Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 17



Urteilskopf

138 V 17

3. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Z. gegen
Kantonale Ausgleichskasse Glarus (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_495/2011 vom 23. Dezember 2011

Regeste

Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG; Art. 12 ELV; Begrenzung des Abzugs von
Gebäudeunterhaltskosten und Hypothekarzinsen.
Die Schranke des Bruttoertrages der Liegenschaft gilt für die
Gebäudeunterhaltskosten und die Hypothekarzinsen zusammen (E. 4.2.1).
Bei Personen, die in ihrer eigenen Wohnung oder in ihrem Haus leben, entspricht
der den Abzug von Gebäudeunterhaltskosten und Hypothekarzinsen begrenzende
Bruttoertrag der Liegenschaft dem Mietwert der Liegenschaft vor einer
allfälligen prozentualen Kürzung wegen Selbstnutzung nach der Gesetzgebung über
die direkte kantonale Steuer im Wohnsitzkanton oder allenfalls nach derjenigen
über die direkte Bundessteuer (E. 4.2.3).

Erwägungen ab Seite 18

BGE 138 V 17 S. 18
Aus den Erwägungen:

2. In der Sache rügt der Beschwerdeführer einzig, die Vorinstanz habe in
Verletzung von Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG (SR 831.30) und der einschlägigen
Steuergesetzgebung des Kantons Glarus bei der Berechnung der Ergänzungsleistung
(EL) ab 1. Mai 2009 die Summe aus Hypothekarzinsen und Gebäudeunterhaltskosten
von Fr. 12'144.- resp. Fr. 12'051.- ab 1. Januar 2011 lediglich in der Höhe des
Eigenmietwertes der selbstbewohnten Liegenschaft von Fr. 9'120.- gemäss der
rechtskräftigen kantonalen Steuerveranlagung 2009 vom 14. Oktober 2010 als
Ausgaben anerkannt. Massgebend sei jedoch der Brutto-Mietertrag der
Liegenschaft ("Normmietwert") gemäss Art. 18 Abs. 3 der kantonalen Verordnung
vom 22. November 2000 über die Bewertung der Grundstücke (GstBV; GS VI C/1/4),
welcher
BGE 138 V 17 S. 19
auch die Höhe der anrechenbaren Gebäudeunterhaltskosten nach Art. 2 Abs. 2 der
Verordnung vom 23. Januar 2001 über den Abzug der Kosten von Liegenschaften des
Privatvermögens (GS VI C/1/6) bestimme. Laut den rechtskräftigen
Schätzungsverfügungen vom 20. Juni 2002, 15. Dezember 2009 und 26. Juli 2010
belaufe sich der Brutto-Mietertrag der Liegenschaft auf Fr. 20'550.- (2009),
Fr. 17'000.- (2010) und Fr. 15'200.- (2011). Der Pauschalabzug für die
Gebäudeunterhaltskosten betrage 20 % davon, somit Fr. 4'110.- (2009), Fr.
3'400.- (2010) und Fr. 3'040.- (2011). Die effektiven Hypothekarzinsen hätten
sich auf Fr. 12'292.- (2009), Fr. 11'201.- (2010) und Fr. 12'742.- (2011)
belaufen. Bei den Ausgaben seien daher Hypothekarzinsen und
Gebäudeunterhaltskosten von insgesamt Fr. 16'402.- (2009), Fr. 14'601.- (2010)
und Fr. 15'782.- (2011) anzuerkennen, was zu um Fr. 7'282.- (1. Mai bis 31.
Dezember 2009), Fr. 5'481.- (1. Januar bis 31. Dezember 2010) und Fr. 6'080.-
(1. Januar bis 31. Dezember 2011) höheren jährlichen Ergänzungsleistungen
führe.

