Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 206



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Urteilskopf

138 V 206

26. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Helsana
Versicherungen AG gegen H. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_658/2011 vom 12. April 2012

Regeste

Art. 4 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 1 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.
Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer
und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern (gültig gewesen bis 31. März 2012).
Die den deutschen Sozialhilfebezügern gestützt auf das zwölfte Buch des
deutschen Sozialgesetzbuches (SGB XII, §§ 47-52) gewährten Leistungen bei
Krankheit enthalten sowohl Elemente der Sozialhilfe als auch der sozialen
Sicherheit. Die Rechtsprechung des EuGH zur Qualifizierung solcher
Mischleistungen berücksichtigt zum einen die Folgen, welche die Zuordnung einer
Leistung nach sich zieht. Zum andern neigt der EuGH dazu, den materiellen
Charakter der Leistung heranzuziehen. In Würdigung aller Umstände überwiegt die
Nähe zu den Leistungen der sozialen Sicherheit gegenüber den
sozialhilferechtlichen Elementen (namentlich besteht leistungsrechtliche
Gleichheit mit den in Deutschland gesetzlich Krankenversicherten), so dass sie
als Leistungen bei Krankheit aufzufassen sind. Gemäss Art. 28 Abs. 1 Verordnung
Nr. 1408/71 besteht bei entsprechendem Leistungsanspruch in Deutschland somit
kein Anspruch auf Aufnahme in die obligatorische schweizerische
Krankenpflegeversicherung (E. 2-4).

Sachverhalt ab Seite 207

BGE 138 V 206 S. 207

A. Die 1939 geborene deutsche Staatsangehörige H. hat Wohnsitz in Deutschland.
Sie bezieht sowohl nach deutschem wie - zufolge zeitweiliger Erwerbstätigkeit
in der Schweiz - nach schweizerischem Recht eine Altersrente (im November 2011:
monatliche AHV-Rente
BGE 138 V 206 S. 208
von Fr. 155.-; monatliches deutsches Altersruhegeld in Höhe von EUR 353.29).
Seit dem Jahre 2001 befindet sie sich in einem Pflegeheim in Deutschland und
bezieht seit 13. Juli 2001 stationäre Hilfe zur Pflege nach dem zwölften Buch
des deutschen Sozialgesetzbuches (SGB XII; Bescheinigung des Kreissozialamtes
X. vom 2. November 2011). Die AOK Gesundheitskasse, Bezirksdirektion Y.
(nachfolgend: AOK), lehnte - in Bestätigung einer Verfügung der AOK Z. vom 1.
Oktober 2007 - eine Aufnahme der H. in die gesetzliche Krankenversicherung ab
(Widerspruchsbescheid vom 26. November 2008). Bereits am 29. August 2007 hatte
H. die Helsana Versicherungen AG, Zürich (nachfolgend: Helsana), um Aufnahme in
die obligatorische Krankenpflegeversicherung ersucht, was diese mit Verfügung
vom 18. Dezember 2007 ablehnte. Nachdem H. hiegegen Einsprache erhoben hatte,
erliess die Helsana ein ebenfalls ablehnendes Verfügungsrektifikat vom 28.
Januar 2008 (bestätigt mit Einspracheentscheid vom 30. Mai 2008).

B. H. liess hiegegen Beschwerde erheben, welche das Sozialversicherungsgericht
Basel-Stadt mit Entscheid vom 12. Juli 2011 guthiess; es hob den
Einspracheentscheid vom 30. Mai 2008 auf und wies die Sache an die Helsana
zurück zur Behandlung des Aufnahmegesuches im Sinne der Erwägungen.

C. Die Helsana führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie die Einladung des
Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) zur Vernehmlassung.
H. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei; der
Antrag auf Einladung des BSV zur Vernehmlassung sei abzuweisen und es sei ihr
die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Mit Verfügung vom 11. November 2011 weist das Bundesgericht das Gesuch um
Nichteinladung des BSV zur Vernehmlassung ab und setzt diesem gleichzeitig
Frist zur Einreichung einer solchen an. Die Vernehmlassung des Bundesamtes, mit
welcher die Gutheissung der Beschwerde beantragt wird, geht am 19. Dezember
2011 beim Bundesgericht ein. Die Beschwerdegegnerin nimmt hiezu am 2. Februar
2012 Stellung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
BGE 138 V 206 S. 209

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin die
Beschwerdegegnerin ab 1. September 2007 rückwirkend in die obligatorische
Krankenpflegeversicherung aufzunehmen hat. Unbestritten ist das Vorliegen eines
grenzüberschreitenden Sachverhalts, der unter die Bestimmungen des am 1. Juni
2002 in Kraft getretenen Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft
und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit fällt (FZA; SR
0.142. 112.681).

