Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 248



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Urteilskopf

138 V 248

30. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. W. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_498/2011 vom 3. Mai 2012

Regeste

Art. 6 Abs. 1 UVG; adäquate Unfallkausalität bei Tinnitus.
Bei einem Tinnitus, der sich keiner organisch objektiv ausgewiesenen
Unfallfolge zuordnen lässt, kann der adäquate Kausalzusammenhang zum Unfall,
wie bei anderen organisch nicht ausgewiesenen Beschwerdebildern, nicht ohne
besondere Prüfung bejaht werden (Bereinigung der Rechtsprechung; E. 5).

Sachverhalt ab Seite 249

BGE 138 V 248 S. 249

A. Der 1949 geborene W. war als Betriebsleiter in der Firma F. tätig und
dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch
gegen Unfallfolgen versichert, als er am 26. August 2008 einen Unfall erlitt.
Er wurde als Lenker eines Rennfahrrades von einem aus einer Querstrasse
einmündenden, nicht vortrittsberechtigten Personenwagen angefahren und zu Boden
geworfen. W. wurde zunächst im Spital N. ambulant behandelt. Dort wurden eine
Rippenkontusion links und eine Kontusion am linken Sternoclaviculargelenk
diagnostiziert (Spitalberichte vom 27. und 29. August 2008). Der in der Folge
aufgesuchte Hausarzt stellte folgende Diagnosen: "Kontusion/Subluxation des
Sternoclavikulargelenks, reaktiv ziehende Schmerzen im Bereich der
Halsmuskulatur lateral links und im Verlauf auch zunehmend störender Tinnitus
links". Zudem habe eine zahnärztliche Untersuchung zwei Zahnfrakturen ergeben.
Der Hausarzt bestätigte bis 7. September 2008 eine volle und danach eine
hälftige Arbeitsunfähigkeit (hausärztlicher Bericht vom 30. September 2008).
Die SUVA gewährte Heilbehandlung und richtete Taggeld aus. Per 28. Februar 2009
trat W. infolge vorzeitiger Pensionierung aus der Firma F. aus. Mit Verfügung
vom 29. September 2009 schloss die SUVA den Fall auf den 31. Oktober 2009
folgenlos ab. Sie begründete dies damit, der noch geklagte Tinnitus sei
organisch nicht objektiv nachgewiesen und stehe nicht in einem adäquaten
Kausalzusammenhang zum Unfall vom 26. August 2008. Damit bestehe kein Anspruch
auf weitere Leistungen. Die Adäquanz prüfte der Versicherer nach der sog.
Schleudertrauma-Praxis. Die vom Krankenpflegeversicherer des W. hiegegen
vorsorglich eingereichte Einsprache wurde wieder zurückgezogen. Die Einsprache
des Versicherten wies die SUVA mit Entscheid vom 21. Juli 2010 ab.

B. W. führte Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung von Verfügung und
Einspracheentscheid der SUVA sei diese zu verpflichten, die gesetzlichen
Leistungen über den 31. Oktober 2009 hinaus zu erbringen. In der Begründung
machte er geltend, es liege ein typisches Beschwerdebild bei Schleudertrauma
vor; die adäquate Unfallkausalität sei in Anwendung der Schleudertrauma-Praxis
und der daraus folgenden Adäquanzkriterien zu bejahen. Sodann begründe der
durch einen Unfall verursachte Tinnitus auch selbstständig und ohne Anwendung
der Schleudertrauma-Praxis einen Leistungsanspruch.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die Beschwerde mit
Entscheid vom 10. Mai 2011 ab. Der Tinnitus sei organisch
BGE 138 V 248 S. 250
nicht als Unfallfolge ausgewiesen. Es liege sodann keine Verletzung vor, welche
die Anwendung der Schleudertrauma-Praxis bei der Beurteilung des adäquaten
Kausalzusammenhangs rechtfertigen könnte. Dieser sei daher nach der sog.
Psycho-Praxis zu prüfen und zu verneinen.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt W. die
Aufhebung des kantonalen Entscheids beantragen und sein vorinstanzliches
Leistungsbegehren erneuern.
Mit nachträglicher Eingabe vom 7. Juli 2011 lässt W. ein von der Eidg.
Invalidenversicherung eingeholtes medizinisches Gutachten vom 31. Mai 2011
einreichen.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D. (...)

