Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 I 171



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Urteilskopf

138 I 171

15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. V. und
W. gegen Regierungsrat des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
1C_420/2011 vom 25. April 2012

Regeste

Art. 29 Abs. 2 und Art. 34 Abs. 2 BV; Wiederholung einer Volksabstimmung wegen
Unmöglichkeit der Nachzählung eines sehr knappen Ergebnisses.
Eintretensfragen (E. 1).
Verfahrensrechte beim Entscheid über die Anordnung einer
Abstimmungswiederholung (E. 3).
Der Regierungsrat des Kantons Bern ist aus eigener Kompetenz zuständig, die
Wiederholung einer Volksabstimmung anzuordnen, auch wenn es das
Verwaltungsgericht war, das in einem Beschwerdeverfahren die Nachzählung wegen
des sehr knappen Ergebnisses angeordnet hatte (E. 4).
Die Anordnung einer Nachzählung bei einem sehr knappen Resultat ist in der
Möglichkeit der Fehlerhaftigkeit desselben und eines anderen Ergebnisses bei
der Kontrolle der Auswertung begründet. Erweist sich die Nachzählung als
ausgeschlossen, weil ein massgeblicher Anteil der Stimmzettel vernichtet wurde,
ist die Abstimmung zwecks Ermittlung des wahren Volkswillens zu wiederholen,
sofern nicht überwiegende Gründe dagegen sprechen (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 172

BGE 138 I 171 S. 172

A.

A.a Am 19. November 2009 beschloss der Grosse Rat des Kantons Bern eine
Änderung des Gesetzes über die Besteuerung der Strassenfahrzeuge vom 12. März
1998 (BSFG; BSG 761.611). Inhaltlich bezweckt die auch als "ECOTAX-Vorlage"
bezeichnete Gesetzesrevision, die Rahmenbedingungen für eine ökologischere
Motorfahrzeugsteuer zu schaffen. Namentlich sollen besonders verbrauchs-,
energie- und emissionseffiziente Fahrzeuge steuerlich begünstigt, ineffiziente
hingegen mit einem Zuschlag belastet werden. Sodann soll durch eine moderate,
generelle Senkung des Grundsteueransatzes dem Umstand Rechnung getragen werden,
dass der Kanton Bern im gesamtschweizerischen Vergleich die höchsten
Fahrzeugsteuern aufweist. Diese Gesetzesänderung hätte am 1. Januar 2011 in
Kraft treten sollen.

A.b Am 16. April 2010 reichte ein von X. organisiertes "Komitee für eine
gerechte Strassenverkehrssteuer im Kanton Bern" einen Volksvorschlag
(konstruktives Referendum) gemäss Art. 63 Abs. 3 der Verfassung des Kantons
Bern vom 6. Juni 1993 (KV/BE; SR 131.212) ein, der unter Übernahme der
Grundsätze der parlamentarischen Vorlage abweichende Vorschläge zu einzelnen
Punkten vorsieht wie insbesondere eine stärkere generelle Steuersenkung, eine
Halbierung
BGE 138 I 171 S. 173
der Gebühren für Garagenschilder, den Wegfall des Malus sowie eine modifizierte
Regelung des Bonus.

A.c Der Grosse Rat erklärte den Volksvorschlag für gültig und unterbreitete ihn
zusammen mit seiner eigenen Gesetzesvorlage am 13. Februar 2011 der
Volksabstimmung. In dieser wurden, gemäss den entsprechenden Feststellungen des
Regierungsrates vom 23. Februar 2011, sowohl die Vorlage des Grossen Rates (mit
172'427 Ja-Stimmen gegen 154'792 Nein-Stimmen) als auch der Volksvorschlag (mit
166'860 Ja-Stimmen gegen 164'325 Nein-Stimmen) angenommen. In der Stichfrage
(vgl. Art. 63 Abs. 4 i.V.m. Art. 60 Abs. 2 KV/BE) erzielte der Volksvorschlag
165'977 Stimmen und die Vorlage des Grossen Rates 165'614 Stimmen; der
Volksvorschlag obsiegte demnach mit einem Vorsprung von 363 Stimmen bzw. von
0,1 % (oder von einem Promille) aller Stimmen.

B.

B.a Gegen die Abstimmung gingen beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern zwei
Beschwerden (mit Eingabe vom 21. Februar 2011 von Q. und mit solcher vom 2.
März 2011 von Z.) ein. Im Wesentlichen wurde dabei beantragt, aufgrund des
äusserst knappen Abstimmungsresultats seien die abgegebenen Stimmzettel
nachzuzählen. Mit Urteil vom 22. Juni 2011 hiess das Verwaltungsgericht die
Beschwerden gut und ordnete die Nachzählung der kantonalen Volksabstimmung an.
Dieses Urteil blieb unangefochten und wurde rechtskräftig.

B.b In der Folge beauftragte der Regierungsrat des Kantons Bern am 6. Juli 2011
die Staatskanzlei, die Stimmzettel der kantonalen Volksabstimmung vom 13.
Februar 2011 am 26. und 27. August 2011 nachzuzählen. Daraufhin wurden der
Staatskanzlei bis zum 10. August 2011 30 Gemeinden gemeldet, die ihre
Stimmzettel in der Zwischenzeit vernichtet hatten. Diese Handlungen hatten
stattgefunden, obwohl Art. 42 Abs. 3 der Verordnung über die politischen Rechte
vom 10. Dezember 1980 des Kantons Bern (VPR; BGS 141.112) die Gemeinden
verpflichtet, Stimmzettel für jede Kategorie gesondert verpackt und versiegelt
an einem sicheren Ort bei der Gemeindeverwaltung aufzubewahren und sie erst
nach der rechtskräftigen Erledigung allfälliger Beschwerden zu vernichten.