2.2 Nach Art. 1 Abs. 1 des auf der Grundlage von Art. 8 FZA ausgearbeiteten und
Bestandteil des Abkommens bildenden (Art. 15 FZA) Anhangs II ("Koordinierung
der Systeme der sozialen Sicherheit") FZA in Verbindung mit Abschnitt A dieses
Anhangs waren bis 31. März 2012 (u.a.) die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des
Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb
der Gemeinschaft zu- und abwandern massgeblich (SR 0.831.109.268.1; sog.
Wanderarbeitnehmerverordnung; nachfolgend: Verordnung 1408/71). Ziel der
Verordnung 1408/71 ist es, grösstmögliche Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer herzustellen. Dieses wird verfehlt, wenn Arbeitnehmende, die
von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen, Vergünstigungen der sozialen
Sicherheit verlieren (Urteil des EuGH vom 8. März 2001 C-215/99 Jauch, Slg.
2001 I-1901 Randnr. 20).

2.3 Rentnerinnen und Rentner, die nach den Rechtsvorschriften eines oder
mehrerer Mitgliedstaaten zum Bezug einer Rente berechtigt sind, fallen aufgrund
ihrer Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit auch dann unter die
Bestimmungen der Verordnung 1408/71 über die Arbeitnehmer, wenn sie keine
Erwerbstätigkeit ausüben, soweit auf sie keine besonderen Bestimmungen
anzuwenden sind (Urteil des EuGH vom 30. Juni 2011 C-388/09 da Silva Martins,
Randnr. 37). Art. 28 Verordnung 1408/71 regelt den Rentenanspruch auf Grund der
Rechtsvorschriften eines einzigen oder mehrerer Staaten, falls ein Anspruch auf
Leistungen im Wohnland nicht besteht und bestimmt (u.a.), dass ein Rentner, der
nach den Rechtsvorschriften von zwei Mitgliedstaaten zum Bezug von Renten
berechtigt ist ("Doppelrentner") und der keinen Anspruch auf
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Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates hat, diese
Leistungen nach den Rechtsvorschriften des anderen rentenausrichtenden Staates
erhält, wenn bei Wohnsitz in jenem Staat ein entsprechender Anspruch bestünde.
Diese Norm ist auch für die Versicherungspflicht in der Krankenversicherung
massgeblich (ad Schweiz Abs. 3 Bst. a Ziff. ii Anhang VI Verordnung 1408/71).
Indes schliesst Art. 4 Abs. 4 der Verordnung 1408/71, welcher den sachlichen
Geltungsbereich regelt, die Sozialhilfe von ihrem Anwendungsbereich aus.

2.4 Zu prüfen ist daher, ob die der Beschwerdegegnerin gestützt auf das SGB XII
(§§ 47-52) gewährte Hilfe bei Krankheit als Sozialhilfe oder als Leistung der
sozialen Sicherheit zu qualifizieren ist. Sind die der Beschwerdegegnerin
zugesprochenen Leistungen als Sozialhilfe zu qualifizieren, fallen sie nicht in
den Anwendungsbereich der Verordnung 1408/71 und sind somit auch nicht als
Leistungen im Krankheitsfall aufzufassen. Weil nach deutschem Recht
Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger von der Aufnahme in die gesetzliche
Krankenversicherung ausgeschlossen sind (vgl. § 264 des Fünften Buches des
deutschen Sozialgesetzbuches [SGB V]; sowie Urteil des deutschen
Bundessozialgerichts [BSG] vom 17. Juni 2008, B1 KR 30/07, Randnr. 16), hätte
die Qualifikation der Leistungen gemäss SGB XII als Sozialhilfe einen Anspruch
auf Aufnahme in die schweizerische obligatorische Krankenpflegeversicherung zur
Folge. Andernfalls, d.h. wenn die Hilfe bei Krankheit eine Leistung der
sozialen Sicherheit bei Krankheit darstellt, fällt eine Aufnahme in die
schweizerische Krankenversicherung nach Art. 28 Verordnung 1408/71 ausser
Betracht.

3.