E. Das Bundesgericht hat am 3. Mai 2012 eine publikumsöffentliche Beratung
durchgeführt.
Es weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Streitig und zu prüfen ist, ob aus dem Unfall vom 26. August 2008 über den
31. Oktober 2009 hinaus Anspruch auf Leistungen der obligatorischen
Unfallversicherung besteht. Als gegebenenfalls leistungsbegründendes Leiden
steht dabei der diagnostizierte Tinnitus zur Diskussion. Umstritten ist, ob der
Tinnitus in einem genügenden kausalen Zusammenhang zum Unfall vom 26. August
2008 steht.

4. Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid die Rechtsprechung zum
für einen Leistungsanspruch gemäss UVG erforderlichen natürlichen und adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität, Tod) im Allgemeinen (BGE 129 V 177 E. 3.1 und 3.2 S.
181) sowie bei organisch objektiv ausgewiesenen Unfallfolgen und bei natürlich
unfallkausalen, aber organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden im
Besonderen zutreffend dargelegt.
Hervorzuheben ist, dass die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der sich aus
dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers im
Bereich organisch objektiv ausgewiesener
BGE 138 V 248 S. 251
Unfallfolgen praktisch keine Rolle spielt, da sich hier die adäquate weitgehend
mit der natürlichen Kausalität deckt (BGE 134 V 109 E. 2 S. 111 f.; BGE 127 V
102 E. 5b/bb S. 103). Sind die geklagten Beschwerden natürlich unfallkausal,
aber nicht organisch objektiv ausgewiesen, so ist die Adäquanz besonders zu
prüfen. Dabei ist vom augenfälligen Geschehensablauf auszugehen, und es sind
gegebenenfalls weitere unfallbezogene Kriterien einzubeziehen (BGE 134 V 109 E.
2.1 S. 111 f.). Hat die versicherte Person beim Unfall eine Verletzung
erlitten, welche die Anwendung der Schleudertrauma-Rechtsprechung rechtfertigt,
so sind hiebei die durch BGE 134 V 109 E. 10 S. 126 ff. präzisierten Kriterien
massgebend. Ist diese Rechtsprechung nicht anwendbar, so sind grundsätzlich die
Adäquanzkriterien, welche für psychische Fehlentwicklungen nach einem Unfall
entwickelt wurden (BGE 115 V 133 E. 6c/aa S. 140; sog. Psycho-Praxis),
anzuwenden (BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 111 f.; vgl. zum Ganzen auch: Urteil 8C_216
/2009 vom 28. Oktober 2009 E. 2, nicht publ. in: BGE 135 V 465, aber in: SVR
2010 UV Nr. 6 S. 25; SVR 2011 UV Nr. 10 S. 35, 8C_584/2010 E. 2).
Es finden sich sodann Urteile, in welchen besondere Grundsätze zur
Kausalitätsbeurteilung bei Tinnitus festgehalten wurden. Darauf wird
nachfolgend näher eingegangen.

5. Umstritten und als Erstes zu prüfen ist, ob der über den 31. Oktober 2009
hinaus bestandene Tinnitus organisch objektiv ausgewiesen ist, mit der Folge,
dass auf eine besondere Adäquanzprüfung verzichtet werden kann.

5.1 Die Rechtsprechung umschreibt den Begriff der organisch objektiv
ausgewiesenen Unfallfolge - als Differenzierungsmerkmal für das Erfordernis
einer Adäquanzprüfung - wie folgt:
Objektivierbar sind Untersuchungsergebnisse, die reproduzierbar und von der
Person des Untersuchenden und den Angaben des Patienten unabhängig sind. Von
organisch objektiv ausgewiesenen Unfallfolgen kann somit erst dann gesprochen
werden, wenn die erhobenen Befunde mit apparativen/bildgebenden Abklärungen
bestätigt wurden und die hiebei angewendeten Untersuchungsmethoden
wissenschaftlich anerkannt sind (erwähntes Urteil 8C_216/2009 E. 2; vgl. auch
erwähntes Urteil 8C_584/2010 E. 2).