B.c Am 17. August 2011 stellte der Regierungsrat gestützt auf einen
entsprechenden Vortrag der Staatskanzlei fest, dass insgesamt 18'095
Stimmzettel fehlten, was 5,46 % aller Stimmzettel entspricht. Eine
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Gemeinde fand ihre Stimmzettel offenbar später wieder, womit sich die Zahl der
fehlbaren Gemeinden auf 29 bzw. das Manko auf 5,37 % aller Stimmzettel
reduzierte.

B.d Im gleichen Beschluss vom 17. August 2011 stellte der Regierungsrat fest,
dass eine ordnungsgemässe Nachzählung der Stimmzettel, wie das
Verwaltungsgericht dies in seinem Urteil vom 22. Juni 2011 gefordert hatte,
wegen der beachtlichen Anzahl vernichteter Stimmzettel nicht mehr möglich sei.
Der Regierungsrat hob daher in Ziffer 5 seines Beschlusses die Anweisung an die
Staatskanzlei zur Nachzählung der Stimmen auf und verfügte stattdessen in
Ziffer 6 seines Beschlusses, dass die Volksabstimmung über die Teilrevision des
Gesetzes über die Besteuerung der Strassenfahrzeuge zu wiederholen sei, setzte
in Ziffer 7 seines Beschlusses die Abstimmung über den Gesetzesentwurf mit
Volksvorschlag auf den 11. März 2012 an und beauftragte die Staatskanzlei, die
notwendigen Massnahmen zu ergreifen. Dieser Beschluss wurde am 31. August 2011
mit Rechtsmittelbelehrung im Amtsblatt des Kantons Bern publiziert.

B.e Am 29. September 2011 stellten die Schweizerische Volkspartei (SVP) des
Kantons Bern, Y. und X. beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern ein Gesuch um
Revision des Urteils vom 22. Juni 2011, worin sie im Wesentlichen beantragten,
aufgrund der nicht mehr vollständigen Stimmzettel sei auf eine Nachzählung zu
verzichten und die Ergebnisse der Volksabstimmung vom 13. Februar 2011 seien zu
bestätigen. Mit Urteil vom 1. Dezember 2011 trat das Verwaltungsgericht auf das
Gesuch nicht ein. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen
aus, die erhobene Kritik richte sich nicht gegen das angefochtene
verwaltungsgerichtliche Urteil, sondern gegen die vom Regierungsrat angeordnete
Wiederholung der Volksabstimmung. Den entsprechenden Regierungsratsbeschluss
könnten die Gesuchsteller aber selbständig beim Bundesgericht mit Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten anfechten. Eine gegen dieses Urteil
gerichtete Beschwerde wies das Bundesgericht mit gleichzeitig wie das
vorliegende Urteil ergangenem separaten Entscheid ab (Urteil 1C_42/2012).

C.

C.a V. und W. führen mit Eingabe vom 30. September 2011 Stimmrechtsbeschwerde
gegen den Regierungsratsbeschluss vom 17. August 2011, die Volksabstimmung zu
wiederholen. Sie beantragen im Wesentlichen die Aufhebung der Ziffern 6 und 7
des angefochtenen
BGE 138 I 171 S. 175
Entscheids und die Rückweisung der Sache an den Regierungsrat zwecks Erwahrung
des Ergebnisses der Abstimmung vom 13. Februar 2011 gemäss den entsprechenden
Feststellungen des Regierungsrates vom 23. Februar 2011; eventuell ersuchen sie
um Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung.
(...)

D. In seiner Vernehmlassung vom 2. November 2011 schliesst der Regierungsrat
des Kantons Bern auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
(...)
(...)

F. Am 11. Januar 2012 beschloss der Regierungsrat des Kantons Bern mit Blick
auf die hängigen Beschwerden, die Abstimmung vom 11. März 2012 abzusetzen,
worüber die Öffentlichkeit entsprechend informiert wurde. (...)
(...)
Im weiteren Schriftenwechsel halten die Verfahrensbeteiligten im Wesentlichen
an ihren Standpunkten fest.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit sie nicht als Folge der
Absetzung der Abstimmung gegenstandslos geworden ist. Zu demselben Ergebnis
führte eine parallele gleichentags separat entschiedene Beschwerde mit im
Wesentlichen gleichen Anträgen (Urteil 1C_418/2011).
(Auszug und Zusammenfassung; vgl. auch den ergänzenden Sachverhalt von BGE 138
I 189)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Mit der Beschwerde nach Art. 82 lit. c BGG kann die Verletzung von
politischen Rechten beim Bundesgericht geltend gemacht werden. Von der
Beschwerde werden sowohl eidgenössische als auch kantonale und kommunale
Stimmrechtssachen erfasst (Art. 88 Abs. 1 BGG). Der Beschwerde unterliegen
insbesondere Entscheide von Exekutivbehörden über die Wiederholung einer
Abstimmung (vgl. Urteil 1C_395/2010 vom 7. Februar 2011 E. 1.2).

1.2 In kantonalen Angelegenheiten ist die Stimmrechtsbeschwerde gegen Akte
letzter kantonaler Instanzen zulässig (Art. 88 Abs. 1 lit. a BGG). Die Pflicht
der Kantone, gegen behördliche Entscheide, welche die politischen Rechte der
Stimmberechtigten in kantonalen
BGE 138 I 171 S. 176
Angelegenheiten verletzen können, ein Rechtsmittel vorzusehen, erstreckt sich
nicht auf Akte des Parlaments und der Regierung (Art. 88 Abs. 2 BGG). Da gemäss
Art. 93 Abs. 2 des bernischen Gesetzes vom 5. Mai 1980 über die politischen
Rechte (GPR; BSG 141.1) in kantonalen Angelegenheiten die Abstimmungsbeschwerde
an das kantonale Verwaltungsgericht unzulässig ist gegen Akte (Handlungen und
Beschlüsse) des Grossen Rates und des Regierungsrates, steht gegen den
angefochtenen Beschluss des Regierungsrates des Kantons Bern vom 17. August
2011 kein kantonales Rechtsmittel, sondern nur direkt die Stimmrechtsbeschwerde
an das Bundesgericht offen.

