Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 I 406



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Urteilskopf

138 I 406

35. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X.
Versicherung AG gegen Y. Versicherung (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_217/2012 / 4A_277/2012 vom 9. Oktober 2012

Regeste

Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Befangenheit von nebenamtlichen
Richtern.
Bestätigung der in BGE 135 I 14 begründeten Praxis, wonach ein als Richter
amtierender Anwalt nicht nur dann als befangen erscheint, wenn er in einem
anderen Verfahren eine der Prozessparteien vertritt oder kurz vorher vertreten
hat, sondern auch dann, wenn im anderen Verfahren ein solches
Vertretungsverhältnis zur Gegenpartei einer der Prozessparteien besteht bzw.
bestand. Ablehnung einer konkreten, fallbezogenen Prüfung (E. 5.3 und 5.4).

Erwägungen ab Seite 407

BGE 138 I 406 S. 407
Aus den Erwägungen:

5.

5.3 Das Bundesgericht hielt in einem Entscheid aus dem Jahre 1990 fest, dass
ein als Richter amtender Anwalt befangen erscheine, wenn zu einer Partei ein
noch offenes Mandat besteht oder er für eine Partei in dem Sinne mehrmals
anwaltlich tätig wurde, dass zwischen ihnen eine Art Dauerbeziehung besteht.
Dies gelte unabhängig davon, ob das Mandat in einem Sachzusammenhang mit dem zu
beurteilenden Streitgegenstand stehe oder nicht. Zu bedenken sei, dass ein
Anwalt auch ausserhalb seines Mandats versucht sein könne, in einer Weise zu
handeln, die seinen Klienten ihm gegenüber weiterhin wohlgesinnt sein lasse (
BGE 116 Ia 485 E. 3b S. 489 f.).
In BGE 135 I 14 ging das Bundesgericht nach Auseinandersetzung mit der neueren
Lehre und Rechtsprechung einschliesslich jener des EGMR noch einen Schritt
weiter. Es erkannte, dass ein als Richter bzw. Schiedsrichter amtierender
Anwalt nicht nur dann als befangen erscheint, wenn er in einem anderen
Verfahren eine der Prozessparteien vertritt oder kurz vorher vertreten hat,
sondern auch dann, wenn im anderen Verfahren ein solches Vertretungsverhältnis
zur Gegenpartei einer der Prozessparteien besteht bzw. bestand (BGE 135 I 14 E.
4.1-4.3). Es erwog dazu, in Fällen, in denen der Richter in anderen Verfahren
zwar nicht die Prozesspartei selbst, sondern deren Gegenpartei vertritt oder
vertrat, bestehe insofern ein Anschein der Befangenheit, als die Prozesspartei
objektiv gesehen befürchten könne, der Richter könnte nicht zu ihren Gunsten
entscheiden wollen, weil sie im anderen Verfahren Gegenpartei seines Mandanten
sei. Daran ändere nichts, dass von einem Anwalt, der als (nebenamtlicher)
Richter oder als Schiedsrichter tätig sei, erwartet werden können sollte, dass
er in einem zu beurteilenden Fall beiden Prozessparteien gleichermassen
Gerechtigkeit widerfahren lässt, unabhängig davon, dass er in einem anderen
Verfahren als Anwalt gegen eine der Prozessparteien auftritt oder auftrat. Das
Bundesgericht wies dazu auf die Erfahrungstatsache hin, dass eine Prozesspartei
ihre negativen Gefühle gegenüber der Gegenpartei oft auf deren anwaltlichen
Vertreter überträgt, da dieser die Gegenpartei in der
BGE 138 I 406 S. 408
Auseinandersetzung mit ihr unterstützt. Für viele Parteien gelte der Anwalt der
Gegenpartei ebenso als Gegner wie die Gegenpartei selbst, umso mehr, als er als
der eigentliche Stratege im Prozess wahrgenommen werde. Es sei deshalb
nachvollziehbar, dass eine Partei von einem Richter, der sie in einem anderen
Verfahren als Vertreter der dortigen Gegenpartei bekämpft(e) und sie - aus
ihrer Sicht - möglicherweise um ihr Recht bringen wird oder gebracht hat, nicht
erwartet, er werde ihr plötzlich völlig unbefangen gegenübertreten (E. 4.3 S.
18).
Nachdem vorliegend feststeht, dass Handelsrichter Hablützel als Rechtsanwalt
und andere Anwälte aus seiner Kanzlei regelmässig Prozesse gegen die
Beschwerdeführerin führten und auch offene Mandatsbeziehungen gegen die
Beschwerdeführerin bestehen, ist nach dieser Rechtsprechung ohne weiteres vom
objektiven Anschein der Befangenheit von Handelsrichter Hablützel im
vorliegenden Verfahren auszugehen. Die Vorinstanz verletzte somit Art. 30 BV
und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, indem sie unter seiner Mitwirkung den angefochtenen
Entscheid fällte.