5.2 Der vorliegend diagnostizierte Tinnitus wie auch eine ihm zugrunde liegende
organische Schädigung konnten nicht mit apparativen/bildgebenden Abklärungen
bestätigt werden. Das ist insoweit
BGE 138 V 248 S. 252
nicht umstritten. Es fragt sich, ob der Tinnitus dennoch als organisch objektiv
ausgewiesene Unfallfolge betrachtet werden kann.
Der Beschwerdeführer bejaht dies unter Berufung auf die Urteile des Eidg.
Versicherungsgerichts (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche
Abteilungen des Bundesgerichts) U 116/03 vom 6. Oktober 2003 und des
Bundesgerichts 8C_1048/2009 vom 16. April 2010. Danach sei der bei ihm gegebene
Tinnitus als organisch objektiv ausgewiesene Unfallfolge zu betrachten, womit
der adäquate Kausalzusammenhang ohne Weiteres zusammen mit dem natürlichen
Kausalzusammenhang zu bejahen sei.

5.3 Im Urteil U 116/03 E. 2.1 (in: RKUV 2004 S. 246) wurde erkannt, ein
Tinnitus könne bis auf seltene Ausnahmen nicht objektivierbar erfasst werden.
Das hindere die Medizin indessen nicht, diesen nach von der Rechtsprechung
anerkannten Kriterien zu bestimmen, wobei eine optimale Beurteilung durch
wiederholtes Befragen sowie ausführliche Untersuchungen mit den anerkannten und
üblichen audiologischen Methoden zum Ziel führe. Beim Tinnitus handle es sich
um ein körperliches Leiden, dessen eigentliche Ursache in einem kleineren oder
grösseren Innenohrschaden zu suchen sei. Bei organischen Unfallfolgen decke
sich die adäquate, d.h. rechtserhebliche Kausalität weitgehend mit der
natürlichen Kausalität. Demnach sei im zu beurteilenden Fall - bei gegebenem
natürlichem - auch der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis
und dem diagnostizierten schweren Tinnitus zu bejahen.
Im Urteil 8C_1048/2009 vom 16. April 2010 E. 6 hielt das Bundesgericht an den
erwähnten Grundsätzen zur Organizität des Tinnitus und dessen Verursachung
durch einen Innenohrschaden fest. Im Urteil 8C_451/2009 vom 18. August 2010 E.
5.3 erwog es sodann, die Objektivierung eines Tinnitus könne zwar Probleme
bereiten. Es erscheine aber möglich, mittels medizinischer
Untersuchungsmassnahmen die Plausibilität eines Tinnitus zu verifizieren, den
Grad seiner Intensität zu bestimmen und andere Ursachen als den Unfall
auszuschliessen.

5.4 Die Vorinstanz hat hiezu erkannt, das Bundesgericht habe das im Urteil U
116/03 Gesagte im Urteil 8C_390/2010 vom 20. Juli 2010 relativiert resp.
präzisiert. Sie verweist dabei auf folgende Ausführungen in E. 2.4 dieses
Urteils:
"Soweit die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf das Urteil U 116/03 (...)
geltend macht, ihr Tinnitus sei als objektivierbare organische
BGE 138 V 248 S. 253
Gesundheitsschädigung zu sehen, ist (...) festzuhalten, dass im angerufenen
Urteil ein schwerer Tinnitus im Grenzbereich zu den sehr schweren Fällen zur
Diskussion stand, was hier nicht zutrifft. (...). Unter diesen Umständen aber
ist im Tinnitus der Beschwerdeführerin - unabhängig davon, ob an dem nicht als
Grundsatzentscheid ergangenen Urteil U 116/03 festgehalten wird - keine
organisch ausgewiesene natürlich kausale Unfallfolge zu erblicken mit der
Konsequenz, dass der Adäquanzfrage praktisch keine selbstständige Bedeutung
mehr zukäme."
Das kantonale Gericht ist sodann zum Ergebnis gelangt, im vorliegenden Fall
bringe der Tinnitus gemäss den medizinischen Berichten zwar durchaus gewisse
Beeinträchtigungen mit sich. Von einem schweren Tinnitus sei aber nicht
auszugehen. Demnach rechtfertige es sich nicht, den hier diagnostizierten
Tinnitus als organisch ausgewiesene natürlich kausale Unfallfolge zu
betrachten. Dies habe zur Folge, dass die Adäquanz gesondert zu prüfen sei.