1.3 Das Beschwerderecht steht gemäss Art. 89 Abs. 3 BGG jeder Person zu, die in
der betreffenden Angelegenheit stimmberechtigt ist. Ein besonderes
(rechtliches) Interesse in der Sache selbst ist nicht erforderlich (vgl. BGE
134 I 172 E. 1.3.3 S. 176). Die Beschwerdeführer sind als im Kanton Bern
Stimmberechtigte zur Beschwerde legitimiert.

1.4 Nach Art. 42 Abs. 2 BGG ist in der Begründung in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt. Der Beschwerdeführer
muss sich wenigstens kurz mit den Erwägungen des angefochtenen Entscheids
auseinandersetzen. Zwar wendet das Bundesgericht das Recht grundsätzlich von
Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Das setzt aber voraus, dass auf die
Beschwerde überhaupt eingetreten werden kann, diese also wenigstens die
Begründungsanforderungen von Art. 42 Abs. 2 BGG erfüllt. Strengere
Anforderungen gelten, wenn die Verletzung von Grundrechten (einschliesslich der
willkürlichen Anwendung von kantonalem Recht und Willkür bei der
Sachverhaltsfeststellung) geltend gemacht wird. Dies prüft das Bundesgericht
nicht von Amtes wegen, sondern nur insoweit, als eine solche Rüge in der
Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Das
Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich,
belegte Rügen (BGE 135 III 127 E. 1.6 S. 130; BGE 134 II 244 E. 2.1 und 2.2 S.
245 f.; je mit Hinweisen).

1.5 Gemäss Art. 95 lit. a, c und d BGG kann in Stimmrechtssachen die Verletzung
von Bundesrecht, der kantonalen verfassungsmässigen Rechte sowie der kantonalen
Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen
und derjenigen über Volkswahlen und -abstimmungen gerügt werden. Diese Rügen
prüft
BGE 138 I 171 S. 177
das Bundesgericht frei (vgl. BGE 129 I 185 E. 2 S. 190; BGE 123 I 175 E. 2d/aa
S. 178; je mit Hinweisen).

1.6 Streitgegenstand ist einzig der Beschluss des Regierungsrates vom 17.
August 2011, die Volksabstimmung über die Teilrevision des Gesetzes über die
Besteuerung der Strassenfahrzeuge zu wiederholen und die Abstimmung über den
Gesetzesentwurf mit Volksvorschlag neu anzusetzen. Nicht Objekt des
vorliegenden Verfahrens bildet hingegen die Frage der Nachzählung. Diese wurde
vom Verwaltungsgericht des Kantons Bern rechtskräftig angeordnet und ist hier
nicht Streitgegenstand. Ob die Voraussetzungen einer solchen Nachzählung
erfüllt sind, ist daher grundsätzlich nicht zu prüfen. Zu entscheiden ist
vielmehr ausschliesslich, ob der Regierungsrat rechtmässig gehandelt hat, indem
er die Wiederholung der Volksabstimmung beschloss.

1.7 Die Beschwerdeführer beantragten ursprünglich nebst der Aufhebung der
Ziffer 6 des angefochtenen Entscheids, worin der Regierungsrat die
Abstimmungswiederholung anordnete, auch die Aufhebung von Ziffer 7 des
angefochtenen Beschlusses, worin die neue Abstimmung auf den 11. März 2012
angesetzt wurde. Am 11. Januar 2012 hat der Regierungsrat die Abstimmung vom
11. März 2012 abgesetzt. Das aktuelle Interesse der Beschwerdeführer an der
Aufhebung von Ziffer 7 des angefochtenen Entscheids ist damit nachträglich
weggefallen, weshalb die Beschwerde insoweit als erledigt abzuschreiben ist
(vgl. Art. 71 BGG i.V.m. Art. 72 BZP [SR 273]). Das anerkennen auch die
Beschwerdeführer, die das fragliche Rechtsbegehren nachträglich entsprechend
angepasst haben.
(...)

3.

3.1 In formeller Hinsicht rügen die Beschwerdeführer, der Regierungsrat habe
gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 26
Abs. 2 KV/BE verstossen.

3.2 Eine solche Gehörsverletzung sehen die Beschwerdeführer zunächst darin,
dass ihnen mit Verfügung des Amts für Zentrale Dienste der Staatskanzlei vom
16. September 2011 nicht die verlangte vollständige, sondern nur eine teilweise
Akteneinsicht gewährt worden sei. Die fragliche Akteneinsichtsverfügung hätte
jedoch selbständig angefochten werden können und müssen; sie enthält im Übrigen
auch eine ausdrückliche Rechtsmittelbelehrung. Die Beschwerdeführer legen nicht
dar, weshalb diese falsch oder es ihnen
BGE 138 I 171 S. 178
unmöglich oder unzumutbar gewesen sein sollte, das entsprechende Rechtsmittel
zu ergreifen. Damit erweist sich die Rüge als unbegründet.

3.3 Sodann machen die Beschwerdeführer geltend, der Regierungsrat habe seinen
Beschluss ungenügend begründet. Die Erwägungen in diesem seien zu knapp
ausgefallen und kaum nachvollziehbar. Insbesondere äussere er sich nicht dazu,
weshalb der Regierungsrat nicht vor dem Verwaltungsgericht die Revision des
verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 22. Juni 2011 verlangt habe. Der
Erwahrungsbeschluss vom 23. Februar 2011 habe überdies keinen Hinweis auf
mögliche Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht enthalten, worin
ebenfalls ein Mangel zu sehen sei.

