Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 IV 157



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Urteilskopf

138 IV 157

23. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug (Beschwerde in Strafsachen)
6B_816/2011 vom 1. März 2012

Regeste

Art. 399 StPO; Anmeldung der Berufung und Berufungserklärung.
Wird ein erstinstanzliches Urteil weder mündlich noch schriftlich im Dispositiv
eröffnet, sondern den Parteien direkt in begründeter Form zugestellt, ist eine
Anmeldung der Berufung nicht nötig. Es genügt, dem Berufungsgericht eine
Berufungserklärung einzureichen. Dem Berufungskläger stehen hierfür 20 Tage zur
Verfügung (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 157

BGE 138 IV 157 S. 157

A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug erhob am 12. Januar 2010 Anklage
gegen X. wegen strafbarer Handlungen gegen das Vermögen (gewerbsmässiger
Betrug, eventualiter mehrfache qualifizierte Veruntreuung; Unterlassung der
Buchführung), Urkundenfälschung und gewerbsmässiger Geldwäscherei.
Das Strafgericht des Kantons Zug verurteilte X. am 16. August 2011 wegen
gewerbsmässigen Betrugs, Unterlassung der Buchführung und Urkundenfälschung zu
einer unbedingten Freiheitsstrafe von 12
BGE 138 IV 157 S. 158
Monaten als Zusatzstrafe zum Urteil des Landgerichts Dortmund vom 8. September
2010. Vom Vorwurf der gewerbsmässigen Geldwäscherei sprach es ihn frei. Dieses
Urteil wurde X. am 7. September 2011 direkt in begründeter Form eröffnet.
X. reichte am 27. September 2011 Berufung ein, auf welche das
Obergerichtspräsidium des Kantons Zug am 11. November 2011 mangels Fristwahrung
betreffend Einreichung der Berufungserklärung nicht eintrat.

B. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X., es sei die Präsidialverfügung
vom 11. November 2011 aufzuheben und das Obergericht des Kantons Zug
anzuweisen, auf die Berufung einzutreten. Eventualiter sei festzustellen, dass
er mit der Berufung vom 27. September 2011 die Berufungsfrist eingehalten und
die Berufung fristgerecht eingereicht habe.

C. Das Obergericht des Kantons Zug beantragt unter Hinweis auf die Erwägungen
im angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug verzichtet auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die StPO (SR 312.0) sieht für die Einlegung der Berufung ein zweistufiges
Verfahren vor. Nach Art. 399 Abs. 1 StPO ist die Berufung dem erstinstanzlichen
Gericht innert 10 Tagen seit Eröffnung des Urteils schriftlich oder mündlich zu
Protokoll anzumelden. Nach Ausfertigung des begründeten Urteils übermittelt das
erstinstanzliche Gericht die Anmeldung zusammen mit den Akten dem
Berufungsgericht (Art. 399 Abs. 2 StPO). Die Partei, die Berufung angemeldet
hat, reicht dem Berufungsgericht gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO innert 20 Tagen
seit der Zustellung des begründeten Urteils eine schriftliche
Berufungserklärung ein. Die am Prozess beteiligten Parteien, welche mit dem
erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden sind, müssen mithin in der Regel
zweimal ihren Willen kundtun, das Urteil nicht zu akzeptieren, nämlich einmal
im Rahmen der Anmeldung der Berufung bei der ersten Instanz nach Eröffnung des
Dispositivs (siehe Art. 84 StPO zur Eröffnung sowie Art. 81 Abs. 4 StPO zum
Inhalt des Dispositivs) und ein zweites Mal nach Eingang des begründeten
Urteils durch eine Berufungserklärung beim Berufungsgericht.
BGE 138 IV 157 S. 159

2.2 Wird das Urteil weder mündlich noch schriftlich im Dispositiv eröffnet,
sondern direkt in begründeter Form zugestellt, ist eine Anmeldung der Berufung
nicht nötig. Es genügt, eine Berufungserklärung einzureichen. Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts und entgegen einer in der Lehre vertretenen
Auffassung (vgl. MARKUS HUG, in: Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2010, N. 11 zu
Art. 399 StPO) gilt dabei nicht die für die Anmeldung der Berufung massgebliche
Frist von 10 Tagen, sondern stehen dem Berufungskläger im Sinne von Art. 399
Abs. 3 StPO 20 Tage zur Verfügung. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb
die Frist für die Einreichung der Berufungserklärung von 20 auf 10 Tage
reduziert werden sollte (Urteil des Bundesgerichts 6B_444/2011 vom 20. Oktober
2011 E. 2.5).

2.3 Das erstinstanzliche Urteil vom 16. August 2011 wurde dem Beschwerdeführer
unstreitig weder mündlich noch schriftlich im Dispositiv eröffnet, sondern am
7. September 2011 direkt in begründeter Form zugestellt. Der Beschwerdeführer
brauchte deshalb die Berufung nicht anzumelden, sondern konnte sich auf die
Einreichung der Berufungserklärung beschränken. Davon geht auch die Vorinstanz
aus. Entgegen ihrer Ansicht standen ihm hierfür allerdings nicht nur 10 Tage,
also die für die Anmeldung nach Art. 399 Abs. 1 StPO massgebliche Frist, zur
Verfügung, sondern 20 Tage seit der Zustellung des begründeten Urteils. Dafür
spricht auch die Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Urteils vom 16.
August 2011, wonach innert 10 Tagen seit Eröffnung des Urteils Berufung
anzumelden und innert 20 Tagen seit Zustellung des begründeten Urteils eine
Berufungserklärung einzureichen war. Der Beschwerdeführer reichte die
Berufungserklärung fristgerecht am 27. September 2011 ein. Die Vorinstanz trat
in Verletzung von Bundesrecht darauf nicht ein. Die Sache ist daher an sie zur
neuen Beurteilung zurückzuweisen.
Die Frage, ob die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug Anschlussberufung wird
erheben können, bildet nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und braucht
daher nicht geklärt zu werden.

2.4 Die Beschwerde ist gutzuheissen. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine
Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Zug hat dem
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). Mit dem Entscheid in der
Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos geworden.