Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 V 154



Urteilskopf

138 V 154

20. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. E. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_210/2011 vom 15. Februar 2012

Regeste

Art. 112 Abs. 1 lit. a BGG; Begründung vorinstanzlicher Entscheide.
Wird das Dispositiv eines Entscheides direkt nach der mündlichen Beratung und
Urteilsfällung des Gerichts den Parteien eröffnet, so braucht die
Übereinstimmung zwischen Beratung und anschliessend erstellter schriftlicher
Urteilsbegründung von der oberen Instanz nicht geprüft zu werden (E. 2).
Nicht nur das Dispositiv, sondern auch die Begründung eines Entscheides muss
indessen der Meinung der Mehrheit des Spruchkörpers entsprechen (E. 3.4).
Damit dies sichergestellt ist, müssen die beteiligten Richterinnen und Richter
vom Begründungsentwurf Kenntnis nehmen und Änderungsanträge stellen können. In
welcher Art und Weise dies geschieht, bestimmt sich nach dem jeweils
anwendbaren Prozess- und Gerichtsorganisationsrecht (E. 3.5).

Regeste

Art. 53 Abs. 1 UVG; Zulassung von Zahnärzten im Unfallversicherungsbereich.
Ein wissenschaftlicher Befähigungsausweis im Sinne von Art. 53 Abs. 1 Satz 2
UVG setzt eine Hochschulausbildung voraus, die dem schweizerischen
Universitätsstandard entspricht (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 155

BGE 138 V 154 S. 155

A. Der 1961 geborene E. ist seit 1996 kantonal approbierter Zahnarzt
appenzell-ausserrhodischen Rechts. Nach Durchführung des Vermittlungsverfahrens
erhob er am 11. Dezember 2009 vor dem Schiedsgericht nach Art. 57 UVG (SR
832.20) des Kantons Appenzell Ausserrhoden (nachstehend: das Schiedsgericht)
Klage gegen die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) mit dem
Begehren, es sei festzustellen, dass er aufgrund eines wissenschaftlichen
Befähigungsausweises tätig sei und auch für die an die Notfallbehandlung
anschliessende Regelbehandlung über die SUVA und andere UVG-Versicherer
abrechnen dürfe. Das Schiedsgericht wies die Klage mit Entscheid vom 30.
September 2010 (Eröffnung der vom Präsidenten des Schiedsgerichts und vom
Gerichtsschreiber unterzeichneten schriftlichen Urteilsbegründung: 9. Februar
2011) ab.

B. Mit Beschwerde beantragt E., es sei unter Aufhebung des kantonalen
Gerichtsentscheides entsprechend seinem vorinstanzlich
BGE 138 V 154 S. 156
ge stellten Rechtsbegehren zu entscheiden, eventuell sei die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Während die SUVA und die Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde schliessen,
verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

C. In ihrer Verfügung vom 21. November 2011 erwog die Instruktionsrichterin,
gemäss Art. 33 Abs. 2 des vom Schiedsgericht anwendbar erklärten Konkordates
vom 27. März 1969 über die Schiedsgerichtsbarkeit (AS 1969 1093) habe der
Schiedsspruch die Unterschrift aller Schiedsrichter zu enthalten. Da die dem
Bundesgericht vorliegende Ausfertigung des Entscheides vom 30. September 2010
diesem Erfordernis nicht entsprach, wies sie die Sache in Anwendung von Art.
112 Abs. 3 BGG an das Schiedsgericht zur Verbesserung zurück.
Am 12. Dezember 2011 reichte das Schiedsgericht dem Bundesgericht eine
zusätzlich noch von Schiedsrichter A. unterzeichnete Ausfertigung des
angefochtenen Entscheides nach. Bereits am 2. Dezember 2011 hatte der
Schiedsrichter B. erklärt, die Unterschrift zu verweigern, da die Ausfertigung
zwar im Dispositiv, nicht aber in der Begründung mit dem von der Mehrheit des
Schiedsgerichts gefassten Beschluss übereinstimme.

D. In ihrer Stellungnahme vom 26. Januar 2012 hält die SUVA an ihren Begehren
fest.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, die ihm schriftlich eröffnete
Urteilsbegründung stimme nicht mit dem Resultat der nicht öffentlichen
mündlichen Urteilsberatung des Schiedsgerichts überein.