3.3.1 Der Erwahrungsbeschluss vom 23. Februar 2011 bildet hier nicht
Streitgegenstand. Abgesehen davon handelt es sich bei der Erwahrung einer
Abstimmung nicht um eine eigentliche individuell-konkrete Anordnung im Sinne
einer Verfügung, die mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen ist, sondern
um einen selbständigen organisatorischen Hoheitsakt im Rahmen der politischen
Rechte, mit dem in erster Linie numerisch das Ergebnis (Stimmenverhältnis)
einer Abstimmung zuhanden der Öffentlichkeit und namentlich des Stimmvolks
förmlich festgestellt wird. Überdies wird regelmässig festgestellt, dass im
Zeitpunkt der Erwahrung keine Beschwerden hängig sind. Wird eine Vorlage
angenommen, ermöglicht die Erwahrung grundsätzlich deren Inkraftsetzung
(ETIENNE GRISEL, Initiative et référendum populaires, 3. Aufl. 2004, Rz. 293;
ZACCARIA GIACOMETTI, Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, 1941, S. 435
und 439). Der ausdrückliche Vorbehalt allfälliger späterer
Stimmrechtsbeschwerden, die noch gar nicht eingereicht sind, zählt allerdings
nicht zum notwendigen Inhalt eines Erwahrungsbeschlusses. Schliesslich führt
das Fehlen eines entsprechenden Hinweises ohnehin nicht zur Unanfechtbarkeit
des Beschlusses.

3.3.2 Weiter genügt die inhaltliche Begründung des regierungsrätlichen
Entscheids über die Neuansetzung der Abstimmung den verfassungsrechtlichen
Anforderungen. Wie beim Erwahrungsbeschluss handelt es sich um einen
selbständigen organisatorischen Hoheitsakt im Rahmen der politischen Rechte,
der sich ähnlich wie eine Allgemeinverfügung unter Regelung eines spezifischen
Gegenstandes an einen unbestimmten Adressatenkreis richtet. Die Anforderungen
an die Begründung können daher nicht gleich hoch sein wie bei einer
individuell-konkreten Verfügung, ausser allenfalls für
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einzelne Personen, die wesentlich schwerwiegender als die übrige Vielzahl der
Adressaten betroffen sind (vgl. etwa BGE 121 I 230 E. 2c S. 232 f.; HÄFELIN/
MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2010, Rz. 925; TSCHANNEN
/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2009, S. 279). Eine
solche besondere Betroffenheit behaupten und belegen die Beschwerdeführer
nicht. Im Übrigen enthält der angefochtene Entscheid in der im Amtsblatt
veröffentlichten Fassung eine wenn auch nicht ausführliche, so doch
nachvollziehbare Begründung. Er wurde sodann in einer Medienkonferenz und
-mitteilung vertieft erklärt, und es finden sich weitere, ausführliche
Erläuterungen dazu im Vortrag der Staatskanzlei an den Regierungsrat, in den
die Beschwerdeführer Einsicht nehmen konnten. Das muss im vorliegenden
Zusammenhang genügen. Den Beschwerdeführern war es denn auch ohne weiteres
möglich, den Entscheid des Regierungsrates über die Abstimmungswiederholung
sachgerecht anzufechten.

3.3.3 Insbesondere brauchte der Regierungsrat im Entscheid über die
Abstimmungswiederholung nicht auszuführen, weshalb er nicht ein Gesuch um
Revision des Verwaltungsgerichtsurteils vom 22. Juni 2011 stellte. Weder
bildete diese Frage unmittelbar Gegenstand der Neuansetzung der Abstimmung noch
hätte es daran etwas zu ändern vermocht, nachdem der Regierungsrat auf
Wiederholung der Abstimmung entschieden hatte. Im Übrigen erscheint ohnehin
ungewiss, ob der Regierungsrat überhaupt zur Einreichung eines Revisionsgesuchs
berechtigt gewesen wäre. Was schliesslich die inhaltliche Frage betrifft, ob
ein Revisionsgrund vorgelegen hätte, so war diese bereits in einem von dritter
Seite angehobenen Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgericht hängig (vgl.
Sachverhalt B.e), weshalb der Regierungsrat mit Grund davon absah, sich dazu zu
äussern.

3.3.4 Der angefochtene Entscheid erweist sich damit nicht als ungenügend
begründet und verstösst weder gegen Art. 29 Abs. 2 BV noch gegen Art. 26 Abs. 2
KV/BE.

4.

4.1 Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 22. Juni 2011, mit dem dieses die
Nachzählung anordnete, ist rechtskräftig. Ziel der vom Verwaltungsgericht
angesetzten Nachzählung war nicht, eine festgestellte Unregelmässigkeit zu
korrigieren, sondern aufgrund des sehr knappen Resultats durch Überprüfung der
ursprünglichen Auszählung sicherzustellen, dass bei der Ermittlung des
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Abstimmungsergebnisses der wahre Wille der Stimmenden zum Ausdruck kommt.
Konkrete Anhaltspunkte auf Unregelmässigkeiten gab es unbestrittenermassen
nicht. Das Verwaltungsgericht ging vielmehr davon aus, äusserst knappe
Ergebnisse seien stets mit einem Unsicherheitsfaktor verbunden; da immer ein
gewisses Fehlerpotenzial bestehe, sei in solchen Fällen eine Nachzählung
unerlässlich. Das Verwaltungsgericht stützte sich insoweit auf die neuere
bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Sachabstimmungen, wie sie insbesondere in
BGE 136 II 136 zum Ausdruck kommt. Ab wann von einem äusserst knappen Ergebnis
auszugehen ist, lässt die Rechtsprechung bisher zwar offen. Im vorliegenden
Fall gaben aber lediglich ein Promille der Stimmen den Ausschlag, was das
Verwaltungsgericht als äusserst knapp wertete.

4.2 Freilich ordnete das Verwaltungsgericht nur die Nachzählung und nicht die
Wiederholung der Abstimmung an. Dabei muss es logischerweise davon ausgegangen
sein, dass eine Nachzählung auch möglich sei. Eine allgemeine Vollzugsanordnung
enthält das Urteil des Verwaltungsgerichts nur in dem Sinne, als die
Nachzählung im Sinne der Erwägungen verfügt wird. Darin findet sich keine
mögliche Alternative, schon gar nicht ausdrücklich diejenige der
Abstimmungswiederholung. Die Vermutung, dass die Nachzählung durchführbar sei,
erwies sich nachträglich als unzutreffend, nachdem über 5 % der Stimmzettel,
nämlich diejenigen von 29 Gemeinden, vernichtet worden waren und demnach nicht
mehr ausgewertet werden können. Der Nachzählungsentscheid als solcher wurde
freilich nicht angefochten, bildet also nicht Streitgegenstand und steht in
diesem Sinne hier nicht direkt in Frage.