3.1 Das kantonale Gericht erwog unter Bezugnahme auf die Lehrmeinung von
MAXIMILIAN FUCHS (Europäisches Sozialrecht, 3. Aufl. 2005), die Hilfe in
besonderen Lebenslagen und damit namentlich auch die Krankenhilfe sei eine nach
Art. 4 Abs. 4 Verordnung 1408/71 vom Anwendungsbereich der Verordnung 1408/71
ausgeschlossene Leistung der Sozialhilfe. Die formale Gleichheit und
Zweckrichtung im Hinblick auf bestimmte Risiken mache die Sozialhilfeleistung
noch nicht zu einer solchen der sozialen Sicherheit. Die der vorinstanzlichen
Beschwerdeführerin nach deutschem Recht gewährten Leistungen fielen, da
sozialhilferechtlich ausgestaltet, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4
Verordnung 1408/71. Zudem stehe - gemäss rechtskräftig gewordenem
Widerspruchsentscheid
BGE 138 V 206 S. 211
der AOK vom 26. November 2008 und Schreiben der AOK vom 31. März 2010 - fest,
dass eine Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung des Wohnlandes
Deutschland ausgeschlossen sei, weshalb eine schweizerische
Krankenversicherungspflicht bestehe.

3.2 Die Beschwerdeführerin macht namentlich geltend, selbst wenn die bei
Krankheit nach SGB XII gewährten Leistungen Bedarfselemente aufwiesen, müssten
sie als Leistungen der sozialen Sicherheit i.S. der Verordnung 1408/71
qualifiziert werden. Die Beschwerdegegnerin habe Anspruch auf die gleichen
Leistungen im Krankheitsfall wie die in Deutschland gesetzlich versicherten
Personen. Der deutsche Gesetzgeber habe eine allgemeine Versicherungspflicht
für alle Personen mit Wohnsitz in Deutschland angestrebt. Leistungsempfänger
nach SGB XII seien, trotz fehlender Krankenversicherungsunterstellung in
Deutschland, für das Risiko Krankheit adäquat, d.h. gleichermassen wie die
gesetzlich Unterstellten versichert, weshalb kein Raum für die Anwendung von
Art. 28 Verordnung 1408/71 bleibe.

3.3 Das BSV führt aus, die Beschwerdegegnerin habe Anspruch auf Leistungen bei
Krankheit gemäss den Rechtsvorschriften ihres Wohnsitzlandes Deutschland.
Entsprechend finde Art. 27 Verordnung 1408/71 Anwendung, d.h. ein
Leistungsanspruch am Wohnort; eine Versicherungspflicht gemäss KVG falle ausser
Betracht. Dass Personen, welche nebst einer deutschen Rente Leistungen nach SGB
XII beziehen, weiterhin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung ausgenommen seien, stelle eine Lücke im nationalen
deutschen Sozialversicherungsrecht dar, welche nicht unter Anwendung der
koordinationsrechtlichen Bestimmung von Art. 28 Verordnung 1408/71 gefüllt
werden könne. Es wäre stossend und schwer nachvollziehbar, wenn die Schweiz
verpflichtet würde, die sich aus dem deutschen Recht ergebende Lücke zu füllen,
die tendenziell schlechtere Risiken umfasse. Sodann widerspräche es Sinn und
Zweck der Verordnung 1408/71, wenn Mitgliedstaaten durch entsprechende
Ausgestaltung der nationalen Regelungen ihre Leistungspflicht bei
Mehrfachrentnern ausschliessen könnten. Schliesslich würde das in Anhang VI
Verordnung 1408/71 vorgesehene Optionsrecht (wonach Personen mit Wohnsitz in
Deutschland sich von der Schweizer Krankenversicherungspflicht befreien lassen
können) seines Sinnes entleert, wenn sie später als (Mehrfach-)Rentner von der
Solidarität in der schweizerischen Krankenversicherung profitieren könnten.
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4.

