Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 IV 225



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Urteilskopf

138 IV 225

34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität des
Kantons Thurgau (Beschwerde in Strafsachen)
1B_397/2012 vom 10. Oktober 2012

Regeste

Art. 171 Abs. 1, Art. 197 Abs. 1 lit. c und d sowie Abs. 2, Art. 248 Abs. 1,
Art. 264 Abs. 1 lit. a und c StPO; Berufsgeheimnis, Entsiegelung von
Anwaltsakten.
Ein in der Sache selbst mitbeschuldigter Anwalt kann untersuchungsrelevante
Beweisunterlagen aus dem Mandatsverhältnis nicht dem Zugriff der
Strafverfolgungsbehörde entziehen, indem er Büropartner oder ausländische
Korrespondenzanwälte mit dem Fall substituiert (E. 6). Anforderungen an die
Darlegung (und Bestreitung) der sachlichen Konnexität zwischen den entsiegelten
Aufzeichnungen und dem Gegenstand der Strafuntersuchung (E. 7).

Regeste

Art. 416, Art. 421 Abs. 2 lit. a, Art. 423 Abs. 1, Art. 426 Abs. 1 und 2, Art.
428 StPO; Kostenauflage an die beschuldigte Person.
Eine Auferlegung von Verfahrenskosten an die im Entsiegelungsverfahren vor dem
Zwangsmassnahmengericht unterliegende beschuldigte Person kommt erst nach
Abschluss der Strafuntersuchung (nach Massgabe von Art. 426 StPO) in Frage. Bis
dahin hat (gemäss Art. 423 Abs. 1 StPO) der Kanton die angefallenen
Verfahrenskosten zu tragen (E. 8).

Sachverhalt ab Seite 226

BGE 138 IV 225 S. 226

A. Die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte
Kriminalität des Kantons Thurgau führt eine Strafuntersuchung gegen X. wegen
des Verdachts der Veruntreuung und Geldwäscherei. Am 1. September 2010 liess
das Kantonale Untersuchungsrichteramt das Wohnhaus der Beschuldigten
durchsuchen. Dabei wurden diverse Akten (...) sichergestellt und auf Antrag der
Beschuldigten versiegelt. Am 21./22. September 2010 schieden das
Untersuchungsrichteramt und die Beschuldigte gemeinsam jene Akten aus, die
versiegelt bleiben sollten, jene, die zur Durchsuchung freigegeben werden
konnten, und jene, die für die Strafuntersuchung nicht relevant erschienen. Am
8. Oktober 2010 stellte das Untersuchungsrichteramt Antrag auf Entsiegelung
jener Aufzeichnungen und Gegenstände, welche nach dieser ersten Ausscheidung
(gemeinsame Grobtriage) noch versiegelt geblieben waren.

B. Am 4. Januar 2011 überwies der Präsident der Anklagekammer des Kantons
Thurgau das hängige Entsiegelungsverfahren zuständigkeitshalber (Inkrafttreten
der neuen StPO am 1. Januar 2011) an das Zwangsmassnahmengericht des Kantons
Thurgau. Dieses verfügte am 3. März 2011, dass die versiegelten Aufzeichnungen
und Gegenstände sichergestellt blieben. (...)
(...)
BGE 138 IV 225 S. 227

D. Am 24. August 2011 erfolgte eine (parteiöffentliche) Triage der
umfangreichen Akten durch das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Thurgau. Mit
Entscheid vom 16. September 2011 bewilligte es die Entsiegelung eines Teils der
sichergestellten Akten bzw. deren Freigabe an die Staatsanwaltschaft zur
Durchsuchung bzw. weiteren Verwendung zu Untersuchungszwecken.

E. Gegen die Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts gelangte die Beschuldigte
mit Beschwerde (...) an das Bundesgericht. Sie beantragt die Aufhebung des
Entsiegelungsentscheides vom 16. September 2011 sowie der prozessleitenden
Zwischenverfügung vom 3. März 2011 unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. Die
in den Ziffern 1.2-1.7 des angefochtenen Entscheiddispositives vom 16.
September 2011 aufgelisteten Unterlagen seien von der Entsiegelung ebenfalls
auszunehmen. Angefochten wird auch die der Beschwerdeführerin (in Ziffer 3 des
Dispositives) auferlegte Entscheidgebühr von Fr. 10'000.-.
(...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

6. Zu prüfen ist, inwiefern sich die Beschwerdeführerin auf das anwaltliche
Berufsgeheimnis als Entsiegelungshindernis berufen kann.