4.3 Bevor der angefochtene Entscheid inhaltlich zu prüfen ist, stellt sich die
Frage, ob aufgrund der neuen Sachlage der Regierungsrat überhaupt zuständig
war, darüber zu entscheiden, wie weiter vorzugehen war, oder ob nicht einzig
das Verwaltungsgericht, das den Nachzählungsentscheid getroffen hatte, dazu
berufen gewesen wäre, in einem Revisionsverfahren unter Berücksichtigung des
Umstands, dass eine Nachzählung nicht mehr möglich ist, nochmals über die bei
ihm damals erhobenen Stimmrechtsbeschwerden zu befinden.

4.3.1 Nach Art. 95 lit. b des bernischen Gesetzes vom 23. Mai 1989 über die
Verwaltungsrechtspflege (VRPG; BSG 155.21) kann ein rechtskräftiger Entscheid
einer Verwaltungsjustizbehörde auf Gesuch hin abgeändert oder aufgehoben
werden, wenn die um
BGE 138 I 171 S. 181
Revision ersuchende Partei nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder
entscheidende Beweismittel auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht
anrufen konnte, unter Ausschluss derjenigen, die nach dem fraglichen,
inzwischen rechtskräftigen Entscheid entstanden sind.

4.3.2 Dass einige Gemeinden die Stimmzettel vernichtet hatten, wurde
tatsächlich erst nach dem verwaltungsgerichtlichen Urteil vom 22. Juni 2011
bekannt. Nicht erstellt ist, ob die Stimmzettel schon vor oder erst nach dem
Urteil des Verwaltungsgerichts vernichtet wurden. Zwar ist zu vermuten, dass
dies schon vorher stattgefunden hat, der genaue Zeitpunkt müsste aber, soweit
dies massgeblich sein sollte, so oder so in einem allfälligen
Revisionsverfahren geklärt werden. Kein Hindernis für eine Revision bildet die
Kann-Formel in Art 95 VRPG, stellt diese doch die Revision nicht ins Belieben
der zuständigen Justizbehörde (MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, Kommentar zum Gesetz
über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, 1997, N. 1 zu Art. 95 VRPG).

4.3.3 Selbst wenn die Möglichkeit eines allfälligen Revisionsverfahrens vor dem
Verwaltungsgericht bestünde, schliesst dies die Zuständigkeit des
Regierungsrates nicht von vornherein aus, falls von einer eigenständigen
Kompetenz desselben auszugehen ist, in welchem Fall sich die Zuständigkeiten
überschneiden können (vgl. MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, a.a.O., N. 5 zu Art. 95
VRPG). Gemäss Art. 18 Abs. 2 GPR stellt der Regierungsrat aufgrund eines
Berichts der Staatskanzlei die Ergebnisse kantonaler Abstimmungen fest
(Erwahrung). Nach Art. 67 GPR übt der Regierungsrat die Oberaufsicht über die
eidgenössischen und kantonalen Abstimmungen und Wahlen aus (Abs. 1), und er
erlässt die zum Vollzug des Gesetzes über die politischen Rechte erforderlichen
Verordnungen und Weisungen, setzt die Abstimmungs- und Wahltage fest und
erwahrt die Ergebnisse der Abstimmungen und Wahlen, soweit hierfür nicht andere
Behörden zuständig sind (Abs. 2). Der Regierungsrat verfügt mithin über eine
selbständige Zuständigkeit für die Ansetzung von Abstimmungen und die
Anerkennung der sich daraus ergebenden Resultate. Ihm kommt damit auch eine
konkrete Verantwortung für die korrekte Ermittlung des wahren Volkswillens zu.

4.3.4 Wie das Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 22. Juni 2011 ausgeführt
hat, schliesst Art. 93 Abs. 2 GPR die Beschwerde an das Verwaltungsgericht
gegen Akte (Handlungen und Beschlüsse) des Grossen Rates und des
Regierungsrates betreffend kantonale
BGE 138 I 171 S. 182
Abstimmungen und Wahlen aus, was mit Art. 88 Abs. 2 BGG grundsätzlich vereinbar
ist. Dazu zählt an sich auch der Erwahrungsbeschluss. Die Ermittlung der
Ergebnisse von kantonalen Abstimmungen mündet jedoch grundsätzlich immer in
einen Erwahrungsbeschluss des Regierungsrates. Nach Art. 93 Abs. 1 GPR
entscheidet das Verwaltungsgericht über Abstimmungsbeschwerden, mit denen die
Ergebnisse einer kantonalen Abstimmung angefochten werden. Das
Verwaltungsgericht erachtet daher entsprechende Beschwerden als zulässig und
bejahte im vorliegenden Fall gestützt darauf seine eigene Zuständigkeit, ohne
sich freilich ausdrücklich zu den damit verknüpften rechtlichen Auswirkungen
auf den Erwahrungsbeschluss zu äussern.

