Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 I 189



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Urteilskopf

138 I 189

16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Regierungsrat des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
1C_16/2012 vom 25. April 2012

Regeste

Art. 34 Abs. 1 BV; Modalitäten bei der Umsetzung eines Volksvorschlages
(konstruktiven Referendums).
Obwohl inhaltliche Änderungen am Volksvorschlag grundsätzlich ausgeschlossen
sind, ist eine Anpassung des Gesetzestextes an den Termin des Inkrafttretens
nicht unzulässig. Verzögert sich die Inkraftsetzung aus prozessualen Gründen,
bedürfte die rückwirkende Geltung der neuen Regelung insbesondere einer
entsprechenden genügenden Gesetzesgrundlage und müsste sie einem schutzwürdigen
öffentlichen Interesse dienen (E. 2 und 3).

Sachverhalt ab Seite 189

BGE 138 I 189 S. 189

A. und B. (vgl. den Sachverhalt von BGE 138 I 171 lit. A und B) (...)

D.

D.a Mit Beschluss vom 9. September 2010 revidierte der Grosse Rat des Kantons
Bern das Datum des Inkrafttretens der Novelle des Gesetzes über die Besteuerung
der Strassenfahrzeuge ein erstes Mal und passte die in den Vorlagen enthaltenen
Einführungsdaten wegen der erfolgten Zeitverzögerung so an, dass die
Gesetzesänderung am
BGE 138 I 189 S. 190
1. Januar 2012 hätte in Kraft treten können. Am 21. November 2011 setzte er das
Inkrafttreten in einem weiteren entsprechenden Beschluss auf den 1. Januar 2013
an. Dieser zweite Beschluss wurde im Amtsblatt des Kantons Bern vom 30.
November 2011 publiziert.

D.b X. führt mit Eingabe vom 6. Januar 2012 an das Bundesgericht ausdrücklich
Stimmrechtsbeschwerde gegen die Gesetzesnovelle vom 21. November 2011, mit der
das Inkrafttreten der BSFG-Revision zum zweiten Mal, diesmal auf den 1. Januar
2013, verschoben wurde. Die erste Verschiebung auf den 1. Januar 2012 wurde
nicht angefochten, und sie wird auch ausdrücklich nicht in Frage gestellt.
Unabhängig davon wird aber sinngemäss geltend gemacht, der Grosse Rat sei an
den Text des Volksvorschlags gebunden und dürfe diesen inhaltlich nicht
abändern, da der Volksvorschlag gemäss der gesetzlichen Regelung als Ganzes in
der Form des ausgearbeiteten Entwurfs dem Entwurf der Grossratsvorlage
gegenüberzustellen sei. Der Volksvorschlag sei von einer Einführung auf den 1.
Januar 2011 ausgegangen und enthalte entsprechende Bestimmungen. Auch wenn die
Verschiebung auf den 1. Januar 2012 von den Urhebern akzeptiert worden sei,
wozu sie nicht verpflichtet gewesen wären, könnten sie sich nunmehr gegen eine
erneute Änderung wehren. Der Beschwerdeführer zieht daraus die Folgerung, bei
definitivem Obsiegen des Volksvorschlages sei die BSFG-Novelle
(ECOTAX-Revision) rückwirkend eigentlich auf den 1. Januar 2011, jedenfalls
aber auf den 1. Januar 2012 in Kraft zu setzen, was unproblematisch sei, da sie
in jeder Hinsicht für die Steuerpflichtigen nur Erleichterungen bringe.

E. Am 8. Februar 2012 liess sich der Regierungsrat für den Grossen Rat zur
Sache vernehmen. Er schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Im Wesentlichen
macht er geltend, der Volksvorschlag sei nicht inhaltlich geändert worden,
sondern habe nicht anders als die parlamentarische Vorlage im Hinblick auf die
letztlich wie auch immer ausgestaltete Neuregelung und angesichts der Annuität
der Motorfahrzeugsteuern technisch-rechtlich angepasst werden müssen. Das
verletze die politischen Rechte der Urheber des Volksvorschlags nicht. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Art. 34 Abs. 1 BV gewährleistet in allgemeiner Weise die politischen Rechte
auf Ebene des Bundes, der Kantone und der Gemeinden.
BGE 138 I 189 S. 191
Die Bestimmung bedarf der gesetzlichen Konkretisierung und ist damit der
kantonalen Differenzierung zugänglich (BGE 116 Ia 242 E. 3c S. 251 mit
Hinweisen; Urteile 1C_103/2010 vom 26. August 2010 E. 2.2 und 1C_11/2009 vom 3.
Juni 2009 E. 3.1).