5.5 Der Beschwerdeführer macht geltend, er leide entgegen der vorinstanzlichen
Beurteilung an einem schweren bis sehr schweren Tinnitus und mithin an einer
organischen Unfallfolge im Sinne der erwähnten Rechtsprechung.

5.6 Die ärztlichen Berichte äussern sich unterschiedlich zum Schweregrad des
Tinnitus. Ein Teil der Aussagen spricht für eine eher leichte Ausprägung.
Andere Berichte gehen von einem hohen Schweregrad aus. Es lässt sich nicht
verlässlich auf die eine oder die andere Auffassung abstellen. Dies bedürfte
mithin ergänzender medizinischer Abklärung. Das macht aber nur dann Sinn, wenn
abhängig vom Schweregrad des Tinnitus tatsächlich auf eine objektivierbare
organische Unfallfolge geschlossen werden kann. Diese Frage wurde bislang nicht
im Rahmen eines Grundsatzentscheides behandelt und bedarf näherer Betrachtung.

5.7

5.7.1 In der medizinischen Lehre wird als Tinnitus ein regelmässiges, mehr oder
weniger dauernd vorhandenes, in einem Ohr oder beiden Ohren lokalisiertes
diffus im Kopf empfundenes Geräusch definiert. Die Patienten verwenden
Bezeichnungen wie Pfeifen, Rauschen, Sausen, Läuten, Brummen usw. (MUMENTHALER/
MATTLE, Neurologie, 11. Aufl. 2002, S. 700). Gemäss einer anderen Umschreibung
werden als Tinnitus Auris oder kurz Tinnitus akustische Wahrnehmungen
bezeichnet, welche keinen externen akustischen Quellen zugeordnet werden können
(MATÉFI/ROSENTHAL, Tinnitus aus versicherungsmedizinischer Sicht, SUVA
Medizinische Mitteilungen, Heft
BGE 138 V 248 S. 254
79 2008 S. 66 ff., 67; vgl. auch M. KOMPIS UND ANDERE, Tinnitus, Therapeutische
Umschau 1/2004 S. 15 ff.). Tinnitus wird auch als subjektiver Höreindruck, der
nicht auf der Stimulation durch einen äusseren Schallreiz beruht, aber als
solcher empfunden wird, erklärt (WOLFGANG HAUSOTTER, Neurologische und
psychosomatische Aspekte bei der Begutachtung des Tinnitus [nachfolgend:
Aspekte],Der medizinische Sachverständige 1/2004 S. 5 ff.; vgl. auch: derselbe,
Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen [nachfolgend:
Begutachtung], 2. Aufl. 2004, S. 174; BERNARD MONTAIN, Des bruits dans les
oreilles: Les Acouphènes, 1997, S. 11). Ein weiterer Wortlaut geht dahin, dass
Tinnitus eine auditorische Empfindung ist, die ohne äussere akustische oder
elektrische Reizung entsteht und die keinen subjektiven Informationsgehalt hat
(RUDOLF PROBST, in: Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Probst/Grevers/Iro [Hrsg.], 3.
Aufl. 2008, S. 233).

