Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 IV 35



Urteilskopf

138 IV 35

4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Jugendanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt gegen X. (Beschwerde in Strafsachen)
1B_504/2011 vom 6. Dezember 2011

Regeste

Art. 29 Abs. 3 BV; Art. 24 und 25 Abs. 1 lit. c JStPO; Art. 131 Abs. 1-3 StPO
i.V.m. Art. 3 Abs. 1 JStPO.
Anspruch auf amtliche Verteidigung auch im jugendstrafprozessualen
Untersuchungsverfahren gemäss bisheriger Praxis und neuer
Jugendstrafprozessordnung (E. 5 und 6).

Sachverhalt ab Seite 35

BGE 138 IV 35 S. 35

A. Die Jugendanwaltschaft Basel-Stadt führt eine Strafuntersuchung gegen X.
wegen des Verdachtes von sexuellen Handlungen mit Kindern, sexueller Nötigung,
Vergewaltigung, Schändung und Körperverletzung. Im untersuchten Tatzeitraum
(Juli-Oktober 2010) war der beschuldigte Jugendliche knapp (etwas weniger als)
15 Jahre alt. Am 12. April 2011 bewilligte ihm die Jugendanwaltschaft die
amtliche Verteidigung bis zur Durchführung der Zweitbefragung des mutmasslichen
Opfers. Am 3. Mai 2011 widerrief sie die amtliche Verteidigung. Eine vom
Beschuldigten dagegen erhobene Beschwerde hiess das Appellationsgericht des
Kantons Basel-Stadt, a.o. Appellationsgerichtspräsident, am 28. Juni 2011 gut.
Es wies die Jugendanwaltschaft an, dem Beschuldigten für das gesamte
Strafverfahren die amtliche Verteidigung zu gewähren, solange der Vorwurf der
Vergewaltigung bzw. sexuellen Nötigung aufrechterhalten wird.

B. Gegen den Entscheid des Appellationsgerichts gelangte die Jugendanwaltschaft
mit Beschwerde vom 12. September 2011 an das Bundesgericht. Sie beantragt die
Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Bestätigung ihrer Verfügung vom
3. Mai 2011. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)
BGE 138 IV 35 S. 36

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

5.

5.1 Art. 24 JStPO (SR 312.1) bestimmt (unter dem Randtitel "Notwendige
Verteidigung") Folgendes:
Die oder der Jugendliche muss verteidigt werden, wenn:
a. ihr oder ihm ein Freiheitsentzug von mehr als einem Monat oder eine
Unterbringung droht;
b. sie oder er die eigenen Verfahrensinteressen nicht ausreichend wahren kann
und auch die gesetzliche Vertretung dazu nicht in der Lage ist;
c. die Untersuchungs- oder Sicherheitshaft mehr als 24 Stunden gedauert hat;
d. sie oder er vorsorglich in einer Einrichtung untergebracht worden ist;
e. die Jugendanwältin oder der Jugendanwalt beziehungsweise die
Jugendstaatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung persönlich auftritt.
Art. 25 Abs. 1 JStPO lautet (mit der Marginalie "Amtliche Verteidigung") wie
folgt:
^1 Die zuständige Behörde ordnet eine amtliche Verteidigung an, wenn bei
notwendiger Verteidigung:
a. die oder der beschuldigte Jugendliche oder die gesetzliche Vertretung trotz
Aufforderung keine Wahlverteidigung bestimmt;
b. der Wahlverteidigung das Mandat entzogen wurde oder sie es niedergelegt hat
und die oder der beschuldigte Jugendliche oder die gesetzliche Vertretung nicht
innert Frist eine neue Wahlverteidigung bestimmt; oder
c. die oder der beschuldigte Jugendliche und die gesetzliche Vertretung nicht
über die erforderlichen Mittel verfügen.

5.2 Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, so achtet die
Verfahrensleitung darauf, dass unverzüglich eine Verteidigung bestellt wird
(Art. 131 Abs. 1 StPO [SR 312.0]). Sind die Voraussetzungen notwendiger
Verteidigung bei Einleitung des Vorverfahrens erfüllt, so ist die Verteidigung
nach der ersten Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft, jedenfalls aber vor
Eröffnung der Untersuchung, sicherzustellen (Art. 131 Abs. 2 StPO). Wurden in
Fällen, in denen die Verteidigung erkennbar notwendig gewesen wäre, Beweise
erhoben, bevor eine Verteidigerin oder ein Verteidiger bestellt worden ist, so
ist die Beweiserhebung nur gültig, wenn die beschuldigte Person auf ihre
Wiederholung verzichtet (Art. 131 Abs. 3 StPO). Diese Grundsätze gelten
sinngemäss auch im Jugendstrafprozess (vgl. Art. 3 Abs. 1 JStPO; JOSITSCH/
RIESEN-KUPPER/BRUNNER/MURER/MIKOLÁSEK,
BGE 138 IV 35 S. 37
Schweizerische Jugendstrafprozessordnung, Kommentar, 2010, N. 4 zu Art. 24
JStPO).