6.1 Gemäss Art. 248 Abs. 1 StPO (SR 312.0) können nur die Inhaberinnen oder
Inhaber von vorläufig sichergestellten (und allenfalls nach Art. 263 ff. StPO
voraussichtlich zu beschlagnahmenden) Aufzeichnungen und Gegenständen
geschützte Geheimnisrechte anrufen und die Siegelung verlangen. Macht eine
berechtigte Person geltend, eine Beschlagnahme sei wegen eines Aussage- oder
Zeugnisverweigerungsrechts (oder aus anderen Gründen) nicht zulässig, so gehen
die Strafbehörden nach den Vorschriften über die Siegelung vor (Art. 264 Abs. 3
StPO). Nicht beschlagnahmt werden dürfen (ungeachtet des Ortes, wo sie sich
befinden, und des Zeitpunktes, in welchen sie geschaffen worden sind) alle
Gegenstände, namentlich Aufzeichnungen und Korrespondenzen, die aus dem Verkehr
zwischen der beschuldigten Person und Personen stammen, die nach den Art.
170-173 StPO das Zeugnis verweigern können und die im gleichen Sachzusammenhang
nicht selber beschuldigt sind (Art. 264 Abs. 1 lit. c StPO). Dazu gehören
insbesondere Aufzeichnungen und
BGE 138 IV 225 S. 228
Korrespondenzen aus dem Verkehr zwischen der beschuldigten Person und ihren
(nicht selber beschuldigten) mandatierten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten
(Art. 171 Abs. 1 StPO). Ein absolutes Beschlagnahme- und Entsiegelungsverbot
gilt für Unterlagen aus dem Verkehr der beschuldigten Person mit ihrer
Verteidigung (Art. 264 Abs. 1 lit. a StPO).

6.2 Alle Dokumente, bei denen das Einverständnis der Beschwerdeführerin zur
Entsiegelung vorliegt, sowie alle Anwaltsakten des mitbeschuldigten Anwaltes im
Zusammenhang mit dem untersuchten Liegenschaftsgeschäft durfte die Vorinstanz
zur Durchsuchung freigeben. Für die anwaltliche Korrespondenz zwischen ihr und
dem betreffenden Anwalt kann sie sich grundsätzlich nicht auf ein
Entsiegelungs- und Beschlagnahmehindernis berufen (Art. 264 Abs. 1 lit. c StPO;
vgl. Urteil des Bundesgerichtes 1B_27/2012 vom 27. Juni 2012 E. 6.2). Dies gilt
umso mehr für Akten, welche gar nicht die vom Berufsgeheimnis geschützte
anwaltliche Tätigkeit betrafen. Die früheren Verteidigungsakten dieses
Rechtsvertreters hat die Vorinstanz von der Entsiegelung ausgenommen. Ebenfalls
zur Durchsuchung freizugeben ist die untersuchungsrelevante Korrespondenz mit
einem weiteren mitbeschuldigten Rechtsanwalt und Notar.

6.3 Zwar macht die Beschwerdeführerin geltend, die Vorinstanz habe auch noch
Akten von Anwälten zur Durchsuchung freigegeben, die nicht selber
mitbeschuldigt würden. Der in der Beschwerde vertretenen Ansicht, selbst wenn
die fraglichen Anwälte von ihrem mitbeschuldigten Kollegen substituiert worden
wären, gelte zugunsten der Substituten ein Beschlagnahmeverbot, kann jedoch
nicht gefolgt werden. Ein in der Sache selbst mitbeschuldigter Anwalt kann
untersuchungsrelevante Beweisunterlagen aus dem Mandatsverhältnis (insbesondere
seine eigene Korrespondenz mit der Mandantschaft) nicht dem Zugriff der
Strafverfolgungsbehörde entziehen, indem er einfach Büropartner mit dem Fall
substituiert. Solches widerspräche offensichtlich dem Sinn und Zweck von Art.
264 Abs. 1 lit. c StPO. Analoges gilt für die Einschaltung von ausländischen
Korrespondenzanwälten zur Unterstützung des vom mitbeschuldigten Anwalt
selbstständig geführten Mandats. Anders zu entscheiden wäre bei unabhängigen
(originären) Mandatsverhältnissen der Beschwerdeführerin mit nicht
beschuldigten Anwälten (im In- oder Ausland) bzw. in nicht
untersuchungsrelevanten Sachbereichen. Dass solche Mandate von der Entsiegelung
betroffen wären, wird von ihr nicht konkret dargetan. Offensichtlich unrichtige
tatsächliche Feststellungen des
BGE 138 IV 225 S. 229
Zwangsmassnahmengerichtes sind in diesem Zusammenhang nicht ersichtlich (vgl.
Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG). Es kann offenbleiben, inwieweit
gewisse Unterlagen aus Drittquellen darüber hinaus der nicht gesetzlich
privilegierten sogenannten anwaltlichen Geschäftstätigkeit (Vermögens- und
Immobilienverwaltung, Eigengeschäfte mit treuhänderischen Darlehen und
Provisionsbeteiligungen usw.) zuzurechnen wären.