5.7.2 Tinnitus lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten einteilen. Hier
von Interesse ist vorab die Unterscheidung, welcher ein Teil der medizinischen
Lehre das Begriffspaar "objektiver" und "subjektiver" Tinnitus zuordnet (vgl.
etwa: MATTLE/MUMENTHALER, Kurzlehrbuch Neurologie, 3. Aufl. 2011, S. 294; FRANK
ROSANOWSKI, Tinnitus, 5. Aufl. 2010, S. 60; MUMENTHALER/MATTLE, a.a.O., S. 700;
MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 67; HAUSOTTER, Aspekte, a.a.O., S. 5; derselbe,
Begutachtung, a.a.O., S. 174; MONTAIN, a.a.O., S. 11 f.; kritisch zu diesem
Begriffspaar: PROBST, a.a.O., S. 233). Danach bezeichnet der sog. objektive
Tinnitus ein Ohrgeräusch, welches aufgrund pathologisch-anatomischer
Veränderungen entsteht und grundsätzlich auch für Aussenstehende - allenfalls
mit technischen Hilfsmitteln - hörbar wird. Meist handelt es sich um
gefässreiche Missbildungen, Tumore oder um muskulär bedingte Schallgeräusche.
Der subjektive, resp. besser "nicht objektive" Tinnitus wird einzig durch den
Betroffenen gehört und stellt die weitaus häufigste Form dar (MATÉFI/ROSENTHAL,
a.a.O., S. 67; vgl. auch MATTLE/MUMENTHALER, a.a.O., S. 294; ROSANOWSKI,
a.a.O., S. 51, MUMENTHALER/MATTLE, a.a.O., S. 700; HAUSOTTER, Begutachtung,
a.a.O., S. 174 und 176 f.; PROBST, a.a.O., S. 233). Der objektive Tinnitus wird
auch als "Körpergeräusch" bezeichnet (Tinnitus: Kann man die Ohrgeräusche
messen?, Interview mit GERHARD GOEBEL, dezibel 5/2009 S. 14 f., 15; BERNHARD
KELLERHALS, Grundprobleme der Tinnitus-Hilfe aus medizinischer Sicht, S. 2
http://www.laermorama.ch/laermorama/modul_ohrenschuetzen/tinnitus_w.html
[besucht am 7. Dezember
BGE 138 V 248 S. 255
2011]). Es finden sich sodann statt der Bezeichnungen objektiver und
subjektiver Tinnitus auch die - inhaltlich gleich umschriebenen - Begriffspaare
objektivierbarer und nicht objektivierbarer Tinnitus (KOMPIS UND ANDERE,
a.a.O., S. 16; vgl. auch PROBST, a.a.O., S. 233) resp. acouphènes manifestes
und acouphènes non objectivables (MONTAIN, a.a.O., S. 33 und 37).
Die genannten Definitionen unterscheiden sich bei genauer Betrachtung lediglich
in begrifflicher, nicht aber in inhaltlicher Hinsicht. Zur einfacheren
Nachvollziehbarkeit wird daher im Folgenden das Begriffspaar objektiver/
subjektiver Tinnitus verwendet. Für die vorliegende Beurteilung ist der
subjektive Tinnitus von Interesse.

5.8 Die Rechtsprechung gemäss Urteil U 116/03 (und den darauf gestützten
Folgeentscheiden) beruht auf der Annahme, beim Tinnitus handle es sich um ein
körperliches Leiden, dessen eigentliche Ursache in einem kleineren oder
grösseren Innenohrschaden zu suchen sei (E. 5.3 hievor). Daraus wird
abgeleitet, dass bei gegebenem natürlichem Kausalzusammenhang zum Unfall der
adäquate Kausalzusammenhang ohne besondere Prüfung bejaht werden kann.

5.8.1 Im Urteil U 116/03 wurde hiebei auf das Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts U 71/02 vom 27. März 2003 E. 6.1 Bezug genommen. Dieses
wiederum verweist bei der betreffenden Aussage zu Organizität und Ursache des
Tinnitus auf den bereits erwähnten (E. 5.7.2 hievor) Aufsatz von BERNHARD
KELLERHALS, Grundprobleme der Tinnitus-Hilfe aus medizinischer Sicht (gemäss
Urteil U 71/02 E. 6.1 im Internet unter www.tinnitus-liga.ch abgerufen; aktuell
u.a. zu finden unter der in E. 5.7.2 hievor erwähnten URL).
Bei genauer Betrachtung ergibt sich aus dem Aufsatz KELLERHALS aber, dass nach
dessen Auffassung in erster Linie Hypothesen darüber bestehen, wie ein Tinnitus
verursacht wird. Der Autor hält denn auch ausdrücklich fest, wie Tinnitus im
Einzelfall entstehe, sei letztlich noch nicht bekannt (S. 1 des Aufsatzes). Die
Annahme, ein Innenohrschaden könne verlässlich als eigentliche Ursache des
Tinnitus betrachtet werden, wird somit durch diesen Aufsatz ebenso wenig
gestützt wie der Schluss, Tinnitus sei ein körperliches Leiden.