5.3 Gestützt auf die Bundesverfassung hat jede Person, die nicht über die
erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn
ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer
Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen
Rechtsbeistand (Art. 29 Abs. 3 BV).
In BGE 111 Ia 81 (einem Urteil, das ebenfalls die Jugendanwaltschaft
Basel-Stadt betraf) hat das Bundesgericht zum grundrechtlichen Anspruch
jugendlicher Beschuldigter auf Offizialverteidigung Folgendes erwogen: Das (im
Jahre 1985 noch geltende) baselstädtische Jugendstrafprozessrecht sei auf dem
Boden einer (damals schon) "älteren Lehre" gestanden, die im Interesse des
jugendlichen Beschuldigten möglichst viele Kompetenzen bei einer einzigen
Stelle, nämlich der Jugendanwaltschaft, habe konzentrieren wollen. Zwar
erschienen entsprechende Überlegungen weiterhin "durchaus beachtlich". Eine auf
dem Fürsorgegedanken beruhende Praxis dürfe jedoch dem Jugendlichen nicht den
Rechtsschutz entziehen, der dem erwachsenen Beschuldigten zusteht, jedenfalls
dann nicht, wenn er mit vergleichbaren Sanktionen strafrechtlicher Natur zu
rechnen hat. Dass Jugendanwältinnen und Jugendanwälte die Offizialmaxime
anzuwenden und primär die Entwicklung des fehlbaren Jugendlichen (und erst
sekundär das Verhältnis der zu verhängenden Strafe oder Massnahme zur
Tatschuld) zu berücksichtigen hätten, vermöge daran nichts zu ändern. Auch die
fähigsten Jugendanwältinnen und -anwälte könnten nicht gleichzeitig den
staatlichen Strafanspruch verfechten und dasjenige Vorkehren, was im Regelfall
Aufgabe des Verteidigers ist, nämlich im Rahmen der Rechtsordnung auf ein
freisprechendes oder ein möglichst mildes Urteil hinzuwirken. In der (damals)
neueren Literatur sei denn auch einhellig die Auffassung vertreten worden, dem
Jugendlichen müsse unter den gleichen Voraussetzungen wie dem erwachsenen
Beschuldigten ein Anspruch auf den Beistand eines Verteidigers zugebilligt
werden. Die Mehrzahl der Lehrmeinungen betone die besondere Schutzbedürftigkeit
des Jugendlichen und erblicke darin ein zusätzliches Argument für die
Notwendigkeit der Verteidigung bei schweren Fällen. In entsprechenden
Konstellationen genüge es nicht, die Offizialverteidigung erst für die
allfällige Verhandlung vor dem
BGE 138 IV 35 S. 38
Jugendgericht zu gewährleisten. Es sei allgemein anerkannt, dass die Mitwirkung
des Rechtsbeistandes schon während der Untersuchung von erheblicher Bedeutung
sei. Dies müsse auch für die jugendstrafprozessuale Untersuchung gelten, wo
regelmässig wesentliche verfahrensrechtliche Vorentscheidungen zu treffen
seien, zu denen derVerteidiger Stellung zu nehmen habe (BGE 111 Ia 81 E. 3a S.
83 f., mit Hinweisen).

6. Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen der amtlichen Verteidigung
gemäss Art. 25 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 24 JStPO zu prüfen.

6.1 Ein Anwendungsfall von Art. 25 Abs. 1 lit. a-b JStPO liegt hier nicht vor.
Die amtliche Verteidigung ist nach Art. 25 Abs. 1 lit. c JStPO zu bewilligen,
wenn der beschuldigte Jugendliche und die gesetzliche Vertretung nicht über die
erforderlichen Mittel für eine private Verteidigung verfügen und eine der
Voraussetzungen von Art. 24 JStPO erfüllt ist. Zwar sind die Kriterien von Art.
24 lit. a-e JStPO (im Gegensatz zu Art. 25 Abs. 1 lit. a-c JStPO) im
Gesetzeswortlaut nicht ausdrücklich mit der Konjunktion "oder" verbunden. Aus
dem Sinn und Zweck von Art. 24 JStPO ergibt sich jedoch eindeutig, dass es sich
bei den literae a-e um alternative Anspruchsvarianten (und nicht um kumulative
Voraussetzungen) handeln muss (vgl. HUG/SCHLÄFLI, Basler Kommentar, StPO/JStPO,
2011, N. 1 ff. zu Art. 24 JStPO; JOSITSCH/RIESEN-KUPPER/BRUNNER/MURER
MIKOLÁSEK, a.a.O., N. 5 ff. zu Art. 24 JStPO).

