Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 I 265



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Urteilskopf

138 I 265

25. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. K. gegen
Regierungsrat des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_44/2012 vom 31. August 2012

Regeste

Art. 8 Abs. 1-3 BV; Art. 25a Abs. 5 KVG; Art. 25d Abs. 1 der Verordnung des
Kantons Bern über die öffentliche Sozialhilfe (Sozialhilfeverordnung, SHV);
abstrakte Normenkontrolle.
Die Regelung von Art. 25d Abs. 1 SHV, wonach Leistungsempfängerinnen und
Leistungsempfänger, die das 65. Altersjahr vollendet haben, sich im Rahmen
ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit an den Pflegekosten beteiligen, ist weder
alters- noch geschlechterdiskriminierend (E. 4-6).

Sachverhalt ab Seite 265

BGE 138 I 265 S. 265

A. Der seit 1. Januar 2011 in Kraft stehende Art. 25a Abs. 5 KVG statuiert
unter dem Titel "Pflegeleistungen bei Krankheit", dass der versicherten Person
von den nicht von Sozialversicherungen gedeckten Pflegekosten höchstens 20
Prozent des höchsten vom Bundesrat festgesetzten Pflegebeitrages überwälzt
werden dürfen. Die Kantone regeln die Restfinanzierung.
BGE 138 I 265 S. 266
Der Regierungsrat des Kantons Bern verabschiedete am 2. November 2011 die
revidierten Bestimmungen der Verordnung vom 24. Oktober 2001 über die
öffentliche Sozialhilfe (Sozialhilfeverordnung, SHV; BSG 860.111) und setzte
deren Inkrafttreten grundsätzlich auf den 1. Januar 2012 fest. Der gestützt auf
Art. 25a Abs. 5 KVG erlassene Art. 25d SHV, der sich einzig auf die
Pflegekosten im ambulanten Bereich bezieht, lautet wie folgt:
2. Kostenbeteiligung der Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger
^1 Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger, die das 65. Altersjahr
vollendet haben, beteiligen sich im Rahmen ihrer finanziellen
Leistungsfähigkeit an den Pflegekosten.
^2 Die Kostenbeteiligung entspricht maximal der nach Artikel 25a Absatz 5 KVG
zulässigen Beteiligung.
^3 Bis zu einem massgebenden Einkommen von 50'000 Franken sind die
Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger von der Kostenbeteiligung
befreit.
^4 Ab einem massgebenden Einkommen von 100'000 Franken wird die maximale
Kostenbeteiligung erhoben.
^5 Das massgebende Einkommen setzt sich zusammen aus dem steuerbaren Einkommen
zuzüglich eines Zehntels des steuerbaren Vermögens.
^6 Die Kostenbeteiligung wird linear zwischen dem Minimalansatz von einem
Franken bei einem massgebenden Einkommen von 50'001 Franken und dem
Maximalansatz entsprechend dem tatsächlichen massgebenden Einkommen und
Vermögen gemäss der im Anhang 1 enthaltenen Formel festgelegt.
Mit Beschluss vom 14. Dezember 2011 schob der Regierungsrat das Inkrafttreten
des Art. 25d SHV auf den 1. April 2012 hinaus.

B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt K., der
neue Art. 25d Abs. 1 SHV sei aufzuheben. Der Beschwerdegegner schliesst auf
Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden könne.

C. Mit Verfügung vom 29. März 2012 wies der Präsident der I. sozialrechtlichen
Abteilung das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde ab.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4. Der Beschwerdeführer wendet ein, Art. 25d Abs. 1 SHV führe zu einer
Altersungleichbehandlung/Altersdiskriminierung (Art. 8 Abs. 1 und 2 BV).
BGE 138 I 265 S. 267

