Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 I 242



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

138 I 242

22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Politische Gemeinde Oberriet gegen Y. und Departement des Innern des Kantons
St. Gallen (subsidiäre Verfassungsbeschwerde)
1D_5/2011 vom 12. Juni 2012

Regeste

Einbürgerungsangelegenheiten.
Den kommunalen Bürgerversammlungen kommt ein weiter Ermessensspielraum zu und
von einer gesuchstellenden Person kann eine "gewisse lokale Integration"
verlangt werden. Dies rechtfertigt es jedoch nicht, die Mitgliedschaft in
Vereinen oder anderen Organisationen zum einzig ausschlaggebenden
Integrationsmerkmal zu erheben, denn damit würde das Wesen der Integration, das
in einer allmählichen Angleichung an die schweizerischen Gewohnheiten besteht,
verkannt (E. 5.3).

Sachverhalt ab Seite 242

BGE 138 I 242 S. 242

A. Y. ist albanische Staatsangehörige. Sie gelangte 1991 in die Schweiz und
wohnt seit 1993 in der Politischen Gemeinde Oberriet. Sie ist seit 1995 in der
A. AG in Oberriet tätig. Sie lebt mit ihrem behinderten Sohn X. und ihrem Sohn
Z. sowie dessen Familie zusammen.
Am 27. Mai/1. Oktober 2002 stellte Y. ein Gesuch um Einbürgerung. Der
Einbürgerungsrat der Politischen Gemeinde Oberriet teilte
BGE 138 I 242 S. 243
ihr daraufhin mit, das Gesuch werde zurückgestellt, bis ihre Integration
verbessert sei.
Am 13. Juli 2004 stellte Y. erneut einen Antrag auf Erteilung des Bürgerrechts.
Der Einbürgerungsrat stufte nunmehr die Voraussetzungen zur Einbürgerung als
erfüllt ein und beantragte der Stimmbürgerschaft die Einbürgerung von Y. Diesem
Antrag folgte die Bürgerversammlung vom 31. März 2006 aber nicht und lehnte die
Erteilung des Bürgerrechts ab.

B. Mit Schreiben vom 4. September 2007 beantragte Y. erneut ihre Einbürgerung.
Der Einbürgerungsrat erachtete die Voraussetzungen nach wie vor als gegeben und
stellte der Stimmbürgerschaft an der Bürgerversammlung vom 11. April 2008
erneut den Antrag, Y. das Bürgerrecht zu erteilen. Die Stimmbürgerschaft lehnte
den Einbürgerungsantrag jedoch wiederum ab.
Gegen den Beschluss der Stimmbürgerschaft vom 11. April 2008 erhob Y.
Beschwerde ans Departement des Innern des Kantons St. Gallen, welches diese mit
Entscheid vom 26. Januar 2009 guthiess, den ablehnenden Beschluss der
Stimmbürgerschaft aufhob und die Sache an die Politische Gemeinde Oberriet
zurückwies, damit der Einbürgerungsrat die Vorlage der Bürgerschaft an der
nächsten Bürgerversammlung erneut unterbreiten könne. Gleichzeitig wurde die
Politische Gemeinde Oberriet darauf aufmerksam gemacht, dass bei einer
neuerlichen rechtswidrigen Ablehnung der Einbürgerungsvorlage die Einbürgerung
aufsichtsrechtlich angeordnet werden könnte.
Der Einbürgerungsrat stellte der Bürgerversammlung vom 27. März 2009 abermals
den Antrag, Y. das Bürgerrecht zu erteilen. An der Bürgerversammlung äusserten
sich mehrere Personen zum Einbürgerungsgesuch. Im Anschluss daran lehnte die
Stimmbürgerschaft den Einbürgerungsantrag mit grossem Mehr ab.
Mit Eingaben vom 3. und 24. April 2009 erhob Y. Abstimmungsbeschwerde beim
Departement des Innern. Dieses wies die Beschwerde mit Entscheid vom 11.
Dezember 2009 ab.
Mit Eingabe vom 28. Dezember 2009 reichte Y. Beschwerde beim Verwaltungsgericht
des Kantons St. Gallen ein.
Mit Verfügung vom 25. Januar 2010 wies der Präsident des Verwaltungsgerichts
das von Y. gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ab. Hiergegen erhob
Y. Beschwerde beim Bundesgericht, welches die Beschwerde mit Urteil vom 15.
Juni 2010 guthiess. Mit
BGE 138 I 242 S. 244
Verfügung vom 6. Oktober 2010 hiess das Verwaltungsgericht das Gesuch von Y. um
unentgeltliche Rechtspflege gut.
Mit Urteil vom 31. Mai 2011 hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde von Y.
gut, hob den angefochtenen Entscheid des Departements des Innern vom 11.
Dezember 2009 und den Beschluss der Bürgerversammlung Oberriet vom 27. März
2009 auf und wies die Sache zur Einbürgerung von Y. ans Departement des Innern
zurück. (...)
Das Bundesgericht weist die von der Politischen Gemeinde Oberriet gegen das
Urteil des Verwaltungsgerichts eingereichte subsidiäre Verfassungsbeschwerde
ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

5.