2.2 Stellt im Kanton Bern der Grosse Rat zu einer Abstimmungsvorlage keinen
Eventualantrag, können gemäss Art. 63 Abs. 3 der Verfassung des Kantons Bern
vom 6. Juni 1993 (KV/BE; SR 131.212) 10'000 Stimmberechtigte innert drei
Monaten seit Publikation eines Gesetzes oder eines Grundsatzbeschlusses einen
Volksvorschlag einreichen; dieser gilt als Referendum (vgl. URS BOLZ, in:
Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Teil I: Volksrechte, Kälin/Bolz
[Hrsg.], 1995, S. 115 f.). Prozessual findet nach Art. 63 Abs. 4 KV/BE das
gleiche Abstimmungsverfahren wie bei einem Gegenvorschlag zu einer Initiative
Anwendung. Damit wird auf Art. 60 KV/BE verwiesen. In analoger Anwendung der
Regeln für Initiative und Gegenvorschlag findet die Abstimmung über die
Hauptvorlage und den Volksvorschlag gleichzeitig statt, wobei die
Stimmberechtigten gültig beiden Vorlagen zustimmen und darüber befinden können,
welcher sie im Falle der Annahme beider Vorlagen den Vorzug geben würden.

2.3 Der Volksvorschlag ist ein Volksrecht, das auch als konstruktives
Referendum bezeichnet wird, und stellt das "direktdemokratische Spiegelbild des
parlamentarischen Gegenvorschlags zu einer Volksinitiative" dar (so HANGARTER/
KLEY, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, 2000, Rz. 2181 f.). Er folgt im Wesentlichen denselben
Rechtsregeln wie ein parlamentarischer Gegenvorschlag (vgl. Urteil 1C_103/2010
vom 26. August 2010, in: ZBl 112/2011 S. 279).

2.4 Art. 59a ff. des bernischen Gesetzes vom 5. Mai 1980 über die politischen
Rechte (GPR; BSG 141.1) konkretisieren die verfassungsrechtliche Regelung des
Volksvorschlages. Namentlich sieht Art. 59a GPR vor, dass der Volksvorschlag
als Ganzes in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs der Grossratsvorlage
gegenübergestellt wird. Gibt es wie hier nur einen Volksvorschlag, gelangt nach
Art. 59d GPR uneingeschränkt dasselbe Verfahren gemäss Art. 20 GPR wie bei
einer Initiative mit Gegenvorschlag zur Anwendung.

2.5 Da der Volksvorschlag in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs zu ergehen
hat und dergestalt der Grossratsvorlage gegenübergestellt wird (vgl. Art. 59a
Abs. 2 GPR), sind inhaltliche Änderungen durch den Grossen Rat grundsätzlich
ausgeschlossen (THOMAS SÄGESSER, Das
BGE 138 I 189 S. 192
konstruktive Referendum, 2000, S. 80 und 112). Hingegen legt der Gesetzgeber,
hier der Grosse Rat des Kantons Bern (vgl. Art. 74 KV/BE), das Inkrafttreten
eines neuen Gesetzes fest. Diese Befugnis kann grundsätzlich unter Beachtung
der entsprechenden verfassungsrechtlichen Voraussetzungen (vgl. Art. 69 KV/BE)
an die Exekutive, hier den Regierungsrat des Kantons Bern, delegiert werden.
Dafür braucht es insbesondere eine gesetzliche Grundlage.

3.