2.2 In prozessualer Hinsicht beantragt die SUVA, die vom Beschwerdeführer
eingereichten Unterlagen, mit denen dieser die Abweichung zwischen mündlicher
Urteilsberatung und schriftlicher Urteilsbegründung zu beweisen sucht, seien
als unzulässig aus dem Recht zu weisen. Sie begründet dies damit, die
Unterlagen enthielten Aussagen des Schiedsrichters B., mit denen dieser gegen
das Sitzungsgeheimnis verstossen habe. Ob dieser Vorwurf gegenüber dem
Schiedsrichter zutrifft, ist nicht im vorliegenden Verfahren zu prüfen. Die
Frage der Zulässigkeit der eingereichten Beweismittel kann
BGE 138 V 154 S. 157
vorliegend offenbleiben, da, wie in nachstehender Erwägung aufgezeigt wird, es
letztlich unerheblich ist, ob der Vorwurf des Beschwerdeführers zutrifft.

2.3 Gemäss Art. 112 Abs. 1 BGG sind Entscheide, die der Beschwerde an das
Bundesgericht unterliegen, den Parteien schriftlich zu eröffnen. Sie müssen
enthalten: die Begehren, die Begründung, die Beweisvorbringen und
Prozesserklärungen der Parteien, soweit sie nicht aus den Akten hervorgehen
(lit. a); die massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art,
insbesondere die Angabe der angewendeten Gesetzesbestimmungen (lit. b); das
Dispositiv (lit. c); eine Rechtsmittelbelehrung einschliesslich Angabe des
Streitwerts, soweit dieses Gesetz eine Streitwertgrenze vorsieht (lit. d). Das
Bundesgericht kann in Anwendung von Art. 112 Abs. 3 BGG einen Entscheid, der
den Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 BGG nicht genügt, an die kantonale
Behörde zur Verbesserung zurückweisen oder aufheben.

2.4 Ist es bei einem Gericht üblich, das Dispositiv der Entscheide direkt nach
der mündlichen Beratung und Urteilsfällung des Gerichts den Parteien zu
eröffnen, so ist nicht zu verhindern, dass nicht in jedem Fall bereits im
Zeitpunkt der Dispositiveröffnung die ausformulierte Urteilsbegründung
vorliegt. An einer mündlichen Verhandlung werden von den beteiligten
Gerichtspersonen oft unterschiedliche Erwägungen angestellt, die anschliessend
zu einem in sich geschlossenen Urteilsentwurf zu verarbeiten sind (vgl. auch
CHRISTOPH LEUENBERGER, Die Zusammenarbeit von Richter und Gerichtsschreiber,
ZBl 87/1986 S. 97 ff., 100). Ebenfalls kann das Gericht während der Redaktion
der Begründung zum Schluss kommen, das Dispositiv lasse sich besser anders als
während der Beratung vorgesehen begründen oder in der Begründung sollten noch
einzelne Aspekte behandelt werden, denen bei der Beratung nicht das notwendige
Gewicht beigemessen wurde. Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers ist
dies unproblematisch (so etwa ausdrücklich MAX GULDENER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 246). Zudem wäre es für die obere Instanz
faktisch unmöglich, die Übereinstimmung von Beratung und Begründung zu
überprüfen. Im Weiteren würden sich heikle Abgrenzungsfragen stellen, in
welcher Intensität ein Aspekt bei der Beratung angesprochen worden sein müsste,
damit er Eingang in die Begründung finden dürfte. Letztlich wäre mit einem
gegenteiligen Entscheid dem Beschwerdeführer nicht geholfen: Würde ein
Entscheid aufgehoben, weil die
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Begründung nicht der Beratung entspricht, und die Sache an die entscheidende
Instanz zurückgewiesen, so würde das wieder mit der Sache befasste Gericht wohl
wieder im Sinne der in der Zeit zwischen Beratung und Begründung als besser
erkannten schriftlichen Begründung entscheiden. Eine Rückweisung einzig aus dem
Grund, dass die schriftliche Begründung nicht der Beratung entspreche, würde
somit zu einem formalistischen Leerlauf führen.

3.