4.1 Ein Erlass verletzt das Gebot der Rechtsgleichheit, wenn er rechtliche
Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden
Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder Unterscheidungen unterlässt, die sich
aufgrund der Verhältnisse aufdrängen (BGE 136 II 120 E. 3.3.2 S. 127 mit
Hinweisen). Dem Gesetzgeber bleibt im Rahmen dieser Grundsätze und des
Willkürverbots ein weiter Spielraum der Gestaltung, den das Bundesgericht nicht
durch eigene Gestaltungsvorstellungen schmälert (BGE 136 I 1 E. 4.1 S. 5; BGE
134 I 23 E. 9.1 S. 42 mit Hinweisen). Leitbild ist eine grundsätzlich
differenzierte Ordnung (YVO HANGARTNER, Diskriminierung - ein neuer
verfassungsrechtlicher Begriff, ZSR 122/2003 I S. 97 ff., insbesondere S. 110
f.; Urteil 8C_1074/2009 vom 2. Dezember 2010 E. 3.4.1).

4.2

4.2.1 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV darf niemand diskriminiert werden, namentlich
nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache,
der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder
politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder
psychischen Behinderung. Das Diskriminierungsverbot lehnt sich in den
Grundzügen an die internationalen Grundrechtsgarantien an, wie sie insbesondere
in Art. 14 EMRK und verschiedenen Bestimmungen des UNO-Paktes II (SR 0.103.2)
enthalten sind (vgl. MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008,
S. 679; RAINER J. SCHWEIZER, in: Die schweizerische Bundesverfassung,
Kommentar, Ehrenzeller und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2008, N. 43 zu Art. 8 BV;
HANGARTNER, a.a.O., S. 98 f.). Indessen macht das Diskriminierungsverbot die
Anknüpfung an ein gemäss Art. 8 Abs. 2 BV verpöntes Merkmal nicht absolut
unzulässig. Vielmehr begründet dieser Umstand zunächst den blossen Verdacht
einer unzulässigen Differenzierung, der nur durch eine genügende Rechtfertigung
umgestossen werden kann. Das Diskriminierungsverbot hat also rechtlich die
Bedeutung, dass ungleiche Behandlungen einer besonders qualifizierten
Begründungspflicht unterstehen (BGE 136 I 121 E. 5.2 S. 127; BGE 135 I 49 E.
4.1 S. 53; BGE 129 I 392 E. 3.2.2 S. 397; Urteil 8C_169/2009 vom 28. Juli 2009
E. 4.2.1; je mit Hinweisen). Anders als beim allgemeinen Gleichheitsgebot (vgl.
vorstehende E. 4.1 i.f.) ist somit im Bereich der für das
Diskriminierungsverbot typischen Anknüpfungstatbestände die absolute
Gleichbehandlung der Normalfall, die Differenzierung die Ausnahme (Urteil
8C_1074/2009 E. 3.4.2).

4.2.2 Art. 8 Abs. 2 BV verbietet nicht nur die direkte, sondern auch die
indirekte Diskriminierung. Letztere ist dann gegeben, wenn eine
BGE 138 I 265 S. 268
Regelung, die keine offensichtliche Benachteiligung von spezifisch gegen
Diskriminierung geschützter Gruppen enthält, in ihren tatsächlichen
Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe besonders stark benachteiligt,
ohne dass dies sachlich begründet wäre (BGE 136 I 297 E. 7.1 S. 306).
Angesichts der Schwierigkeit, für alle Fälle generell und abstrakt den Umfang
des Eingriffs zu definieren, den die erlittene Verletzung für eine durch Art. 8
Abs. 2 BV geschützte Gruppe im Vergleich zur Mehrheit der Bevölkerung erreichen
darf, kann die Erkennung einer Diskriminierung nur aus einer Gesamtabwägung
aller Umstände des Einzelfalls resultieren. Auf jeden Fall muss der Eingriff
eine signifikante Bedeutung erreichen; das indirekte Diskriminierungsverbot
kann nur dazu dienen, die offenkundigsten negativen Auswirkungen einer
staatlichen Regelung zu korrigieren (BGE 138 I 205 E. 5.5 S. 213 f. mit
Hinweisen).