3.1 Im vorliegenden Fall ist strittig, ob der Grosse Rat die im Volksvorschlag
vorgesehene zeitliche Regelung ändern durfte. Diese findet sich in Art. 12a des
Gesetzesentwurfs sowie in dessen Übergangsbestimmung und in der Festsetzung des
Inkrafttretens. Das Inkrafttreten war ursprünglich auf den 1. Januar 2011
angesetzt. Die neue Regelung war für die ab dem 1. Januar 2011 erstmals in
Verkehr gesetzten Fahrzeuge vorgesehen, und für die zwischen dem 1. August und
31. Dezember 2010 in Verkehr gesetzten Fahrzeuge hätte eine Übergangsbestimmung
gelten sollen. Der Volksvorschlag enthielt analoge Bestimmungen in zeitlicher
Hinsicht. Wegen der Verzögerung, die sich durch die Probleme bei der Ermittlung
des Abstimmungsergebnisses bzw. durch die vom Verwaltungsgericht angeordnete,
aber nicht mehr durchführbare Nachzählung ergaben, verschob der Grosse Rat das
Inkrafttreten zweimal. Der Beschwerdeführer focht die erstmalige Verschiebung
auf den 1. Januar 2012 und die damit verbundenen Anpassungen nicht an, wendet
sich nunmehr aber gegen die zweite Verschiebung auf den 1. Januar 2013 und die
damit zusammenhängenden Änderungen von Art. 12a und der Übergangsbestimmung des
Volksvorschlags. Dieses Vorgehen erscheint nicht ganz widerspruchsfrei; es kann
aber offenbleiben, wieweit er dadurch allenfalls seiner Rechte verlustig
gegangen sein könnte.

3.2 Grundsätzlich fragt es sich, ob der Beschwerdeführer zurzeit überhaupt ein
aktuelles praktisches Interesse an seiner Beschwerde hat. Genau genommen hängt
das vom Ausgang der Parallelverfahren vor Bundesgericht (1C_418/2011 und BGE
138 I 171) sowie gegebenenfalls vom Ergebnis der eventuellen Wiederholung der
Abstimmung ab. Das Interesse an der Beschwerde ist nämlich daran geknüpft, dass
der Volksvorschlag auch obsiegt, was nur dann zutrifft, wenn die Wiederholung
der Abstimmung wegfällt, d.h. die entsprechenden Beschwerden in diesem Sinne
gutgeheissen werden und das ursprüngliche Abstimmungsresultat gültig ist, oder
wenn in einer
BGE 138 I 189 S. 193
Abstimmungswiederholung erneut der Volksvorschlag die Mehrheit erzielt und in
der allfälligen Stichfrage obsiegt. Dass der Grosse Rat seine eigene Vorlage
nicht abändern dürfte, wird nicht geltend gemacht und könnte wohl auch nicht im
Rahmen einer Stimmrechtsbeschwerde vorgetragen werden. In diesem Sinne ergeht
das vorliegende Urteil unter Vorbehalt. Angesichts der damit verbundenen Gefahr
weiterer Verzögerungen rechtfertigt es sich jedoch nicht, das vorliegende
Verfahren auszusetzen und das Ergebnis der Parallelverfahren bzw. der
wiederholten Volksabstimmung abzuwarten. Das würde nur neue prozessuale Fragen
aufwerfen und zu einer zusätzlichen Verzögerung führen. Ein Sistierungsantrag
wird denn auch von keiner Seite gestellt.

3.3 Mit der angefochtenen Gesetzesänderung sieht der Grosse Rat eine Anpassung
der inhaltlichen Regelung des Gesetzes an den Termin seines Inkrafttretens vor.
Es geht um die Besteuerung von nach oder kurz vor dem Inkrafttreten der
ECOTAX-Bestimmungen neu in Verkehr gesetzten Fahrzeugen. Der Beschwerdeführer
ist demgegenüber der Ansicht, die mit dem Volksvorschlag verbundenen
Erleichterungen sollten so gelten, wie wenn die Gesetzesnovelle am 1. Januar
2012 in Kraft getreten wäre. Damit verlangt er die Rückwirkung der gesetzlichen
Regelung, die darauf hinausliefe, die seit dem 1. Januar 2012 neu in Verkehr
gesetzten Fahrzeuge und gemäss der Übergangsbestimmung teilweise auch die seit
dem 1. Juni 2011 in Verkehr gesetzten Fahrzeuge bereits für das Jahr 2012
steuerlich zu begünstigen.

3.4 Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen eigentlicher oder echter und
unechter Rückwirkung. Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Gesetz bei der
Anwendung neuen Rechts an ein Ereignis anknüpft, das sich vor dessen
Inkrafttreten ereignet hat und das im Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen
Norm abgeschlossen ist. Diese echte Rückwirkung ist nur dann
verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn die Rückwirkung ausdrücklich in einem
Gesetz vorgesehen ist oder sich daraus klar ergibt, in einem vernünftigen
Rahmen zeitlich limitiert ist, nicht zu stossenden Ungleichheiten führt, einem
schutzwürdigen öffentlichen Interesse dient und wohlerworbene Rechte
respektiert. Bei der unechten Rückwirkung wird auf Verhältnisse abgestellt, die
zwar unter der Herrschaft des alten Rechts entstanden sind, beim Inkrafttreten
des neuen Rechts aber noch andauern. Auch diese Rückwirkung gilt nur dann als
verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn ihr nicht wohlerworbene Rechte
entgegenstehen (BGE 126 V 134 E. 4a;
BGE 138 I 189 S. 194
BGE 122 V 405 E. 3b/aa, BGE 122 V 6 E. 3a S. 8; je mit Hinweisen; Urteil 4A_6/
2009 vom 11. März 2009 E. 2.6).