6.2 Die finanzielle Bedürftigkeit des Beschuldigten (im Sinne von Art. 25 Abs.
1 lit. c JStPO) ist unbestritten. Im vorliegenden Fall kommt nach
übereinstimmender Auffassung der Vorinstanz und der Jugendanwaltschaft
ausschliesslich eine amtliche (und notwendige) Verteidigung gestützt auf Art.
24 lit. b JStPO in Frage. Die Jugendanwaltschaft legt dar, dass der
Beschuldigte im Tatzeitpunkt noch nicht 15 Jahre alt gewesen sei, weshalb ihm
(im Falle eines Schuldspruches) als Höchststrafe lediglich 10 Tage persönliche
Leistung drohten und Art. 24 lit. a JStPO nicht zur Anwendung gelange (vgl.
Art. 23 Abs. 3 i.V.m. Art. 15 und 25 Abs. 1 JStG [SR 311.1]).

6.3 Gestützt auf Art. 24 lit. b (i.V.m. Art. 25 Abs. 1) JStPO ist die
Offizialverteidigung zu bewilligen, wenn der beschuldigte Jugendliche und seine
gesetzliche Vertretung die eigenen Verfahrensinteressen nicht ausreichend
wahren können. Dafür können persönliche Gründe sprechen (wie z.B. mangelnde
Sprachkenntnisse,
BGE 138 IV 35 S. 39
Interessenkonflikte oder eine spezifische Unterstützungsbedürftigkeit) oder
auch fallbezogene sachliche Gründe wie eine besondere Schwierigkeit oder
Komplexität des Verfahrens (vgl. HUG/SCHLÄFLI, a.a.O., N. 3 zu Art. 24 JStPO;
JOSITSCH/RIESEN-KUPPER/BRUNNER/MURER MIKOLÁSEK, a.a.O., N. 11 zu Art. 24 JStPO;
s. auch schon BGE 111 Ia 81 E. 3a S. 83 f.). In diesem Zusammenhang ist auch
der Schwere des Tatvorwurfes angemessen Rechnung zu tragen (vgl. BGE 111 Ia 81
E. 3a S. 84). Im Jugendstrafprozess ist an die Gewährung der amtlichen
Verteidigung grundsätzlich ein grosszügiger Massstab anzulegen (vgl. JOSITSCH/
RIESEN-KUPPER/BRUNNER/MURER MIKOLÁSEK, a.a.O., N. 3 zu Art. 25 JStPO).

6.4 Im vorliegenden Fall sprechen das Alter des beschuldigten Jugendlichen, die
Schwere der gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe, die prozessuale Konstellation des
Falles sowie die Schulbildung und Sprachkenntnisse seiner gesetzlichen
Vertreterin für die sachliche Gebotenheit der amtlichen Verteidigung im Sinne
von Art. 24 lit. b (i.V.m. Art. 25 Abs. 1) JStPO (vgl. auch HUG/SCHLÄFLI,
a.a.O., N. 3 zu Art. 24 JStPO; JOSITSCH/RIESEN-KUPPER/BRUNNER/MURER MIKOLÁSEK,
a.a.O., N. 11 zu Art. 24 JStPO, N. 2 und 3 zu Art. 25 JStPO). Dass die
Vorinstanz die Jugendanwaltschaft in dieser Konstellation angehalten hat, dem
Beschuldigten die Offizialverteidigung zu gewähren (solange sie den Vorwurf der
Vergewaltigung bzw. sexuellen Nötigung gegen ihn aufrechterhält), erscheint
bundesrechtskonform.

6.5 Es kann offenbleiben, ob beim beschuldigten Jugendlichen eine Unterbringung
(Art. 15 JStG) als jugendstrafprozessuale Schutzmassnahme angeordnet werden
könnte und ob insofern auch noch die separate Anspruchsgrundlage von Art. 24
lit. a (i.V.m. Art. 25 Abs. 1) JStPO zu bejahen wäre. Auch eine mangelnde
Begründung des angefochtenen Entscheides (i.S.v. Art. 80 Abs. 2 bzw. Art. 81
Abs. 3 StPO) ist entgegen der Ansicht der Jugendstaatsanwaltschaft nicht
ersichtlich (vgl. nicht publ. E. 3).