7. Weiter macht die Beschwerdeführerin geltend, es werde von den kantonalen
Strafjustizbehörden kein ausreichender Deliktszusammenhang zwischen Hunderten
von zu entsiegelnden Dokumenten und dem Gegenstand der Untersuchung dargetan.

7.1 Nach der Praxis des Bundesgerichtes hat der Entsiegelungsrichter (auch bei
grossen Datenmengen) offensichtlich irrelevante Gegenstände auszusondern. Schon
in ihrem Entsiegelungsgesuch hat die Staatsanwaltschaft darzulegen, inwiefern
die versiegelten Gegenstände grundsätzlich verfahrenserheblich seien. Sodann
kann das Zwangsmassnahmengericht für die Triage (falls nötig) auch
Untersuchungsbeamte bzw. schriftliche Auskünfte der Untersuchungsbehörde
beiziehen, um die Sichtung zu erleichtern (BGE 137 IV 189 E. 5.1.2 S. 196 f.
mit Hinweisen). Betroffene Inhaber von Aufzeichnungen und Gegenständen, welche
die Versiegelung beantragen bzw. Durchsuchungshindernisse geltend machen, haben
ihrerseits die prozessuale Obliegenheit, das Zwangsmassnahmengericht bei der
Sichtung und Klassifizierung von Dokumenten zu unterstützen. Dies umso mehr,
als der Entsiegelungsrichter die Einzelheiten der Untersuchung nicht kennt und
die Staatsanwaltschaft noch keine Detaileinsicht in die versiegelten Akten
nehmen kann. Auch haben die betroffenen Inhaber jene Gegenstände zu benennen,
die ihrer Ansicht nach der Geheimhaltung unterliegen oder offensichtlich keinen
Sachzusammenhang mit der Strafuntersuchung aufweisen. Dies gilt besonders, wenn
sie die Versiegelung von sehr umfangreichen bzw. komplexen Dokumenten oder
Dateien verlangt haben (BGE 137 IV 189 E. 4.2 S. 194 f., E. 5.1.2 S. 197, E.
5.3.1 S. 198, mit Hinweisen).

7.2 Zur Verhältnismässigkeit der Entsiegelung bzw. zur Beweiseignung der
sichergestellten Dokumente (Art. 197 Abs. 1 lit. c-d und Abs. 2 StPO) erwägt
die Vorinstanz Folgendes: Die Durchsicht der beschlagnahmten Ordner habe
ergeben, dass im Rahmen des untersuchten Gegenstandes (Liegenschaftsgeschäft
St. Moritz und damit verknüpfte Finanztransaktionen) verschiedene Anwälte in
der Schweiz
BGE 138 IV 225 S. 230
und in Deutschland tätig geworden seien. Die Akten, die nichts mit dem
Untersuchungsgegenstand zu tun haben, seien ausgesondert worden. Die
Einzelkriterien der Triage sowie die konkret betroffenen Ordner und Dokumente
ergeben sich aus dem 20 Seiten umfassenden Dispositiv des angefochtenen
Entsiegelungsentscheides.

7.3 Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen
eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO). Da
im vorliegenden Fall die Beschwerdeführerin selber beschuldigt ist, drängt sich
bei der Frage der möglichen Beweiseignung der versiegelten Unterlagen (bzw. bei
den Anforderungen an die Substanzierung des fehlenden Deliktszusammenhangs)
keine besondere Zurückhaltung auf. Wie bereits dargelegt, kann sie sich im
Verhältnis zu selber beschuldigten früheren Anwälten auch nicht auf das
Anwaltsgeheimnis berufen (vgl. oben, E. 6.1-6.3). Wie sich aus den Akten
ergibt, erhielt die Beschwerdeführerin im Rahmen des Entsiegelungsverfahrens
vor dem Zwangsmassnahmengericht (und nochmals im Beschwerdeverfahren)
ausführlich Gelegenheit, sich zu allfälligen Entsiegelungshindernissen zu
äussern.