3.5 Die vom Beschwerdeführer angestrebte zeitliche Geltung des Gesetzes würde
zu einer echten Rückwirkung führen, da die Neuregelung im Zeitpunkt ihres
Inkrafttretens am 1. Januar 2013 bereits für das Steuerjahr 2012 gälte. Daran
ändert nichts, dass ein Grossteil der Fahrzeuge auch noch im Jahr 2013 in
Verkehr bleiben dürften. Einesteils gibt es offensichtlich solche, die 2013
nicht mehr im Gebrauch stehen, andernteils ist das Steuerjahr 2012 bei
Inkrafttreten der Gesetzesnovelle abgelaufen, womit es sich um einen
abgeschlossenen Sachverhalt handelt. Es findet sich im vorliegenden Fall
indessen keine für eine echte Rückwirkung erforderliche gesetzliche Grundlage,
die sich durch eine entsprechende ausdrückliche Anordnung manifestieren müsste.
Eine solche Anordnung ist etwa in Ziffer II des Grossratsbeschlusses vom 21.
November 2011 enthalten, wonach die Gesetzesnovelle rückwirkend auf den 12.
März 2012, einen Tag nach der ursprünglich vorgesehenen, inzwischen aber
abgesetzten Abstimmungswiederholung, in Kraft treten soll. Eine analoge
Bestimmung über die Rückwirkung im Sinne des Anliegens des Beschwerdeführers
findet sich hingegen nicht, auch nicht im Volksvorschlag selbst, weshalb es an
einer entsprechenden genügenden gesetzlichen Grundlage fehlt.

3.6 Im Übrigen ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei der
angefochtenen Gesetzesnovelle lediglich um eine technische Anpassung handelt,
die durch die Verzögerung bedingt ist, welche sich aus der Anfechtung des
Ergebnisses der Volksabstimmung vom 13. Februar 2011 und den damit verbundenen
prozessualen Folgen ergab. Die Verschiebung des Inkrafttretens der
Gesetzesnovelle ist angesichts der Unsicherheit darüber, welche Regelung denn
dereinst gelten wird, sinnvoll, wenn nicht sogar unausweichlich. Klaffen
nämlich Inkrafttreten und zeitliche Geltung der neuen Regelung auseinander,
ergeben sich daraus etliche Probleme. Die vom Beschwerdeführer verlangte
Rückwirkung würde nicht nur gesetzestechnische Fragen aufwerfen, sondern
brächte auch kaum überschaubare Schwierigkeiten bei der Umsetzung der
gesetzlichen Regelung mit sich. Insbesondere setzt die Einführung der neuen
Regelung eine gewisse Vorlaufzeit in technisch-administrativer Hinsicht voraus.
Die bereits getätigten Steuerveranlagungen müssten geändert werden, was
aufwendig wäre und das Risiko von Veranlagungsfehlern mit sich brächte. Für
diejenigen
BGE 138 I 189 S. 195
Personen, die im Hinblick auf eine allfällige Gesetzesrevision per 1. Januar
2012 ein umweltfreundlicheres Fahrzeug erworben haben, gilt überdies eine
besondere Regelung, die eine Benachteiligung wegen der Verzögerung des
Inkrafttretens vermeiden hilft. Die Folgen der zeitlichen Verzögerung werden
dadurch abgemildert. Die Gesetzesnovelle beachtet damit auch die Anforderungen
des Verhältnismässigkeitsprinzips. Insgesamt liegt eine Rückwirkung, wie sie
vom Beschwerdeführer verlangt wird, selbst wenn sie sich als möglich erwiese,
nicht im öffentlichen Interesse. Der Gesetzgeber hat mithin den Volksvorschlag
nicht in einer Weise inhaltlich geändert, die ihm verboten wäre.

3.7 Demnach verletzt der angefochtene Erlass die politischen Rechte des
Beschwerdeführers nicht.