4.3.5 Demnach stand es grundsätzlich in der Kompetenz des Regierungsrates,
unabhängig von einem Revisionsverfahren, wenn auch durchaus auf der Grundlage
des rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Urteils bzw. in logischer
Fortsetzung desselben, eine Abstimmungswiederholung anzuordnen. Im Übrigen kann
ein Erwahrungsentscheid auch in Wiedererwägung gezogen werden und es besteht
unter Umständen sogar ein Anspruch darauf (vgl. BGE 113 Ia 146). Im
vorliegenden Fall wurde der ursprüngliche Erwahrungsbeschluss vom 23. Februar
2011 als Feststellung des Abstimmungsergebnisses (vgl. Art. 18 Abs. 2 GRP) zwar
weder vom Regierungsrat noch vom Verwaltungsgericht formell aufgehoben, er
verlor aber spätestens mit dem verwaltungsgerichtlichen Urteil vom 22. Juni
2011 jegliche Rechtswirkung, die über die Feststellung des damals ermittelten
reinen Stimmenverhältnisses hinausging. Immerhin hatte das Verwaltungsgericht
die beiden bei ihm eingereichten Beschwerden ausdrücklich gutgeheissen, wobei
in einer Beschwerde nebst dem Begehren auf Nachzählung der Antrag gestellt
worden war, "die Abstimmung (...) sei aufzuheben", womit nur der
Erwahrungsbeschluss bzw. die darin enthaltene Feststellung des
Stimmenverhältnisses gemeint sein konnte. Ob das Verwaltungsgericht oder
allenfalls der Regierungsrat den Erwahrungsbeschluss formell hätte aufheben
müssen, kann hier jedoch offenbleiben. So oder so war es dem Regierungsrat
inhaltlich nicht verwehrt, selbständig im Sinne des verwaltungsgerichtlichen
Urteils einen Weg zu finden, um die Ermittlung des wahren Volkswillens
sicherzustellen, der nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts nicht mit dem
ausgezählten und damals vom Regierungsrat entsprechend erwahrten
Stimmenverhältnis übereinstimmen muss. Aus eigener Kompetenz in Angelegenheiten
der
BGE 138 I 171 S. 183
Durchführung und Organisation von Wahlen und Abstimmungen oblag es dem
Regierungsrat auch ohne ausdrückliche spezifische gesetzliche Grundlage, für
die vorliegende Konstellation eine geeignete Lösung zu suchen. Der
Regierungsrat war daher auch nicht verpflichtet, anstelle eigenen Handelns
selbst ein Revisionsgesuch beim Verwaltungsgericht einzureichen.

4.4 Unter diesen Umständen verbietet es sich aber auch, im umgekehrten Sinne
den Beschwerdeführern vorzuhalten, selbst kein Revisionsgesuch beim
Verwaltungsgericht gestellt zu haben. Es erscheint schon fraglich, ob sie dazu
legitimiert gewesen wären, nachdem sie im ersten verwaltungsgerichtlichen
Verfahren nicht Partei gewesen waren. Weil das Verwaltungsgericht auf das bei
ihm hängige Revisionsgesuch anderer mit Verweis auf die regierungsrätliche
Kompetenz bzw. das entsprechende Parallelverfahren nicht eingetreten ist und
soweit eine Wiederholung der Abstimmung gerade nicht von der Revision des
verwaltungsgerichtlichen Urteils abhängig gemacht hat, sondern dem
Regierungsrat die entsprechende eigenständige Kompetenz zugestanden wird, darf
den Beschwerdeführern ohnehin nicht vorgeworfen werden, sie hätten selbst um
Revision ersuchen müssen. Aus analogen Gründen kann ihnen auch nicht
vorgehalten werden, sie hätten das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 22. Juni
2011 direkt beim Bundesgericht anfechten müssen, zumal völlig unklar ist, wann
für sie die Frist dafür zu laufen begonnen hätte. Für die Zulässigkeit der
Beschwerde vor Bundesgericht wird im Übrigen gemeinhin nicht verlangt, dass von
einer Revisionsmöglichkeit Gebrauch gemacht worden ist (vgl. etwa das Urteil
2C_908/2008 vom 23. August 2010, u.a. mit Verweis auf BGE 133 III 439 E. 3.1 S.
444).

4.5 Indem der Regierungsrat selbständig tätig wurde und die Wiederholung der
Abstimmung anordnete, handelte er demnach aus eigener Kompetenz. Dies ist mit
dem Verfassungsrecht des Bundes (insbesondere Art. 34 BV) und des Kantons Bern
vereinbar und verstösst auch nicht gegen das bernische Gesetzes- und
Verordnungsrecht in Angelegenheiten der politischen Rechte (Gesetz und
Verordnung des Kantons Bern über die politischen Rechte).

5.

5.1 Inhaltlich wurde dem Regierungsrat vom Verwaltungsgericht durch dessen
Anordnung, das Ergebnis nachzuzählen, sinngemäss der Auftrag erteilt, zu
prüfen, ob der Wille der Stimmbürger durch die Auszählung, die ein äusserst
knappes Resultat ergeben hatte,
BGE 138 I 171 S. 184
korrekt ermittelt worden war. Der vom Verwaltungsgericht dafür grundsätzlich
vorgegebene Weg erwies sich aber nachträglich als ausgeschlossen, weil über 5 %
der Stimmzettel bereits vernichtet waren. Es fragt sich, welche rechtlichen
Folgen sich daraus ergeben.

5.2 Das bernische Recht enthält keine ausdrückliche Regelung der Frage, wann
bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Abstimmung wiederholt werden muss. Die
Rechtsprechung (vgl. etwa BGE 136 II 132; BGE 131 I 442; BGE 114 Ia 42) und die
Fachliteratur (vgl. beispielsweise MICHEL BESSON, Behördliche Information vor
Volksabstimmungen, 2003, S. 390 ff.; HANGARTNER/KLEY, Die demokratischen Rechte
in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2000, S. 107, Rz.
2560 f.; BÉNÉDICTE TORNAY, La démocratie directe saisie par le juge, 2008, S.
278 ff.; PIERRE TSCHANNEN, Stimmrecht und politische Verständigung [im
Folgenden: Stimmrecht], 1995, S. 137) setzen sich zwar eingehend mit der Frage
auseinander, unter welchen Voraussetzungen eine Nachzählung anzuordnen sei,
diese Frage ist aber rechtskräftig entschieden und stellt sich hier
grundsätzlich nicht mehr. Zu entscheiden ist mithin einzig, was gilt, wenn sich
eine rechtskräftig angeordnete Nachzählung als undurchführbar erweist, wozu
sich das Schrifttum kaum äussert (vgl. immerhin VITO PICENONI, Die Kassation
von Volkswahlen und Volksabstimmungen, 1945, S. 109 ff.).