4.3 Die Lehre unterscheidet jedoch zu Recht zwischen den einzelnen in Art. 8
Abs. 2 BV genannten Kriterien. Während bei Anknüpfungstatbeständen wie dem
Geschlecht, der Rasse, der Religion u.Ä. eine Differenzierung im oben (E.
4.2.1) dargelegten Sinn im Prinzip unzulässig ist und einer besonderen
Rechtfertigung bedarf, ist insbesondere das Kriterium Alter anderer Natur. Es
knüpft nicht an eine historisch schlechtergestellte oder politisch ausgegrenzte
Gruppe an. Hier handelt es sich daher um einen atypischen
Diskriminierungstatbestand, der sich in der praktischen Anwendung dem
allgemeinen Gleichheitssatz von Art. 8 Abs. 1 BV nähert (HANGARTER, a.a.O., S.
110; BERNHARD WALDMANN, Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als
besonderer Gleichheitssatz, 2003, S. 327 und 733; SCHWEIZER, a.a.O., N. 48 zu
Art. 8 BV). Ein Teil der Lehre geht denn auch davon aus, dass bezüglich des
Alters praktisch kein Unterschied zum Schutz gemäss Art. 8 Abs. 1 BV besteht
(JÖRG PAUL MÜLLER, Die Diskriminierungsverbote nach Art. 8 Abs. 2 der neuen
Bundesverfassung, in: Die neue Bundesverfassung, 2000, S. 103 ff., insbesondere
S. 120; PASCAL MAHON, in: Petit commentaire de la Constitution fédérale de la
Confédération suisse, Aubert/Mahon [Hrsg.], 2003, N. 16 zu Art. 8 BV; ETIENNE
GRISEL, Egalité, Les garanties de la Constitution fédérale du 18 avril 1999,
2000, S. 78 f.). Ein anderer Teil nimmt an, mit Bezug auf die Gründe, die eine
Schlechterstellung wegen des Alters rechtfertigen können, gehe Art. 8 Abs. 2 BV
nicht über die Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes hinaus; hingegen
soll im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung ein etwas strikterer Massstab
gelten, um so dem mit Art. 8 Abs. 2 BV gewollten höheren Schutz Rechnung zu
tragen (SCHEFER/RHINOW, Zulässigkeit von Altersgrenzen für
BGE 138 I 265 S. 269
politische Ämter aus Sicht der Grundrechte, Gutachten im Auftrag des
Schweizerischen Seniorenrats, Jusletter 7. April 2003, Rz. 60 f.; wohl auch
HANGARTNER, a.a.O., S. 116 und VINCENT MARTENET, Géométrie de l'égalité, 2003,
Rz. 898). Von Letzterem ist auszugehen. Nachfolgend ist somit zu prüfen, ob der
kantonale Erlass in unverhältnismässiger Weise Unterscheidungen trifft, die
sachlich nicht gerechtfertigt werden können (Urteil 8C_1074/2009 E. 3.4.3).

5.