5.4 Was die Beschwerdegegnerin dagegen vorbringt, vermag nicht durchzudringen.

5.4.1 Sie hält dafür, die in BGE 135 I 14 erfolgte Präzisierung der
Rechtsprechung gehe insofern zu weit, als bestehende oder seit kurzem
abgeschlossene Vertretungsmandate eines Richters zu einer Gegenpartei einer der
Prozessparteien in einem anderen Verfahren zwangsläufig und abstrakt den
Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit begründeten. Es
sollte ihrer Auffassung nach immer konkret und fallbezogen geprüft werden, ob
bei objektiver Betrachtungsweise berechtigterweise vom Anschein der
Befangenheit ausgegangen werden könne. Dies sei nicht der Fall, wenn keine
besondere Interessenlage gegeben sei, und es gebe keine Gründe, eine negative
Dauerbeziehung immer gleich umfassend zu sehen. Dies wäre mit einem
Menschenbild, von dem auszugehen sei und bei dem nicht negative Gefühle,
sondern Unbefangenheit kraft Fachkenntnis und Amtsverpflichtung vorherrschten,
nicht zu vereinbaren.
Damit vermag die Beschwerdegegnerin die in BGE 135 I 14 begründete
Rechtsprechung, die mit derjenigen des EGMR harmoniert (vgl. den Hinweis in BGE
135 I 14 E. 4.1 S. 17) und vom Bundesgericht mehrfach bestätigt wurde (Urteil
4F_8/2010 vom 18. April 2011
BGE 138 I 406 S. 409
E. 2.5; vgl. auch die Urteile 2D_29/2009 vom 12. April 2011 E. 3 und 4A_256/
2010 vom 26. Juli 2010 E. 2.1, in: sic! 12/2010 S. 917 ff.), nicht in Frage zu
stellen, geht sie doch nicht hinreichend auf die Begründung in BGE 135 I 14
ein. Insbesondere übersieht die Beschwerdegegnerin, dass das Bundesgericht in
jenem Urteil durchaus berücksichtigte, dass von einem Anwalt, der als
(nebenamtlicher) Richter tätig ist, an sich zu erwarten sei, dass er zwischen
seiner amtlichen und seiner beruflichen Tätigkeit zu unterscheiden weiss. Es
anerkannte, dass der Umstand, wonach er in einem anderen Verfahren als Anwalt
gegen eine der Prozessparteien auftritt oder auftrat, ihn an sich nicht daran
hindern sollte, als Richter auch dieser Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Das Bundesgericht entschied aber, es sei dennoch von einem objektiven Anschein
der Befangenheit auszugehen, weil der Anwalt der Gegenpartei für viele Parteien
ebenso als Gegner gelte wie die Gegenpartei selbst und die Partei daher nicht
erwarte, er werde ihr in seinem Amt als Richter plötzlich völlig unbefangen
gegenübertreten. Dies gelte unabhängig davon, ob das Mandat des Anwalts in
einem Sachzusammenhang mit dem als Richter zu beurteilenden Streitgegenstand
stehe oder nicht. Weshalb es in Fällen wie dem vorliegenden entgegen diesen
Erwägungen vertretbar sein soll, eine konkrete und fallbezogene Prüfung
vorzunehmen, statt ungeachtet der weiteren konkreten Umstände (abstrakt) von
einem Anschein der Befangenheit auszugehen, legt die Beschwerdegegnerin nicht
dar.

5.4.2 Weiter bringt die Beschwerdegegnerin vor, die kritisierte Rechtsprechung
führe dazu, dass Handelsrichter, die auch als Fachanwälte tätig seien, ihre
eigentlich erwünschte Fachkompetenz in den entscheidenden Fällen kaum mehr in
die Rechtsprechung einfliessen lassen könnten. Damit werde die Institution des
Handelsgerichts an sich in Frage gestellt. Damit argumentiert sie von den
möglichen Auswirkungen dieser Rechtsprechung her und bringt kein sachdienliches
Argument vor, das dieselbe in Frage zu stellen vermöchte. Namentlich sind ihre
Bedenken unbegründet, die Anwendung der kritisierten Rechtsprechung könnte dazu
führen, dass auch Handelsrichter, bloss weil aus der Versicherungsbranche
stammend, als befangen betrachtet werden könnten. Dass dies der Fall sei, hat
das Bundesgericht in BGE 136 I 207 mit ausführlicher Begründung verneint.

5.4.3 Nach dem Ausgeführten sind die Voraussetzungen für eine Änderung der
Rechtsprechung (vgl. BGE 138 III 359 E. 6.1;
BGE 138 I 406 S. 410
BGE 137 V 282 E. 4.2, BGE 137 V 314 E. 2.2) offensichtlich nicht erfüllt und
bleibt es dabei, dass Handelsrichter Hablützel im streitbetroffenen Verfahren
als befangen zu gelten hat.
Für die verfahrensrechtlichen Aspekte dieses Urteils nach der ZPO siehe BGE 138
III 702 E. 3.2, 3.4 und 3.5.