5.3 Der Entscheid des Verwaltungsgerichts über die Anordnung einer Nachzählung
beruhte auf BGE 136 II 132. Das Bundesgericht ging darin davon aus, dass
aufgrund der plausiblen Erfahrung, dass Zählfehler stets möglich sind, jedes
sehr knappe Resultat bei korrekter Zählung kippen könnte. Diese Vermutung lasse
sich nur durch Nachzählung widerlegen und sei insofern gleich wie der Verdacht
auf Unregelmässigkeiten zu behandeln (vgl. insb. BGE 136 II 132 E. 2.4.2 S. 137
ff.). Dieser Zusammenhang ergibt sich nicht nur aus dem hier nicht anwendbaren
Art. 77 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die
politischen Rechte (BPR; SR 161.1), sondern auch aus dem einschlägigen
Verfassungsrecht, insbesondere aus Art. 34 Abs. 2 BV (vgl. MICHEL BESSON,
Legitimation zur Beschwerde in Stimmrechtssachen, ZBJV 2011 S. 863 f.). Es
liegt hier im Übrigen eine andere Ausgangslage vor als im Fall der
eidgenössischen Unternehmungssteuerreform, wo es um die Tragweite einer
nachträglich aufgedeckten Unregelmässigkeit bei knappem Ergebnis ging (vgl. BGE
138 I 61), ist doch im Unterschied zu diesem Fall hier eine Nachzählung schon
rechtskräftig und damit
BGE 138 I 171 S. 185
verbindlich angeordnet. Der vorliegende Fall ist auch nicht vergleichbar mit
demjenigen, in dem es um die Frage ging, was bei Stimmengleichheit bei der
Nationalratswahl zu gelten habe (vgl. BGE 138 II 5), folgen Wahlen und
Sachabstimmungen doch nicht uneingeschränkt denselben Rechtsregeln (vgl. für
ein knappes Ergebnis bei Wahlen auch BGE 131 I 442).

5.4 BGE 136 II 132 ist in der Literatur, soweit ersichtlich, bisher nicht auf
grundsätzliche Kritik gestossen. Im Gegenteil befürwortet PIERRE TSCHANNEN
diesen Entscheid sogar ausdrücklich (Staatsrecht der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, 3. Aufl. 2011, § 52 Rz. 70), führt aber weiter aus
(vgl.KÄLIN/KÜNZLI/LIENHARD/TSCHANNEN/TSCHENTSCHER, Die staatsrechtliche
Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren 2010 und 2011, ZBJV 2011 S. 808
f.):
"Praktikabel ist der stimmrechtliche Anspruch auf Nachzählung allerdings nur,
wenn die erneute Ausmittlung unverzüglich und von Amtes wegen veranlasst wird.
Geschieht dies erst auf Beschwerde hin, kann man sicher sein: Die eine oder
andere Gemeinde wird die Zettel bereits vernichtet haben. Natürlich muss dann
die ganze Abstimmung erneut angesetzt werden, sonst liesse sich jede
Nachzählung auf einfachste Weise sabotieren. Eine solche Rechtsfolge allerdings
ist unschön, ganz abgesehen davon, dass sich kein Urnengang eins zu eins
wiederholen lässt."
Das von TSCHANNEN verwendete Argument der Manipulation zielt auf Handlungen,
die darauf gerichtet sind, durch Verunmöglichung der Nachzählung zu erreichen,
dass wieder auf das in der ursprünglichen Auszählung ermittelte
Stimmenverhältnis zurückgegriffen wird. Die Argumentation lässt sich freilich
auch umkehren: Ist die Abstimmungswiederholung unausweichliche Folge der
Unmöglichkeit der Nachzählung, so liesse sich die Neuansetzung durch die
Vernichtung der Stimmzettel erzwingen. Das Kriterium kann daher nicht allein
den Ausschlag geben.

5.5 Ausgangspunkt muss vielmehr sein, dass gemäss der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung, wie sie hier vom Verwaltungsgericht übernommen und umgesetzt
wurde, die Vermutung besteht, die Ermittlung des Volkswillens könne aufgrund
des äusserst knappen Stimmenverhältnisses unzutreffend sein, weshalb dieses zu
verifizieren sei. Nachdem das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall geurteilt
hatte, das festgestellte Abstimmungsergebnis sei als solches ohne weitere
Kontrolle nicht gültig, konnte der Regierungsrat nicht mehr darauf abstellen.
Auf das ursprüngliche Resultat zurückzukommen, würde nämlich bedeuten, auf ein
Ergebnis abzustellen,
BGE 138 I 171 S. 186
von dem rechtskräftig festgestellt ist, dass es vermutungsweise an einem
erheblichen Mangel leidet. Das ist mit der verfassungsrechtlichen Vorgabe, den
Volkswillen korrekt zu ermitteln, was keine entsprechenden Vorbehalte erträgt,
nicht vereinbar. Die Überprüfung des Volkswillens ist jedoch grundsätzlich nur
auf zwei Wegen möglich, erstens durch Nachzählung, sofern sich eine solche noch
durchführen lässt, oder zweitens durch Wiederholung der Abstimmung. Eine solche
neue Abstimmung wird zwangsläufig unter anderen Voraussetzungen ablaufen, als
sie bei der ersten Abstimmung bestanden hatten und die Folge des Zeitablaufs
sind und die verschiedene Faktoren wie insbesondere die Zusammensetzung des
Stimmvolks und die politischen Rahmenbedingungen umfassen (vgl. schon BGE 114
Ia 427 E. 8a S. 449). Je länger mit der Neuansetzung zugewartet wird, desto
mehr ändern sich tendenziell die Rahmenbedingungen. Einerseits erscheint dies
nicht unproblematisch; andererseits ist es ebenfalls im Rahmen einer neuen
Vorlage möglich, und es kommt auch vor, dass das Volk über die gleiche Materie
wiederholt und unter Umständen mit unterschiedlichem Ausgang abstimmt.