4.1 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Unterscheidung zwischen
Sozialhilfe und Leistungen der sozialen Sicherheit von verschiedenen Kriterien
ab. Grundsätzlich wird die Sozialhilfe einschränkend interpretiert, während der
sozialen Sicherheit "der weitestmögliche Anwendungsbereich" einzuräumen ist
(SCHRAMMEL/WINKLER, Europäisches Sozialrecht, 2010, S. 246 f.). Diese Absicht
wurde unterstrichen, als im Jahre 1992 mit Art. 4 Abs. 2a Verordnung 1408/71
deren Anwendungsbereich auf sog. beitragsunabhängige Sonderleistungen und damit
auf Leistungen ausgedehnt wurde, die sowohl Elemente der Sozialhilfe wie auch
der sozialen Sicherheit enthalten ("Mischleistungen"). Seither können
namentlich auch solche Leistungen in den Anwendungsbereich der Verordnung 1408/
71 fallen, die einem der in Art. 4 Abs. 1 Verordnung 1408/71 aufgeführten
Zweige der sozialen Sicherheit entsprechen, indes bis dahin, etwa wegen ihrer
Einkommensabhängigkeit, als Leistungen der Sozialhilfe von der Verordnung 1408/
71 ausgenommen waren (Urteile des EuGH vom 8. März 2001 C-215/99 Jauch, Slg.
2001 I-1901, sowie vom 2. August 1993 C-66/92 Acciardi, Slg. 1993 I-4567;
SILVIA BUCHER, Soziale Sicherheit, beitragsunabhängige Sonderleistungen und
soziale Vergünstigungen, 2000, S. 46 Rz. 102). Entscheidend für die Zuordnung
zur sozialen Sicherheit oder zur Sozialhilfe sind insbesondere die
Zielsetzungen und die Voraussetzungen der Leistungsgewährung; nicht ins Gewicht
fällt dagegen die Qualifikation im nationalen Recht (z.B. Urteil des EuGH vom
5. März 1998 C-160/96 Molenaar, Slg. 1998 I-843; SCHRAMMEL/WINKLER, a.a.O., S.
246; JÜRGEN BESCHORNER, Die beitragsunabhängigen Geldleistungen i.S. von Art. 4
Abs. 2a VO [EWG] Nr. 1408/71 in der Rechtsprechung desEuGH, ZESAR 2009 S. 323).
So entschied der EuGH beispielsweise im Urteil vom 21. Februar 2006 C-286/03
Hosse, Slg. 2006 I-1771 Randnr. 38, dass Leistungen, die objektiv aufgrund
eines gesetzlich umschriebenen Tatbestandes gewährt werden und die darauf
abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen der
Pflegebedürftigen zu verbessern, im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen
der Krankenversicherung bezwecken und damit als "Leistungen bei Krankheit" im
Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a Verordnung 1408/71 zu betrachten sind. Mit
Urteil vom 20. Juni 1991 C-356/89 Newton, Slg. 1991 I-3017, entschied der EuGH,
eine Beihilfe für Behinderte falle in den Bereich der sozialen Sicherheit und
sei damit vom Anwendungsbereich der Verordnung 1408/71 grundsätzlich
BGE 138 V 206 S. 213
erfasst, wenn die Empfängerin oder der Empfänger nach dem persönlichen
Geltungsbereich der nationalen Vorschriften dem Bereich der sozialen Sicherheit
zuzuordnen ist. Grosse Bedeutung hat nach der Rechtsprechung des EuGH für die
Zugehörigkeit einer Leistung zur sozialen Sicherheit, ob sie ohne jede im
Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit den
Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird
(vgl. u.a. Urteile des EuGH vom 27. März 1985 249/83 Hoeckx, Slg. 1985 S. 973
Randnrn. 12-14; vom 18. Juli 2006 C-406/04 De Cuyper, Slg. 2006 I-6971 Randnr.
23; vom 11. Juni 1991 C-307/89 Frankreich, Slg. 1991 I-2903 Randnr. 10; BUCHER,
a.a.O., S. 43 Rz. 96; SCHRAMMEL/WINKLER, a.a.O., S. 247). Auch gemäss dem
Leitfaden des BSV für die Durchführung des FZA, Ausgabe 4/07, kann eine
Leistung nur unter der Voraussetzung der sozialen Sicherheit zugeordnet werden,
dass "sie unter objektiven und rechtlich festgelegten Voraussetzungen gewährt
wird, ohne dass die zuständige Behörde sonstige persönliche Verhältnisse
berücksichtigen darf".