5.1 Die in Art. 25d Abs. 1 SHV statuierte Altersgrenze von 65 Jahren für die
Patientenbeteiligung im Krankheitsfall an den Kosten der ambulanten Pflege
gemäss Art. 25a Abs. 5 KVG ist - wie die folgenden Erwägungen zeigen - nicht
diskriminierend: Sie steht im Einklang mit der Zielsetzung des KVG, mit einer
Limitierung der Kostenbeteiligung den Schutz der Betroffenen vor Verarmung zu
gewährleisten (vgl. GEBHARD EUGSTER, Bundesgesetz über die Krankenversicherung
[KVG], 2010, N. 13 zu Art. 25a KVG). Die Kantone sind innerhalb des
bundesgesetzlichen Rahmens frei, weitere Abstufungen vorzunehmen. Das
Rechtsgleichheitsprinzip schliesst nicht aus, dass die einzelnen Kantone zur
gleichen Materie unterschiedliche Regelungen erlassen: dies ist eine Folge der
föderalistischen Staatsstruktur (BGE 136 I 1 E. 4.4.4 S. 12).
Beispielhaft seien die Regelungen von folgenden drei anderen Kantonen
angeführt:
- Kanton Zürich: § 9 des Pflegegesetzes vom 27. September 2010 (LS 855.1)
statuiert Folgendes: Die Kosten der Pflegeleistungen gehen im von der
Bundesgesetzgebung über die Sozialversicherung vorgeschriebenen Umfang zulasten
der Versicherer (Abs. 1). Die verbleibenden Kosten werden bei Pflegeleistungen
von Pflegeheimen im gemäss Art. 25a Abs. 5 KVG höchstzulässigen Umfang und bei
Pflegeleistungen ambulanter Leistungserbringer zur Hälfte des höchstzulässigen
Umfangs den Leistungsbezügerinnen und -bezügern überbunden. Für Personen bis
zum vollendeten 18. Altersjahr wird keine entsprechende Kostenbeteiligung
erhoben.
- Kanton Luzern: Gemäss § 5 des Gesetzes vom 13. September 2010 über die
Finanzierung der Pflegeleistungen der Krankenversicherung
(Pflegefinanzierungsgesetz; SRL 867) leistet die anspruchsberechtigte Person
einen Beitrag an die Kosten der ambulanten Krankenpflege oder der Krankenpflege
im Pflegeheim, soweit diese nicht von Sozialversicherungen gedeckt sind,
BGE 138 I 265 S. 270
höchstens jedoch von 20 Prozent des höchsten vom Bund für die
Krankenversicherer festgesetzten Pflegebeitrages pro Tag (Abs. 1); für die
ambulante Krankenpflege von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 18.
Altersjahr ist kein Beitrag geschuldet (Abs. 2).
- Kanton Freiburg: Laut Art. 2 Abs. 1 des Ausführungsgesetzes vom 9. Dezember
2010 zum Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung (SGF 820.6)
wird bei Leistungen, die von einem Pflegeheim erbracht werden, der von der
obligatorischen Krankenversicherung nicht übernommene Kostenanteil der im Heim
untergebrachten Person in Rechnung gestellt, und zwar bis höchstens 20 % des
für die einzelnen Pflegestufen festgelegten Beitrags der Krankenversicherer.
Art. 3 dieses Gesetzes statuiert Folgendes: Von der obligatorischen
Krankenversicherung nicht übernommene Kosten für Pflegeleistungen, die von
einer Organisation der Hilfe und Pflege zu Hause mit Leistungsauftrag nach dem
Gesetz über die Hilfe und Pflege zu Hause erbracht werden, werden nach Artikel
16 des Gesetzes vom 8. September 2005 über die Hilfe und Pflege zu Hause
finanziert (Abs. 1). Von der obligatorischen Krankenversicherung nicht
übernommene Kosten für Pflegeleistungen, die von anderen Organisationen der
Hilfe und Pflege zu Hause erbracht werden, werden den Patientinnen und
Patienten zu höchstens 20 % des Beitrags der Krankenversicherer in Rechnung
gestellt. Die Restkosten gehen zulasten des Staates (Abs. 2).

5.2

5.2.1 Der Kanton Bern hat im Rahmen der KVG-Vorgabe zwei Kriterien für die
Beteiligung an den Kosten für die ambulante Pflege aufgenommen, nämlich das
Alter und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der betroffenen Person. Dass
die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ein geeignetes Kriterium im Rahmen des
gesetzlichen Schutzgedankens darstellt, ist offensichtlich und wird nicht
bestritten. Betroffen von der Kostenbeteiligung sind Personen ab 65 Jahren, die
ein massgebendes Einkommen von mehr als Fr. 50'000.- pro Jahr erzielen; erst ab
einem massgebenden Einkommen von mehr als Fr. 100'000.- schulden sie die
maximale Kostenbeteiligung nach Art. 25a Abs. 5 KVG (Art. 25d Abs. 3-6 SHV).
Die Differenzierung liegt mithin darin, dass die unter 65-jährigen Personen
unabhängig von ihrer Einkommens- und Vermögenssituation von der
Kostenbeteiligung befreit sind.
BGE 138 I 265 S. 271