5.1 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung der Gemeindeautonomie. Aus
Sicht der Bürgerversammlung seien die Mitgliedschaft in einem Verein oder die
sonstige Teilnahme am Dorfleben entscheidend, damit von einer besonderen
lokalen Integration gesprochen werden könne. Aus subjektiver Sicht der
Beschwerdegegnerin möge es zwar zutreffen, dass sie keine Zeit für diese
Aktivitäten habe, dies ändere jedoch nichts daran, dass die Bürgerversammlung
solche erwarten dürfe. Indem die Vorinstanz andere Argumente in den Vordergrund
gerückt habe, habe sie eine Ermessenskontrolle vorgenommen und hierdurch in
unzulässiger Weise in den Beurteilungsspielraum der Gemeinde eingegriffen.

5.2 Art. 50 Abs. 1 BV gewährleistet die Gemeindeautonomie nach Massgabe des
kantonalen Rechts. Gemäss Art. 89 Abs. 1 KV/SG (SR 131.225) ist die Gemeinde
autonom, soweit das Gesetz ihre Entscheidungsfreiheit nicht einschränkt.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Gemeinden in einem Sachbereich
autonom, wenn das kantonale Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern
ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine
relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt. Der geschützte
Autonomiebereich kann sich auf die Befugnis zum Erlass oder Vollzug eigener
kommunaler Vorschriften beziehen oder einen entsprechenden Spielraum bei der
Anwendung kantonalen oder eidgenössischen Rechts betreffen. Der Schutz der
Gemeindeautonomie setzt eine solche nicht in einem ganzen Aufgabengebiet,
sondern lediglich im streitigen Bereich voraus. Im Einzelnen ergibt sich der
Umfang der kommunalen Autonomie aus dem für den entsprechenden Bereich
anwendbaren kantonalen
BGE 138 I 242 S. 245
Verfassungs- und Gesetzesrecht (BGE 136 I 265 E. 2.1 S. 269, BGE 136 I 395 E.
3.2.1 S. 398; BGE 135 I 233 E. 2.2 S. 241 f.; je mit Hinweisen). Die Anwendung
von eidgenössischem und kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit
freier Kognition, die Handhabung von Gesetzes- und Verordnungsrecht unter dem
Gesichtswinkel des Willkürverbots (BGE 137 I 235 E. 2.2 S. 237; BGE 136 I 265
E. 2.3 S. 270; BGE 135 I 302 E. 1 S. 305).

5.3 Die Voraussetzungen an die Eignung einer Person zur Einbürgerung sind in
Art. 14 BüG umschrieben (vgl. auch Art. 38 Abs. 2 BV). Die Kantone sind daher
in der Ausgestaltung der Einbürgerungsvoraussetzungen insoweit frei, als sie
hinsichtlich der Wohnsitzerfordernisse oder der Eignung Konkretisierungen
vornehmen können. Nach dem kantonalen Recht sind namentlich der Wille zur
Teilnahme am Wirtschaftsleben und die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz und
in der Nachbarschaft als Merkmale der Integration zu betrachten. Die
Beschwerdeführerin bestreitet dies nicht, sieht aber die Mitgliedschaft in
Vereinen oder anderen Gemeindeorganisationen als entscheidend an, um von einer
genügenden lokalen Integration sprechen zu können.
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Zwar kommt den Bürgerversammlungen
nach der kantonalen Praxis ein weiter Ermessensspielraum zu und kann von einer
Gesuchstellerin eine "gewisse lokale Integration" verlangt werden. Das
rechtfertigt es jedoch nicht, die Mitgliedschaft in Vereinen oder anderen
Organisationen letztlich zum ausschlaggebenden Integrationsmerkmal zu erheben
und dabei die speziellen Umstände, unter denen die Beschwerdegegnerin lebt,
auszublenden. Damit würde das Wesen der Integration, das von der Vorinstanz
zutreffend mit einer allmählichen Angleichung an die schweizerischen
Gewohnheiten umschrieben wird (siehe auch BGE 132 I 167 E. 4.3 S. 173),
verkannt. Im Übrigen gibt es auch viele Schweizerinnen und Schweizer, die, sei
es aufgrund ihres Charakters, sei es aufgrund bestimmter Lebensumstände,
zurückgezogen leben und nicht aktiv auf Gemeindeebene mitwirken, deren
Selbstverständnis als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes aber deswegen nicht
in Frage steht. Der Argumentation der Beschwerdeführerin liegt mithin ein
einseitiger und damit unhaltbarer Integrationsbegriff zugrunde.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz, indem sie neben den
Sprachkenntnissen der Beschwerdegegnerin insbesondere auch deren erfolgreiche
Eingliederung in den Arbeitsprozess und die
BGE 138 I 242 S. 246
von ihr in hohem Mass wahrgenommene Eigenverantwortung in Bezug auf die
Bestreitung ihres Lebensunterhalts wie auch hinsichtlich der Betreuung ihres
behinderten Sohns entscheidend gewichtet hat, nicht in den
Beurteilungsspielraum der Gemeinde eingegriffen hat.