4.2 Die gestützt auf SGB XII gewährten Leistungen bei Krankheit unterscheiden
sich inhaltlich nicht von den Ansprüchen in der gesetzlichen
Krankenversicherung. Nicht nur sind es die (gesetzlichen)
Krankenversicherungen, welche die Krankenbehandlung von Sozialhilfeempfängern
erbringen (und zwar aufgrund eines gesetzlichen Auftrages im Sinne von § 93 des
Zehnten Buches des deutschen Sozialgesetzbuches [SGB X]; Urteil des BSG vom 17.
Juni 2008, B1 KR 30/07R, Randnr. 15 m.w.H.; § 52 SGB XII). Auch
leistungsrechtlich besteht Gleichheit: § 264 SGB V überträgt den Krankenkassen
in Abstimmung mit dem SGB XII die grundsätzlich den Sozialhilfeträgern
obliegende Aufgabe zur Gewährung der den Regelungen der gesetzlichen
Krankenversicherung entsprechenden Leistungen (BSG, a.a.O., Randnr. 13). Die
Hilfeempfänger haben Anrecht auf die Ausstellung einer
Krankenversicherungskarte nach § 261 SGB V (GRUBE/WAHRENDORF, SGB XII,
Sozialhilfe, Kommentar, 2005, N. 20 zu § 48). Nach der Rechtsprechung des BSG
bleibt die Hilfe bei Krankheit gleichwohl "dem Grunde nach" eine Aufgabe der
Sozialhilfe und die Sozialhilfebezüger gelten nicht als gesetzlich versichert
(BSG, a.a.O., Randnr. 12). Hintergrund dieser Rechtslage ist, dass eine
Gleichstellung von Empfängern laufender Hilfe zum Lebensunterhalt und von
Hilfen in besonderen Lebenslagen zunächst wegen politischer Uneinigkeit über
angemessene Beitragszahlungen nicht verwirklicht werden konnte und dass mit der
Neuregelung von
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§ 264 SGB V (in Kraft getreten am 1. Januar 2004; vgl. auch E. 4.4 hienach) an
die Stelle der ursprünglich vorgesehenen Mitgliedschaft in der gesetzlichen
Krankenversicherung (nur, aber immerhin) eine leistungsrechtliche
Gleichstellung der Sozialhilfeempfänger mit den gesetzlich krankenversicherten
Personen trat, dies ohne volle Mitgliedschaftsrechte der Sozialhilfeempfänger
(Urteil BSG, a.a.O., Randnr. 16, mit Hinweis auf den Gesetzesentwurf der
Fraktionen SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen, Deutscher Bundestag
Drucksache 15/1525, S. 140, rechte Spalte zu Art. 1 Nr. 152-§ 264). Ungeachtet
des fehlenden Mitgliedschaftsrechts in der gesetzlichen Krankenversicherung
weisen die Leistungen gemäss § 48 SGB XII indes einen klaren Bezug zur
Krankheit auf und damit zu einem der von Art. 4 Abs. 1 Verordnung 1408/71
erfassten Risiken, so dass ein (Haupt-)Kriterium für die Qualifikation als
Leistung der sozialen Sicherheit erfüllt ist (vgl. BUCHER, a.a.O., S. 43 Rz.
96).

4.3 Die der Beschwerdegegnerin gewährte Hilfe bei Krankheit enthält aber auch
Elemente der Sozialhilfe. Namentlich findet sich ihre Rechtsgrundlage im SGB
XII und damit im Recht der - steuerfinanzierten, beitragsunabhängigen -
Sozialhilfe. Nach § 2 SGB XII wird Sozialhilfe nur Personen gewährt, die sich
nicht durch Einsatz ihrer Arbeitskraft, ihres Einkommens und ihres Vermögens
selbst helfen können oder welche die erforderliche Leistung nicht von anderen,
insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen,
erhalten. § 9 Abs. 1 SGB XII bestimmt, dass sich die Leistungen "nach der
Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfs, den
örtlichen Verhältnissen, den eigenen Kräften und Mitteln der Person oder des
Haushalts bei der Hilfe zum Lebensunterhalt" richten. Die Berücksichtigung der
Besonderheiten des Einzelfalles unterscheidet die Sozialhilfe wesentlich von
anderen Bereichen des Sozialrechts, die eine weitgehend pauschalierte
Leistungsgewährung vorsehen (vgl. zum Ganzen: BERND-GÜNTER SCHWABE,
Sozialhilfe, 17. Aufl. 2007, S. 122). Aus der nationalrechtlichen Zuordnung
allein kann indessen nach dem Gesagten (E. 4.1 hievor) noch nicht geschlossen
werden, dass es sich um Sozialhilfeleistungen i.S. von Art. 4 Abs. 4 Verordnung
1408/71 handelt.