5.8.2 Gemäss der überwiegenden medizinischen Lehre handelt es sich beim
Tinnitus denn auch nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild, sondern primär
um ein Symptom (MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 68, 69, 71 und 72; vgl. auch
KELLERHALS, a.a.O., S. 4; KOMPIS UND ANDERE, a.a.O., S. 15; PROBST, a.a.O., S.
233; V. GOYMANN,
BGE 138 V 248 S. 256
Halswirbelsäule und Tinnitus, Schleudertrauma-Info 1/2003 S. 1 ff.;
demgegenüber spricht ROSANOWSKI, a.a.O., S. 40, von einer eigenständigen
Hörstörung). Dieses ist wiederum gekennzeichnet durch eine Vielzahl möglicher
Ursachen (u.a. ROSANOWSKI, a.a.O., S. 57; MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 68 f.;
GOYMANN, a.a.O., S. 9 ff.; PROBST, a.a.O., S. 234; ZENNER, Die Entstehung von
Ohrgeräuschen, Hypothesen und Modelle [1. Teil], dezibel 3/98 S. 10 ff., 11;
derselbe, Die Entstehung von Ohrgeräuschen, Hypothesen und Modelle [Schluss],
dezibel 4/98 S. 9 ff.; MONTAIN, a.a.O., S. 26 und 37 ff.). Dabei wird nebst der
Entstehung durch physische Krankheiten und Verletzungen auch der Einfluss
psychischer Faktoren diskutiert (HAUSOTTER, Aspekte, a.a.O., S. 6; derselbe,
Begutachtung, S. 173 und 177 ff.; VOLKER FAUST, Tinnitus [Ohrgeräusche], S. 3
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/tinnitus.html [besucht am
19. Dezember 2011]; vgl. auch ROSANOWSKI, a.a.O., S. 52, 57 und 217; MONTAIN,
a.a.O., S. 43 und 44). Bei einem Teil der Ohrgeräusche kann keine eigentliche
namentlich zu benennende Diagnose gestellt werden; man spricht dann gemeinhin
vom idiopathischen Tinnitus (MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 69; vgl. auch
ROSANOWSKI, a.a.O., S. 54; HAUSOTTER, Begutachtung, a.a.O., S. 173; MONTAIN,
a.a.O., S. 43). Zu beachten ist sodann, dass verschiedene Fragen bezüglich der
Entstehungsmechanismen von Tinnitus von der medizinischen Wissenschaft bislang
nicht verlässlich beantwortet werden konnten (vgl. MATTLE/MUMENTHALER, a.a.O.,
S. 294; ROSANOWSKI, a.a.O., S. 52, 56 und 217; MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 71;
KELLERHALS, a.a.O., S. 1 ff.; HAUSOTTER, Begutachtung, a.a.O., S. 177 f.;
derselbe, Aspekte, a.a.O., S. 6 f.; MONTAIN, a.a.O., S. 19 f.).

5.8.3 Unter Berücksichtigung der dargelegten medizinischen Lehrmeinungen kann
an der Annahme, Tinnitus sei ein körperliches Leiden oder zumindest (zwingend)
auf eine körperliche Ursache zurückzuführen, nicht festgehalten werden.

5.9 Zu prüfen bleibt, ob - wie vom Beschwerdeführer unter Hinweis auf die
dargelegte Rechtsprechung geltend gemacht (E. 5.2 hievor) - der Schweregrad
eines Tinnitus Rückschlüsse auf eine organische Unfallfolge zulässt.