3. Die Vorinstanz hat der Überprüfung der EL-Berechnung der Ausgleichskasse im
streitigen Punkt die rechtskräftige Veranlagung 2009 vom 14. Oktober 2010 und
die Schätzungsverfügung vom 26. Juli 2010 zugrunde gelegt, was der
Beschwerdeführer nicht substanziiert als bundesrechtswidrig rügt. Es besteht
auch im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG) kein
Grund zu Weiterungen. Im Übrigen hat die Vorinstanz ausdrücklich eine
Neuberechnung der Ergänzungsleistung bei veränderten wirtschaftlichen
Verhältnissen aufgrund der Steuerveranlagung 2010 vorbehalten.
In der Schätzungsverfügung vom 26. Juli 2010 wurde ein Mietwert des
selbstbewohnten Einfamilienhauses von Fr. 15'200.- und ein Eigenmietwert von
Fr. 9'120.- (60 % von Fr. 15'200.-) angegeben. In der Veranlagung 2009 vom 14.
Oktober 2010 wurde bei den Einkünften ein Liegenschaftsertrag von Fr. 9'120.-
entsprechend dem Eigenmietwert des Einfamilienhauses berücksichtigt. Zum Abzug
zugelassen wurden u.a. Schuldzinsen von Fr. 11'201.- sowie Unterhalts- und
Verwaltungskosten von pauschal 20 % des Ertrages aus Liegenschaften in der Höhe
des Eigenmietwertes von Fr. 1'824.-. Die Vorinstanz verweist in diesem
Zusammenhang auf Art. 2 Abs. 2 der Verordnung vom 23. Januar 2001 über den
Abzug der Kosten von Liegenschaften des Privatvermögens (in Verbindung mit Art.
30
BGE 138 V 17 S. 20
Abs. 5 des Steuergesetzes vom 7. Mai 2000 [StG/GL; GS VI C/1/1]), auf welche
Bestimmung sich auch der Beschwerdeführer beruft.

4. Die Vorinstanz verweist zur Begründung, weshalb Hypothekarzinsen und
Gebäudeunterhaltskosten höchstens im Umfang des Eigenmietwertes von Fr. 9'120.-
anrechenbar sind, wovon auch das Bundesamt für Sozialversicherungen ausgeht,
auf Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG.

4.1 Bei allen (zu Hause oder in Heimen oder Spitälern lebenden) Personen werden
zudem als Ausgaben anerkannt, u.a. Gebäudeunterhaltskosten und Hypothekarzinse
bis zur Höhe des Bruttoertrages der Liegenschaft (Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG).

4.2 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut. Ist der Text nicht klar
und sind verschiedene Interpretationen möglich, muss nach seiner wahren
Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente.
Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte, auf den Zweck
der Norm, die ihr zugrunde liegenden Wertungen und ihre Bedeutung im Kontext
mit anderen Bestimmungen. Die Materialien sind zwar nicht unmittelbar
entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen.
Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem
Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das grammatische
Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung
ergab (BGE 137 V 20 E. 5.1 S. 26; BGE 135 II 78 E. 2.2 S. 81; BGE 135 V 249 E.
4.1 S. 252; BGE 134 I 184 E. 5.1 S. 193). Sind mehrere Auslegungen möglich, ist
jene zu wählen die den verfassungsrechtlichen Vorgaben am besten entspricht.
Eine verfassungskonforme Auslegung findet dabei im klaren Wortlaut und Sinn
einer Gesetzesbestimmung ihre Schranken (BGE 136 II 149 E. 3 S. 154; BGE 123 V
310 E. 6b/bb S. 322; je mit Hinweisen).

4.2.1 Der Wortlaut von Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG (auch in der französischen und
italienischen Textfassung: "... les frais d'entretien des bâtiments et les
intérêts hypothécaires, jusqu'à concurrence du rendement brut de l'immeuble",
"... spese di manutenzione di fabbricati e interessi ipotecari, fino a
concorrenza del ricavo lordo dell'immobile") wirft vorab die Frage auf, ob die
Schranke des Bruttoertrages der Liegenschaft für die Gebäudeunterhaltskosten
und die Hypothekarzinsen zusammen oder nur für Letztere gilt. Nach allgemeinem
Sprachverständnis sind unter dem Begriff Bruttoertrag der
BGE 138 V 17 S. 21
Liegenschaft die betreffenden Einkünfte ohne Berücksichtigung des für deren
Erzielung notwendigen finanziellen Aufwandes (Gewinnungskosten) zu verstehen.
Dazu zählen Hypothekarzinsen und Gebäudeunterhaltskosten. Mit der Begrenzung
des Abzugs auf die Höhe des Bruttoertrages der Liegenschaft sodann sollten nach
dem Willen des Gesetzgebers Missbräuche verhindert werden (vgl. Botschaft vom
21. November 1984 betreffend die zweite Revision des Bundesgesetzes über die
Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [ELG], BBl1984 I 107 Ziff. 21.10.2; vgl.
auch Botschaft vom 20. November 1996 über die 3. Revision des Bundesgesetzes
über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [3. EL-Revision], BBl 1997 I
1205Ziff. 212.31). Ein darüber hinausgehender Abzug liefe auf eine nicht mehr
auf die Sicherung des Existenzbedarfs gerichtete und damit zweckwidrige
Bezahlung von Vermögensschulden hinaus (CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur
AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 171; RALPH JÖHL, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in:
Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 1732 Rz. 142). Das wäre
aber der Fall, wenn lediglich der Abzug von Hypothekarzinsen durch den
Bruttoertrag der Liegenschaft begrenzt würde. Diese Schranke gilt somit für die
Gebäudeunterhaltskosten und die Hypothekarzinsen zusammen (a.A. anscheinend URS
MÜLLER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht,
Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung, 2. Aufl. 2006, N. 277 und 280 zu Art. 3b aELG).

