FamZG ergeben sich demnach keine
Hinweise auf eine selbstständige Auslegung des Begriffs Ausbildung und deren
Unterbrechung oder Beendigung.

4.2 Art. 1 Abs. 1 der Verordnung vom 31. Oktober 2007 über die Familienzulagen
(Familienzulagenverordnung, FamZV; SR 836.21) statuiert, dass ein Anspruch auf
eine Ausbildungszulage für jene Kinder besteht, die eine Ausbildung im Sinne
des Art. 25 Abs. 5 AHVG absolvieren.

4.2.1 Art. 25 Abs. 5 Satz 2 AHVG beauftragt den Bundesrat, den Begriff der
Ausbildung zu regeln, was dieser mit den auf den 1. Januar 2011 in Kraft
getretenen Art. 49^bis und 49^ter AHVV (SR 831.101) getan hat. Entgegen der
Darlegung im vorinstanzlichen Entscheid kommen daher Art. 49^bis und 49^ter
AHVV nicht zur Anwendung, da sie im massgebenden Zeitpunkt (September 2009 bis
Februar 2010) noch nicht in Kraft standen. Gleichwohl können die Materialien zu
Art. 49^bis und 49^ter AHVV beigezogen werden, da sie vornehmlich den zuvor von
Verwaltungs- und Gerichtspraxis entwickelten allgemeinen Grundsätzen
entsprechen. Das BSV hat in seinen Erläuterungen zu diesen beiden neuen
Verordnungsnormen festgehalten, angesichts des heute doch beachtlichen
Erwerbsersatzes, den bereits Rekruten während ihres Dienstes erhalten,
rechtfertige es sich, während Ausbildungsunterbrüchen wegen Zivil- oder
Militärdienstes grundsätzlich keine Waisen- und Kinderrenten mehr fliessen zu
lassen; eine Ausnahme sei nur dann zuzulassen, wenn die Dienstzeit in die
unterrichtsfreie Zeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten gelegt werde, so
dass eine am Stück absolvierte Rekrutenschule nur noch ausnahmsweise als
Ausbildungszeit gelte. Abschliessend wird festgehalten, Art. 49^ter AHVV
begrenze die Leistungspflicht auf
BGE 138 V 286 S. 289
objektiv notwendige Ausbildungsunterbrüche, was grundsätzlich der bisherigen
Praxis entspreche.

4.2.2 Es kann somit für die nähere Bestimmung des Begriffes Ausbildung sowie
deren Unterbrechung und Beendigung auf die Gerichts- und Verwaltungspraxis,
namentlich die Weisungen des BSV (hier: Wegleitung zum Bundesgesetz über die
Familienzulagen FamZG [FamZWL] www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/3635/
lang:deu/category:103/lang:deuin Verbindung mit der Wegleitung über die Renten
in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung,
[RWL] www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:23/lang:deu) abgestellt
werden (vgl. dazu auch KIESER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Familienzulagen,
2010, N. 36 zu Art. 3 FamZG). Danach gelten Personen, welche während der
Ausbildung Militär- oder Zivildienst leisten, weiterhin als in Ausbildung
begriffen, wenn sie sich bis zum Eintritt in den Militär- oder Zivildienst in
Ausbildung befanden und diese nach dem geleisteten Dienst bei nächstmöglicher
Gelegenheit fortsetzen (Rz. 3370 RWL in der von 1. Januar 2008 bis 31. Dezember
2010 geltenden Fassung). So liegt keine Unterbrechung der Ausbildung vor, wenn
ein Maturand das Hochschulstudium infolge Absolvierung des obligatorischen
Militärdienstes hinausschiebt, weil die Ausbildung mit der Matura in der Regel
nicht abgeschlossen wird; dies gilt selbst für den Fall der Aufnahme einer
lückenfüllenden Erwerbstätigkeit (BGE 100 V 164). Die Rechtsprechung hat auch
zwischen Unterbruch einer Ausbildung und Abbruch einer Ausbildung mit Aufnahme
einer anderen Ausbildung unterschieden, wobei nur in solchen Fällen der
Anspruch nicht verloren ging, in welchen die begonnene Ausbildung wieder
aufgenommen oder zumindest durch eine solche abgelöst wurde, welche eine
normale Fortsetzung der Ausbildung darstellte (BGE 102 V 208 E. 3 in fine S.
211, auch in: ZAK 1977 S. 265).