4.4 Die Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII umfasst nach den bisherigen
Ausführungen sowohl Wesensmerkmale der sozialen Sicherheit (sie betrifft das
Risiko Krankheit; leistungsmässig besteht Gleichheit mit der gesetzlichen
Krankenversicherung) als auch
BGE 138 V 206 S. 215
solche der Sozialhilfe (wo sich ihre Rechtsgrundlage findet; zudem sind die
Leistungen beitragsunabhängig und steuerfinanziert); es kommt ihr ein sog.
Mischcharakter zu. Die Behandlung solcher Leistungen namentlich auch in der
Rechtsprechung des EuGH ruft mitunter grosse Schwierigkeiten und
Abgrenzungsprobleme hervor (vgl. BESCHORNER, a.a.O., S. 323), die der EuGH
bisher häufig in Anwendung einer weiten Auslegung der sozialen Sicherheit
entschied (E. 4.1 hievor). Nähern sich nationale Rechtsvorschriften durch
einige Merkmale der Sozialhilfe an, indem sie beispielsweise die Bedürftigkeit
als wesentliche Voraussetzung statuieren und keine Berufstätigkeits-,
Mitgliedschafts- oder Beitragszeiten voraussetzen, können darauf basierende
Leistungen unter Umständen gleichwohl als solche der sozialen Sicherheit
qualifiziert werden (BUCHER, a.a.O., S. 53 Rz. 117 ff. mit zahlreichen
Hinweisen auf Urteile des EuGH). Die Rechtsprechung des EuGH zur Qualifizierung
solcher Mischleistungen ist sodann stark einzelfallbezogen (vgl. E. 4.1 hievor)
und wird namentlich auch von den Folgen inspiriert, welche die Zuordnung einer
Leistung nach sich zieht (vgl. BUCHER, a.a.O., S. 79 Rz. 182). Bei Leistungen
mit Mischcharakter neigt der EuGH dazu, den materiellen Charakter der Leistung
heranzuziehen (BESCHORNER, a.a.O.).

4.5 Die konkreten Konsequenzen einerseits und der materielle Charakter der
Leistung anderseits sind auch bei der Beurteilung der der Beschwerdegegnerin
zugesprochenen Hilfe bei Krankheit zu berücksichtigen. Dabei fällt insbesondere
ins Gewicht, dass die Bedürftigkeit zwar zweifellos anspruchsbegründendes
Element für den Leistungsbezug in der Sozialhilfe ist (E. 4.3 hievor), dass
sich indes die aufgrund von § 48 SGB XII zugesprochenen Leistungen nach dem
gesetzlichen Krankenversicherungsrecht richten (E. 4.2 hievor). Sie werden
demzufolge aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung und unter
objektiven, rechtlich festgelegten Voraussetzungen gewährt. Der Rechtsumstand,
dass die Leistungen bei Krankheit von Personen, welche bei Inkrafttreten des
Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG; BGBl I
2003, S. 2190) am 1. Januar 2004 Sozialhilfe bezogen und die daher von der
Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen blieben,
durch den Sozialhilfeträger finanziert werden (zu den Gründen E. 4.2 hievor),
rechtfertigt es nicht, diese Leistungen als Sozialhilfe im Sinne von Art. 4
Abs. 4 Verordnung 1408/71 zu qualifizieren und ihnen demzufolge den Charakter
als Leistungen bei Krankheit nach Art. 28 Abs. 1 Verordnung 1408/71
abzusprechen.
BGE 138 V 206 S. 216
Die Nähe zu den Leistungen der sozialen Sicherheit bei Krankheit ist in
Würdigung aller Umstände deutlich grösser als das Gewicht der
sozialhilferechtlichen Elemente. Es wäre schliesslich rechtlich nicht
überzeugend, wenn die Beschwerdegegnerin einzig deswegen, weil ihr als
Sozialhilfebezügerin wegen der Eigenheit der nationalrechtlichen Bestimmungen
kein Mitgliedschaftsrecht in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung
zusteht, bessergestellt wäre als die übrigen deutsch-schweizerischen
Doppelrentner mit Wohnsitz in Deutschland, welche keine Sozialhilfe beziehen,
ebenfalls in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind - somit einen
der Beschwerdegegnerin identischen Anspruch auf Leistungen bei Krankheit haben
-, die sich aber nicht nach Art. 28 Verordnung 1408/71 in der schweizerischen
Krankenversicherung versichern können. Die Beschwerde ist begründet.