3.1 Der Beschwerdeführer rügt weiter, die Begründung des vorinstanzlichen
Entscheides stamme nicht von den Schiedsrichtern, sondern vom
Gerichtsschreiber.

3.2 In der Schweiz ist es in vielen Kantonen und auch am Bundesgericht
vorgesehen und üblich, dass die Gerichtsschreiber und Gerichtsschreiberinnen
die Gerichtsentscheide redigieren; teilweise helfen sie auch mit, die
Urteilsanträge der Richterinnen und Richter vorzubereiten (vgl. Art. 24 Abs. 2
BGG). Eine solche Vorgehensweise verstösst somit jedenfalls nicht gegen
Bundesrecht; insbesondere entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers auch
nicht gegen die EMRK (vgl. etwa Urteil des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte Pedro Ramos gegen Schweiz vom 14. Oktober 2010 § 50).

3.3 Auch wenn mit dem Erstellen von Referaten und Urteilsbegründungen
Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber betraut werden und diese auf
diesem Weg Einfluss auf den Inhalt eines Entscheides nehmen können (vgl. BGE
115 Ia 224 E. 7b/aa S. 229), so kann weder die Entscheidkompetenz (vgl. BGE 134
I 184 E. 5.5.4 S. 197) noch die Verantwortung für die Begründung an diese
delegiert werden (so etwa, für die Situation am Bundesgericht: PETER UEBERSAX,
in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 61 zu Art. 24
BGG).

3.4 Nicht nur das Dispositiv, sondern auch die Begründung eines Entscheides
muss der Meinung der Mehrheit des Spruchkörpers entsprechen (vgl. LEUENBERGER,
a.a.O., S. 106; ALAIN WURZBURGER, in: Commentaire de la LTF, 2009, N. 23 zu
Art. 24 BGG; GULDENER, a.a.O.). Dies folgt bei den direkten Vorinstanzen des
Bundesgerichts bereits aus dem Umstand, dass das Bundesgericht im Vergleich zu
den ihm vorgelagerten Gerichten regelmässig über eine engere Kognition verfügt;
je nach der Begründung eines Entscheides können daher die Erfolgsaussichten
einer Anfechtung verschieden sein.
BGE 138 V 154 S. 159

3.5 Damit sichergestellt ist, dass die Begründung eines Entscheides der Meinung
des Spruchkörpers entspricht, müssen die beteiligten Richterinnen und Richter
davon Kenntnis nehmen und Änderungsanträge stellen können. In welcher Art und
Weise dies geschieht, bestimmt sich indessen nicht nach Bundesrecht, sondern
nach dem jeweils anwendbaren (kantonalen) Prozess- und
Gerichtsorganisationsrecht (für die Situation am Bundesgericht s. Art. 45 f.
des Reglements vom 20. November 2006 für das Bundesgericht [BGerR; SR
173.110.131]).
Gemäss dem vorinstanzlichen Entscheid war für das Verfahren vor dem
Schiedsgericht nach Art. 57 UVG unter anderem das Konkordat vom 27. März 1969
über die Schiedsgerichtsbarkeit subsidiär anwendbar. Art. 33 Abs. 2 dieses
Konkordates sieht vor, dass der Schiedsspruch mit dem Datum zu versehen und von
den Schiedsrichtern zu unterzeichnen ist. Die Unterschrift der Mehrheit der
Schiedsrichter genügt, wenn im Schiedsspruch vermerkt wird, dass die Minderheit
die Unterzeichnung verweigert. Nachdem die Instruktionsrichterin die Sache in
Anwendung von Art. 112 Abs. 3 BGG zur Verbesserung an das Schiedsgericht
zurückgewiesen hat, erfüllt der angefochtene Entscheid diese Vorschrift.
Gleichzeitig steht nunmehr auch fest, dass die Urteilsbegründung der Ansicht
der Mehrheit des Spruchkörpers entspricht.
Zusammenfassend ist der vorinstanzliche Entscheid nicht aus formellen Gründen
aufzuheben.

4.