4.2.3 Das BSV hat sich auch in seinen Erläuterungen zur FamZV (
www.news.admin.ch/message/index.html?lang=de&msg-id=15365) zum Begriff der
Ausbildung in Zusammenhang mit den Ausbildungszulagen geäussert. Unter den
Begriff der Ausbildung fallen danach ordentliche Lehrverhältnisse sowie
Tätigkeiten zum Erwerb von Vorkenntnissen für ein Lehrverhältnis, aber auch
Kurs- und Schulbesuche, wenn sie der berufsbezogenen Vorbereitung auf eine
Ausbildung oder der späteren Berufsausübung dienen. Bei Kurs- und
BGE 138 V 286 S. 290
Schulbesuchen sind Art der Lehranstalt und Ausbildungsziel unerheblich, soweit
diese im Rahmen eines ordnungsgemässen, (faktisch oder rechtlich) anerkannten
Lehrganges eine systematische Vorbereitung auf das jeweilige Ziel bieten.
Danach gilt nur als Bestandteil der Ausbildung, wenn zwischen diesem und dem
Berufsziel ein Zusammenhang besteht.

4.3 Mit der Erlangung der Matura ist in der Regel die Ausbildung nicht
abgeschlossen, sondern sie ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einem
Hochschulstudium (vgl. dazu etwa BGE 100 V 164; Urteil der AHV-Rekurskommission
des Kantons Zürich vom 13. Juli 1993, in: SVR 1994 KZ Nr. 5 S. 9, oder Urteil
9C_910/2008 vom 28. Januar 2009). Wird nach der Matura kein Studium
aufgenommen, sondern eine Berufslehre absolviert, so kann die Matura insofern
als erster Schritt einer kontinuierlichen Ausbildung betrachtet werden, wenn
sie im Rahmen der weiteren Ausbildung wenigstens eine gewisse Anerkennung
findet. Dies trifft zu, wenn sie auf die weitere Ausbildung einen konkreten
Einfluss hat. Somit liegt ein Unterbruch in der Ausbildung vor, wenn sich die
Matura als erster Schritt einer planmässigen Ausbildung auf diese auswirkt,
etwa indem sie anstelle einer bereits abgeschlossenen ersten Berufslehre
Voraussetzung für den Beginn eines Ausbildungsziels ist (z.B. bei Berufen in
Gesundheitswesen oder Hotellerie) oder wenn sich die Ausbildungsdauer infolge
der Matura verkürzt; hingegen liegen ein Abbruch und eine Wiederaufnahme der
Ausbildung vor, wenn die Matura, welche zwar ein gute Allgemeinbildung
vermittelt, keinen Niederschlag im Ablauf oder in der Dauer der Ausbildung
findet.

4.4 Die ordentliche Lehre als Tierpfleger setzt eine abgeschlossene Grundschule
voraus und dauert drei Jahre, wobei nebst der praktischen Ausbildung im
Lehrbetrieb der Besuch der Berufsfachschule sowie von überbetrieblichen Kursen
obligatorisch ist. Eine verkürzte Lehre von ein bis zwei Jahren ist möglich,
sofern die auszubildende Person über einen Abschluss in einem verwandten Beruf
verfügt. Bei "Quereinsteigern" beträgt die Ausbildungsdauer ein bis drei Jahre,
wobei die praktische Ausbildung im Rahmen eines Praktikums oder in einem
Lehrbetrieb absolviert wird und der Besuch der Berufsfachschule sowie der
überbetrieblichen Kurse freiwillig erfolgt; Voraussetzung für "Quereinsteiger"
sind ein Berufsabschluss (Lehre oder Matura), fünf Jahre Berufserfahrung
(einschliesslich der Lehre) sowie drei Jahre Erfahrung in der Tierpflege im
Zeitpunkt der Abschlussprüfung.
BGE 138 V 286 S. 291