7.4 Zwar listet die Beschwerdeführerin Hunderte von Unterlagen aus 16
Bundesordnern auf, die ihrer Ansicht nach nicht entsiegelt werden dürften. Sie
legt jedoch nicht dar, weshalb die einzelnen Dokumente für die
Strafuntersuchung offensichtlich unerheblich wären. Eine stichprobenweise
Überprüfung zeigt, dass die pauschale Bestreitung der Deliktskonnexität zu
Unrecht erfolgt. Dies gilt insbesondere für interne Abrechnungen zwischen der
Beschwerdeführerin und einem wegen mutmasslicher Geldwäscherei mitbeschuldigten
Anwalt, für untersuchungsrelevante Korrespondenz (zwischen diesen beiden und
mit Dritten) oder für sachkonnexe Finanztransaktionen bzw. Eigengeschäfte eines
mitbeschuldigten Anwalts (z.B. Darlehens- und Provisionsbeteiligungsverträge).

8. Die Beschwerdeführerin wendet sich schliesslich gegen die Auflage der
erstinstanzlichen Entscheidgebühr. Sie habe die Kosten des Verfahrens nicht
rechtswidrig und schuldhaft erwirkt und auch dessen Durchführung nicht
erschwert. Die Kostenauflage an sie (eventualiter auch deren Höhe) verletze
Art. 426 StPO.

8.1 Die Verfahrenskosten des Strafprozesses werden vom Bund oder dem Kanton
getragen, der das Verfahren geführt hat; abweichende Bestimmungen der StPO
bleiben vorbehalten (Art. 423 Abs. 1 StPO). Bund und Kantone regeln die
Berechnung der Verfahrenskosten und
BGE 138 IV 225 S. 231
legen die Gebühren fest (Art. 424 Abs. 1 StPO). Die Bestimmungen des 10. Titels
der StPO über die Verfahrenskosten (sowie über Entschädigung und Genugtuung)
gelten für alle Verfahren nach StPO, insbesondere für in selbstständigen
strafprozessualen Zwischenentscheiden auferlegte Gerichtsgebühren (Art. 416
i.V.m. Art. 421 Abs. 2 lit. a StPO). Die beschuldigte Person trägt
grundsätzlich die Verfahrenskosten, wenn sie verurteilt wird (Art. 426 Abs. 1
StPO). Wird das Verfahren eingestellt oder die beschuldigte Person
freigesprochen, so können ihr die Verfahrenskosten ganz oder teilweise
auferlegt werden, wenn sie rechtswidrig oder schuldhaft die Einleitung des
Verfahrens bewirkt oder dessen Durchführung erschwert hat (Art. 426 Abs. 2
StPO).

8.2 Das Entsiegelungsverfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht (Art. 248 StPO)
stellt ein selbstständiges erstinstanzliches Zwangsmassnahmenverfahren dar. Der
Entsiegelungsentscheid schliesst das Strafverfahren nicht ab. Die Bestimmungen
von Art. 423 Abs. 1 i.V.m. 426 bzw. 428 StPO gelten auch für das
Entsiegelungsverfahren (Art. 416 i.V.m. 421 Abs. 2 lit. a StPO). Art. 428 StPO,
welcher die Kostentragung im StPO-Rechtsmittelverfahren regelt, ist auf
erstinstanzliche Entscheide nicht anwendbar. Damit besteht in der vorliegenden
Konstellation keine gesetzliche Grundlage (im Sinne von Art. 423 Abs. 1 StPO)
für die Auferlegung von Verfahrenskosten an die Beschwerdeführerin als
beschuldigte Person (vgl. auch BGE 132 I 117 E. 7.4 S. 125). Eine Auferlegung
von Verfahrenskosten an sie kommt erst nach Abschluss der Strafuntersuchung
(nach Massgabe von Art. 426 StPO) in Frage. Bis dahin hat gemäss Art. 423 Abs.
1 StPO der Kanton die angefallenen Verfahrenskosten zu tragen. Nach dem
Gesagten ist Ziffer 3 des Dispositives des angefochtenen Entscheides vom 16.
September 2011 aufzuheben.