5.2.2 Das Alter 65 als zusätzliche Limitierung ist ebenfalls ein sachbezogenes
Kriterium, weil ab diesem Zeitpunkt fast alle Personen über eine Rente der
Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) verfügen. Bei einen Grossteil
dieser Personen kommt noch die Rente aus der beruflichen Vorsorge dazu. Reichen
diese Einkommen und allfälliges Vermögen zur sozialen Absicherung nicht aus,
erhalten sie nötigenfalls Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV-Rente. Die EL
decken insbesondere auch allfällige Pflegekosten ab. Damit ist dafür gesorgt,
dass diese Personen wegen einer Pflegekostenbeteiligung nicht der Fürsorge zur
Last fallen. Dies ist bei den unter 65-jährigen Personen nicht der Fall. Sie
sind im Krankheitsfall - für welchen Art. 25a KVG und Art. 25d Abs. 1 SHV
gelten - vielfach nicht durch Leistungen anderer Sozialversicherungszweige
abgedeckt, weshalb sie Gefahr laufen, ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr
decken zu können.
Art. 25d Abs. 1 SHV beinhaltet somit keine generelle Benachteiligung der über
65-jährigen Personen, sondern eine Berücksichtigung der unterschiedlichen
Einkommens- und Vermögenssituation von Personen in verschiedenen Lebensphasen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers erweist sich die Regelung als
sachlich gerechtfertigt und verhältnismässig (vgl. E. 4.3 hievor); der Schutz
vor Verarmung wird damit in geeigneter, erforderlicher und für die Betroffenen
zumutbarer Weise erreicht (zum Verhältnismässigkeitsprinzip vgl. BGE 136 I 87
E. 3.2 S. 91 f.). Sie werden durch die sachlich begründete Altersgrenze
insbesondere nicht menschenunwürdig, demütigend oder erniedrigend behandelt,
d.h. in ihrer Wertschätzung als Person herabgesetzt (vgl. BGE 126 II 377 E. 6a
S. 392 f.; BGE 116 V 198 E. 2a/bb S. 207 f.; Urteil 2A.292/2004 vom 7. Juni
2004 E. 2.2.2). Sämtliche Einwendungen des Beschwerdeführers vermögen an diesem
Ergebnis nichts zu ändern.

5.3 Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, bei den über 65-jährigen
Personen müssten sich die SPITEX-Organisationen im Lichte von Art. 25d Abs. 3-6
SHV die vollständige Information über ihre Einkommens- und
Vermögensverhältnisse beschaffen; gestützt auf Art. 8c (in Kraft seit 1. Januar
2012) des Gesetzes des Kantons Bern vom 11. Juni 2001 über die öffentliche
Sozialhilfe (Sozialhilfegesetz, SHG; BSG 860.1) dürften sie dies auch. Dies
stelle für die Betroffenen eine Stigmatisierung dar. Hierzu ist Folgendes
festzuhalten: Gemäss Art. 25d Abs. 5 SHV müssen die betroffenen Personen nicht
ihre gesamte Einkommens- und Vermögenslage, sondern nur ihr steuerbares
Einkommen und Vermögen deklarieren. Im Kanton
BGE 138 I 265 S. 272
Bern werden die steuerbaren Einkommen und Vermögen der Steuerpflichtigen in
einem öffentlichen Steuerregister aufgeführt (Art. 164 des bernischen
Steuergesetzes vom 21. Mai 2000 [StG; BSG 661.11]). Zwar kann die
steuerpflichtige Person die Bekanntgabe von Steuerdaten sperren lassen, was
aber nur bei überwiegenden öffentlichen Interessen möglich ist (z.B. bei
prominenten Personen mit entsprechendem Gefährdungspotential). Auch kann die
Sperrung für die Veröffentlichung verlangt werden (d.h. keine öffentliche
Auflage und keine Liste); die Pflicht der Gemeinde zur Auskunft auf
Einzelanfragen hin bleibt dabei aber bestehen (vgl. Öffentlichkeit des
Steuerregisters von natürlichen Personen, TaxInfo der Finanzdirektion des
Kantons Bern vom 29. Juni 2012 http:/www.taxinfo.sv.fin.be.ch). Im Lichte
dieser Regelung kann die Pflicht zur Bekanntgabe des steuerbaren Einkommens und
Vermögens an die SPITEX-Organisationen nicht als stigmatisierend angesehen
werden.