4.5 Für die hier vorzunehmende Abgrenzung zwischen Unterbruch einer
(kontinuierlichen) Ausbildung einerseits und Abbruch einer Ausbildung und
Aufnahme einer neuen Ausbildung andererseits spielt der Grund der "Lücke" in
der Ausbildung keine Rolle. Insofern ist unerheblich, ob diese "Lücke" durch
die Absolvierung der Rekrutenschule entsteht oder aus anderen Gründen. Denn ein
Leistungsanspruch während der Absolvierung von Militär- oder Zivildienst
besteht nach konstanter Praxis nicht grundsätzlich, sondern nur, wenn die
begonnene Ausbildung nach Leistung des Militär- oder Zivildienstes bei der
nächstmöglichen Gelegenheit fortgesetzt wird (vgl. etwa Urteil 9C_283/2010 vom
17. Dezember 2010 E. 3.2 mit Verweis auf ZAK 1967 S. 550, I 141/67). Dabei ist
unbeachtlich, ob die Ausbildung nach der Matura mit einem Hochschulstudium oder
einem anderen Lehrgang fortgesetzt wird; massgebend ist jedoch, dass es sich
insgesamt um eine kontinuierliche Ausbildung handelt (vgl. E. 4.3 sowie Urteil
9C_910/2008 vom 28. Januar 2009 E. 3, wo von der "erforderlichen Kontinuität
der Ausbildung" die Rede ist).

5. Die vom Sohn des Beschwerdeführers begonnene Lehre als Tierpfleger dauert
drei Jahre und umfasst nebst der praktischen Tätigkeit im Lehrbetrieb auch den
Besuch der berufsspezifischen Fächer der Berufsschule; hingegen ist er vom
Besuch der allgemeinbildenden Fächer angesichts der bestandenen Matura
dispensiert. Somit profitiert der Sohn des Beschwerdeführers von seiner Matura
insofern, als ihm ein Teil der schulischen Ausbildung während der Lehre
erlassen wird. An der gesamten Ausbildungszeit ändert sich jedoch nichts, da er
- zusätzlich zu einem einjährigen Praktikum - die ordentliche Zeit von drei
Jahren Lehre absolviert. Demnach unterscheidet sich seine Lehre nicht
wesentlich von der ordentlichen Lehre zum Tierpfleger einer Person, die
lediglich über einen Grundschulabschluss verfügt, und es kann nicht gesagt
werden, er habe von seiner Vorbildung (Matura) erheblich profitiert, etwa durch
eine Verkürzung der Ausbildungsdauer, wie es angesichts der anwendbaren
Bestimmungen grundsätzlich möglich und unter Berücksichtigung des einjährigen
Praktikums im Lehrbetrieb vor Antritt der Lehre auch bezüglich der notwendigen
praktischen Voraussetzungen zu erwarten wäre. Damit stellen die Matura und die
Lehre zum Tierpfleger keine kontinuierliche Ausbildung dar, sondern es liegt
ein Abbruch der Ausbildung mit Aufnahme einer neuen Ausbildung nach
Absolvierung der Rekrutenschule vor. Dies wird denn auch dadurch bestätigt,
dass der Beschwerdeführer in seinem
BGE 138 V 286 S. 292
Leistungsgesuch vom 24. Oktober 2009 kein Ausbildungsziel für seinen Sohn
angeben konnte. Das Dahinfallen des Anspruchs auf Familienzulage ist denn auch
nicht durch die Absolvierung des Militärdienstes begründet, sondern in der
fehlenden Kontinuität der Ausbildung. Vorinstanz und Verwaltung haben demnach
zu Recht einen Anspruch auf Ausbildungszulagen für die Zeit vom September 2009
bis Februar 2010 verneint.