4.2.2 Aus gesetzessystematischer Sicht ist von Bedeutung, dass Art. 10 Abs. 3
lit. b ELG nicht danach differenziert, ob der EL-Ansprecher die in seinem
Eigentum stehende Liegenschaft selber bewohnt oder nicht. Aus der
Entstehungsgeschichte dieser Norm ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass der
Gesetzgeber den Begriff "Bruttoertrag der Liegenschaft" je nach Sachverhalt
anders verstanden haben wollte.

4.2.3 Hat der EL-Ansprecher sein Haus oder seine Wohnung vermietet, stellen die
Mietzinserträge Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen nach Art. 11 Abs. 1 lit. b
ELG dar, und zwar im Umfang des Bruttoertrages (JÖHL, a.a.O., S. 1781 Rz. 206;
vgl. auch Rz. 3433. 03 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV und
IV [WEL; ab 1. April 2011 gültige Fassung http://www.bsv.admin.ch/vollzug/
documents/index/category:59], wonach der ortsübliche Mietzins massgebend ist,
wenn der vertraglich vereinbarte offensichtlich
BGE 138 V 17 S. 22
darunter liegt). Diesen anrechenbaren Einnahmen entspricht somit der den Abzug
von Hypothekarzinsen und Gebäudeunterhaltskosten begrenzende Bruttoertrag der
Liegenschaft nach Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG. Bewohnt der EL-Ansprecher selber
seine Liegenschaft, stellt der Mietwert der eigenen Wohnung Einkünfte aus
unbeweglichem Vermögen gemäss Art. 11 Abs. 1 lit. b ELG dar. Er entspricht dem
im Wohnsitzkanton geltenden steuerlichen Mietwert der Liegenschaft (in der
Regel bei Drittvermietung erzielbare Mietzinseinnahmen), vor einer allfälligen
prozentualen Kürzung wegen Selbstnutzung (Art. 12 Abs. 1 ELV [SR 831.301]; BGE
138 V 9; vgl. auch SVR 2010 EL Nr. 3 S. 7, 9C_376/2009). Aus Gründen der
Gleichbehandlung mit Personen, die ihre Liegenschaft vermietet haben und
anderswo wohnen, ist der Bruttoertrag der Liegenschaft nach Art. 10 Abs. 3 lit.
b ELG diesem Mietwert gleichzusetzen.

4.2.4 Es verletzt daher Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG, bei im eigenen Haus oder in
der eigenen Wohnung lebenden EL-Ansprechern den Abzug der Hypothekarzinsen und
Gebäudeunterhaltskosten auf den allenfalls wegen Selbstnutzung gekürzten
steuerlichen (Eigen-)Mietwert zu begrenzen. Vorliegend entspricht somit der
Bruttoertrag der Liegenschaft im Sinne dieser Bestimmung dem Mietwert, welcher
bei Vermietung an Dritte erzielt wird, resp. dem marktkonformen, erzielbaren
Mietwert nach Art. 18 Abs. 2 der kantonalen Verordnung vom 22. November 2000
über die Bewertung der Grundstücke (GstBV; GS VI C/1/4).

4.3 Im Sinne des Vorstehenden wird die Ausgleichskasse die Ergänzungsleistung
für den Zeitraum vom 1. Mai 2009 bis 31. Dezember 2011 neu berechnen und über
den EL-Anspruch verfügen. Dabei wird die Ausgleichskasse der Rechtsprechung
gemäss erwähntem BGE 138 V 9 betreffend Art. 12 Abs. 1 ELV Rechnung zu tragen
haben. Nicht zu prüfen ist hier, ob die für 2009 und 2010 anrechenbaren
Hypothekarzinsen höher sind als die in der EL-Berechnung angegebene Summe von
Fr. 10'320.-, wie die Vorinstanz aufgrund der in der Veranlagung 2009 vom 14.
Oktober 2010 ausgewiesenen Schuldzinsen von Fr. 11'201.- angenommen hat.