4.1 Materiell ist streitig und zu prüfen, ob der Beschwerdeführer als kantonal
approbierter Zahnarzt berechtigt ist, die an eine Notfallbehandlung
anschliessende Regelbehandlung zu Lasten der SUVA abzurechnen. Da es sich somit
nicht um eine Leistungsstreitigkeit im Sinne von Art. 97 Abs. 2 und Art. 105
Abs. 3 BGG handelt, ist dem Entscheid der Sachverhalt zu Grunde zu legen, wie
ihn die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG).

4.2 Als Ärzte, Zahnärzte und Apotheker im Sinne des UVG gelten gemäss Art. 53
Abs. 1 Satz 1 UVG Personen, die das eidgenössische Diplom besitzen. Diesen
gleichgestellt sind in Anwendung von Art. 53 Abs. 1 Satz 2 UVG Personen, denen
aufgrund eines wissenschaftlichen Befähigungsausweises eine kantonale
Bewilligung zur Ausübung des ärztlichen oder zahnärztlichen Berufes erteilt
worden ist.
BGE 138 V 154 S. 160

4.3 Es steht fest und ist unbestritten, dass es dem Beschwerdeführer aufgrund
einer kantonalen Bewilligung erlaubt ist, als Zahnarzt tätig zu sein. Zu prüfen
ist jedoch, ob diese Bewilligung aufgrund eines wissenschaftlichen
Befähigungsausweises ("sur la base d'un certificat de capacité scientifique",
"in base a un certificato scientifico di capacità") erteilt wurde.

4.4 Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, war die Anerkennung kantonal
approbierter Zahnärzte in den Beratungen zum UVG umstritten. Ein Antrag,
unabhängig von einem wissenschaftlichen Befähigungsausweis alle Zahnärzte mit
kantonaler Bewilligung zur Erbringung von Leistungen zu Lasten der SUVA
zuzulassen, fand im Nationalrat keine Mehrheit (vgl. AB 1979 N 255 f.).
Ausgeschlossen werden sollten nach dem Votum des Bundespräsidenten Hürlimann
(AB 1979 N 256) "Aerzte, Naturärzte usw.", die ohne einen wissenschaftlichen
Ausweis ihrer Ausbildung diesen Beruf ausüben. In der Lehre wird davon
ausgegangen, ein solcher Befähigungsausweis setze eine - allenfalls im Ausland
erworbene - Hochschulausbildung voraus, die dem schweizerischen
Universitätsstandard entspricht (THOMAS A. BÜHLMANN, Die rechtliche Stellung
der Medizinalpersonen im Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 20. März
1981, 1985, S. 219; vgl. auch ALFRED MAURER, Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl. 1989, S. 518 Fn. 1332). Dies erscheint auch
mit Blick auf die Regelung im Bereich der Krankenversicherung (vgl. Art. 43 KVV
[SR 832.102] in Verbindung mit Art. 36 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 23. Juni
2006 über die universitären Medizinalberufe [Medizinalberufegesetz, MedBG; SR
811.11] und Art. 14 Abs. 2 der Verordnung vom 27. Juni 2007 über Diplome,
Ausbildung, Weiterbildung und Berufsausübung in den universitären
Medizinalberufen [Medizinalberufeverordnung, MedBV; SR 811.112.0]) und der
Militärversicherung (Art. 22 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über
die Militärversicherung [MVG; SR 833.1] - vgl. zur Anwendung der Vorschriften
der Krankenversicherung auf die Militärversicherung: JÜRG MAESCHI, Kommentar
zum Bundesgesetz über die Militärversicherung, 2000, N. 9 zu Art. 22 MVG) als
sachgerecht.

4.5 Die kantonale Bewilligung des Beschwerdeführers wurde zwar aufgrund einer
bestandenen Prüfung, jedoch ohne dass er eine Hochschulausbildung durchlaufen
hätte, ausgestellt. Diese Bewilligung wurde damit nicht aufgrund eines
wissenschaftlichen Befähigungsausweises im Sinne von Art. 53 Abs. 1 UVG
erteilt. Der Beschwerdeführer ist damit nicht berechtigt, über die
Notfallbehandlung
BGE 138 V 154 S. 161
hinausgehende Leistungen zu Lasten der obligatorischen Unfallversicherung
abzurechnen. Der entsprechende vorinstanzliche Entscheid besteht demnach zu
Recht; die Beschwerde ist abzuweisen.