5.6 Im vorliegenden Zusammenhang muss im Vordergrund die angeordnete
Überprüfung des Abstimmungsergebnisses stehen, bestünde sonst doch die Gefahr,
dass der institutionell bedeutsame Rechtsschutz (dazu etwa GEROLD STEINMANN,
in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Ehrenzeller/Mastronardi/
Schweizer/Vallender [Hrsg.], 2. Aufl. 2008, N. 5 und 21 ff. zu Art. 34 BV;
TSCHANNEN, Stimmrecht, a.a.O., S. 511 ff.) gegen die Ermittlung von
Abstimmungsergebnissen wirkungslos bliebe. Das grundsätzliche Ziel, dem wahren
Volkswillen soweit wie möglich gerecht zu werden, spricht für eine
Abstimmungswiederholung, falls sich die Nachzählung als ausgeschlossen erweist
und falls diese wie hier, wo sich das bereits aus dem Grund für die Nachzählung
ergibt, zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. PICENONI, a.a.O.,
S. 110 f.). Von der Wiederholung der Abstimmung ist einzig abzusehen, wenn
überwiegende Gründe dagegen sprechen, was etwa bei klaren Hinweisen auf
Manipulationshandlungen - im Nachgang zur Abstimmung, um dadurch eine
Wiederholung zu erreichen - zutreffen könnte oder wenn sich die
Abstimmungswiederholung als völlig unverhältnismässig erwiese bzw. mit den
Anliegen der Rechtssicherheit nicht in Einklang zu bringen wäre (vgl. BGE 114
Ia 427 E. 8 S. 448 ff.). Solche besonderen Umstände liegen hier indessen nicht
vor. Weder gibt es Anhaltspunkte für Manipulationen noch
BGE 138 I 171 S. 187
erscheint eine Abstimmungswiederholung unverhältnismässig. Auch sonstige Gründe
für eine Ausnahme sind nicht ersichtlich. Am rein finanziellen oder
organisatorischen Aufwand allein kann es nicht scheitern. Damit erweist sich
die Neuansetzung der Abstimmung im vorliegenden Fall als grundsätzlich mit dem
Verfassungsrecht vereinbar. Wieweit die fehlbaren Gemeinden allenfalls für die
Kosten einstehen müssen, die durch eine Wiederholung der Abstimmung entstehen,
ist hier nicht zu entscheiden.

5.7 Es kann sich mithin nur noch fragen, ob die vollständige Wiederholung der
Abstimmung zu weit geht und es bei einer Neuansetzung in lediglich beschränktem
Umfang sein Bewenden haben muss.

5.7.1 Nur eine Teilwiederholung der Abstimmung in den Gemeinden, in denen die
Stimmzettel nicht mehr vorhanden sind, in Kombination mit einer Nachzählung in
den übrigen Gemeinden verbietet sich aus Gründen der einheitlichen Ermittlung
des Willens des Stimmvolks. Es geht nicht an, die Stimmen aus zwei
Abstimmungen, die unter verschiedenen Rahmenbedingungen stattgefunden haben,
zusammenzuzählen. Vielmehr muss sich der Gesamtwille des Stimmvolks aus
Stimmabgaben ergeben, die gleichzeitig und unter denselben Voraussetzungen
zustande gekommen sind.

5.7.2 Im vorliegenden Fall wäre es denkbar, dem Stimmvolk nur die Stichfrage
nochmals zu unterbreiten. Einzig in der Stichfrage ergab sich in der Abstimmung
vom 13. Februar 2011 ein äusserst knappes Resultat. In den beiden Hauptpunkten
war das Ergebnis eindeutig, und dieses wurde von keiner Seite je in Frage
gestellt. Theoretisch könnte die Stichfrage unbedeutend werden, sollte in der
neuen Abstimmung eine der beiden Vorlagen im Hauptpunkt verworfen werden. Auch
lautete das Dispositiv des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 22. Juni 2011
auf Anordnung der Nachzählung im Sinne der Erwägungen, und in E. 5.2 hiess es "
(...) ist erforderlich, dass vorab die Sortierung der Stimmzettel in gültige
und ungültige überprüft wird und sodann die Stimmen in der Stichfrage
nachgezählt werden". Demgegenüber ordnete der Regierungsrat, nachdem sich die
Nachzählung als ausgeschlossen erwiesen hatte, im angefochtenen Entscheid
uneingeschränkt die "Wiederholung der Volksabstimmung betreffend Teilrevision
des Gesetzes über die Besteuerung der Strassenfahrzeuge mit Volksvorschlag" an.
Obwohl der Regierungsratsbeschluss dies nicht näher konkretisiert, kann er nur
so verstanden werden, dass die ganze Abstimmung in beiden
BGE 138 I 171 S. 188
Hauptpunkten (Gesetz in der Fassung gemäss Parlamentsbeschluss und gemäss
Volksvorschlag) sowie in der Stichfrage zu wiederholen ist. Indessen wird von
keiner Seite geltend gemacht, der angefochtene Entscheid schiesse in diesem
Sinne über das Ziel hinaus und die Wiederholung der Abstimmung sei auf die
Stichfrage zu beschränken. Das drängt sich denn auch nicht auf, bilden die
beiden Vorlagen doch formell und materiell eine untrennbare Einheit, über die
in der neuen Abstimmung auch nochmals integral zu entscheiden ist. Angesichts
des Umstands, dass eine Wiederholung der Abstimmung ohnehin unter veränderten
Randbedingungen stattfindet, erschiene es sachfremd und damit
unverhältnismässig, die Thematik aufzuspalten.

5.8 Der angefochtene Entscheid hält damit auch in der Sache vor dem
Verfassungsrecht (insbesondere Art. 34 BV) stand und verstösst zudem nicht
gegen die Bestimmungen des Kantons Bern über Volksabstimmungen, namentlich
nicht gegen das bernische Gesetz über die politischen Rechte.