5.9.1 In der medizinischen Lehre besteht, soweit ersichtlich, Einigkeit
darüber, dass ein Tinnitus - das gilt jedenfalls für den hier betrachteten
subjektiven Tinnitus - nicht objektiv gemessen werden kann (vgl. PROBST,
a.a.O., S. 233; KELLERHALS, a.a.O., S. 2; KOMPIS UND ANDERE, a.a.O., S. 15;
MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 69, 71 und 72; ZENNER,
BGE 138 V 248 S. 257
[1. Teil], a.a.O., S. 12; HAUSOTTER, Begutachtung, a.a.O., S. 175 f.). Alle
Untersuchungen zielen nur auf eine "Vergleichbarkeit" oder "Verdeckbarkeit" ab.
Dabei sind die Kooperation des Patienten und seine volle Subjektivität im
Mittelpunkt (MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 69 und 72; vgl. auch ROSANOWSKI,
a.a.O., S. 95 ff. und 131 ff.; GOEBEL, a.a.O., S. 14 f.; HAUSOTTER,
Begutachtung, a.a.O., S. 175 f.; E. 5.7.2 hievor). Standardisierte Fragebögen
(z.B. der Tinnitusfragebogen nach Goebel und Hiller) geben Hinweise auf den
Grad des Tinnitus (vgl. ROSANOWSKI, a.a.O., S. 133-135; KOMPIS UND ANDERE,
a.a.O., S. 17; GOEBEL, a.a.O., S. 15). Der Untersuchende ist aber darauf
angewiesen, dass die Angaben des Betroffenen wahrheitsgemäss erfolgen. Es kommt
immer wieder vor, dass Betroffene "übertreiben" oder "untertreiben" (GOEBEL,
a.a.O., S. 14). Die Einstufung eines Tinnitus innerhalb gebräuchlicher Raster
mit drei (MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 72; SUVA-Tabelle 13 "Integritätsschaden
bei Tinnitus") bis vier (HAUSOTTER, Begutachtung, a.a.O., S. 175; derselbe,
Aspekte, a.a.O., S. 5 f.; KOMPIS UND ANDERE, a.a.O., S. 16) Schweregraden
erfolgt denn auch nicht aufgrund audiometrischer oder anderer Messungen,
sondern nach der subjektiv empfundenen Beeinträchtigung. Dementsprechend geben
die Schweregrade des Tinnitus den subjektiven Leidensdruck wieder und müssen
nicht mit irgendwelchen Tinnitusparametern wie der subjektiven Lautheit oder
mit audiologischen Messungen korrelieren (vgl. HAUSOTTER, Begutachtung, a.a.O.,
S. 175; derselbe, Aspekte, a.a.O., S. 6; MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 72 f.).

5.9.2 Der Schweregrad eines (subjektiven) Tinnitus wird demzufolge nicht
mittels objektiver Messungen, sondern ausschliesslich aufgrund der Angaben der
betroffenen Person und deren subjektiv empfundenen Beeinträchtigung festgelegt.
Das zeigt nicht nur, dass keine Untersuchungsergebnisse gewonnen werden können,
welche der allgemeinen Umschreibung der Objektivierbarkeit (E. 5.1 hievor)
genügen. Vielmehr erhellt auch, dass der nur so bestimmbare Schweregrad keine
verlässlichen Rückschlüsse auf eine organische Unfallfolge als Ursache des
Tinnitus bieten kann.

5.10 Zusammenfassend ergibt sich, dass keine medizinisch gesicherte Grundlage
besteht, um einen Tinnitus als körperliches Leiden zu betrachten oder ihn
(zwingend) einer organischen Ursache zuzuordnen. Auch lässt sich nicht vom
Schweregrad eines Tinnitus auf eine organische Unfallfolge als Ursache
schliessen. Das schliesst zwar nicht aus, dass ein Tinnitus in einer
organischen Unfallfolge begründet sein kann. Es besteht aber keine
Rechtfertigung, bei einem
BGE 138 V 248 S. 258
Tinnitus, welcher im Einzelfall nicht nachgewiesenermassen auf eine solche
Unfallfolge zurückzuführen ist, auf das Erfordernis einer besonderen
Adäquanzprüfung zu verzichten. Anders zu verfahren, würde kausalrechtlich einer
sachlich und rechtlich nicht begründbaren Bevorteilung des Tinnitus gegenüber
anderen organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerdebildern entsprechen.
In diesem Sinne ist die Rechtsprechung zu bereinigen.
Damit soll nicht etwa in Frage gestellt werden, dass ein Tinnitus die
betroffene Person ausserordentlich stark belasten kann (vgl. KOMPIS UND ANDERE,
S. 15; PROBST, a.a.O., S. 233; HAUSOTTER, Aspekte, a.a.O., S. 6; derselbe,
Begutachtung, a.a.O., S. 174; GOYMANN, a.a.O., S. 11; MONTAIN, a.a.O., S. 44).
Dies gilt aber auch für andere organisch nicht objektiv ausgewiesene
Beschwerdebilder und entbindet mit Blick auf die hier streitige
Leistungspflicht des Unfallversicherers nicht von der dargelegten
kausalrechtlichen Differenzierung.