6. Der Beschwerdeführer macht weiter eine inhärente Geschlechterdiskriminierung
nach Art. 8 Abs. 3 BV geltend.

6.1 Mit der Annahme von Art. 4 Abs. 2 aBV - seit 1. Januar 2000: Art. 8 Abs. 3
BV - hat der Verfassungsgeber autoritativ festgestellt, dass die Zugehörigkeit
zum einen oder andern Geschlecht grundsätzlich keinen rechtserheblichen Aspekt
darstellt. Mann und Frau haben somit für die ganze Rechtsordnung im
Wesentlichen als gleich zu gelten. Das Bundesgericht hat daher wiederholt
erklärt, seit dem Inkrafttreten von Art. 4 Abs. 2 aBV sei es dem kantonalen wie
auch dem eidgenössischen Gesetzgeber grundsätzlich verwehrt, Normen zu
erlassen, welche Mann und Frau ungleich behandeln; die erwähnte
Verfassungsbestimmung schliesse die Geschlechtszugehörigkeit als taugliches
Kriterium für rechtliche Differenzierungen aus (z.B. BGE 134 V 131 E. 7.1 S.
136 mit Hinweisen). Eine unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau sei nur
noch zulässig, wenn auf dem Geschlecht beruhende biologische oder funktionale
Unterschiede eine Gleichbehandlung absolut ausschlössen (BGE 108 Ia 22 E. 5a S.
29 und seitherige Rechtsprechung). Der Vorbehalt funktionaler Unterschiede in
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung - biologische Unterschiede fallen
vorliegend zum Vornherein ausser Betracht - bedeutet insbesondere nicht, dass
überkommenen Rollenverständnissen, so sie denn heute noch der Realität
entsprechen, ohne Weiteres auch in Zukunft rechtliche Relevanz verliehen werden
dürfte (Urteil 9C_617/2011 vom 4. Mai 2012 E. 3.4 mit weiteren Hinweisen).
BGE 138 I 265 S. 273

6.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, die Altersgrenze von 65 Jahren sei in Art.
25d Abs. 1 SHV vermutlich in der Annahme gewählt worden, dies entspreche dem
Beginn des ordentlichen Rentenalters. Indessen trete dieses bei Frauen mit 64
und bei Männern mit 65 Jahren ein (Art. 21 Abs. 1 AHVG). Mithin würden Frauen
gegenüber Männern im ersten Rentenjahr bevorzugt behandelt. Man hätte die
Altersgrenze strikt beim Rentenalter nach Art. 21 Abs. 1 AHVG ansetzen müssen.
Die Tatsache, dass sich die Frauen nicht bereits ab Eintritt des Rentenalters
an den Pflegekosten im ambulanten Bereich beteiligen müssen, stellt keine
Diskriminierung im Sinne des Art. 8 Abs. 3 BV dar. Eine solche läge nur vor,
wenn die Kostenpflicht für Frauen und Männer ab dem 64. Altersjahr begänne:
Diesfalls wären die 64-jährigen, nicht AHV-rentenberechtigten Männer
diskriminiert. Anzufügen ist, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse von
64-jährigen Frauen in der Regel schlechter sind als diejenigen der Männer, da
ihnen im privaten Sektor bis heute durchschnittlich tiefere Löhne ausbezahlt
werden (vgl. Schweizerische Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik
[LSE] 2010, Tabelle TA1); dies führt zu tieferen Leistungen aus der 2. und 3.
Säule.