Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 IV 120



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Urteilskopf

138 IV 120

17. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis gegen X. (Beschwerde in Strafsachen)
6B_684/2011 vom 30. April 2012

Regeste

Art. 49 Abs. 1 und 2 StGB; Präzisierung des Begriffs der Gleichartigkeit der
Strafen; Vollzug bei kumulativ verhängten Strafen.
Eine Erhöhung der Zusatzstrafe im Falle einer (teilweisen) retrospektiven
Konkurrenz (Art. 49 Abs. 2 StGB) ist in Anwendung von Art. 49 Abs. 1 StGB
vorzunehmen. Die Bildung einer Gesamtstrafe ist nur bei gleichartigen Strafen
möglich, während ungleichartige Strafen kumulativ zu verhängen sind (BGE 137 IV
57). Mehrere gleichartige Strafen liegen vor, wenn das Gericht im konkreten
Fall für jeden einzelnen Normverstoss gleichartige Strafen ausfällt (konkrete
Methode). Dass die anzuwendenden Strafbestimmungen abstrakt gleichartige
Strafen vorsehen, genügt nicht (E. 5).
Bei der Frage, ob die kumulierten Strafen bedingt oder unbedingt auszusprechen
sind, ist nicht auf die aus Freiheits- und Geldstrafe zusammengesetzte
Gesamtsanktion (wie bei gleichartig asperierten Strafen) abzustellen. Vielmehr
sind die einzelnen Strafen je für sich zu betrachten (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 121

BGE 138 IV 120 S. 121

A. Das Kantonsgericht Wallis sprach X. mit Urteil vom 7. September 2011 in
zweiter Instanz der mehrfachen qualifizierten Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz, des mehrfachen Diebstahls, des mehrfachen
Hausfriedensbruchs, der mehrfachen versuchten Nötigung und des Fahrens in
fahrunfähigem Zustand mit einer qualifizierten Blutalkoholkonzentration
schuldig. Von den Vorwürfen des mehrfachen Konsums von Betäubungsmitteln und
der Sachbeschädigung sprach es ihn frei. Es verurteilte ihn unter Anrechnung
der erstandenen Untersuchungshaft von 22 Tagen zu einer Freiheitsstrafe von
sechs Monaten als Zusatzstrafe zu der mit Urteil des Amtsgerichts Bergen auf
Rügen in Deutschland vom 20. Mai 2008 ausgefällten Gesamtfreiheitsstrafe von
zwei Jahren. Weiter verhängte es eine bedingt vollziehbare Geldstrafe von 90
Tagessätzen zu Fr. 50.- und eine Busse von Fr. 1'000.-. Die beschlagnahmten
Betäubungsmittel und Vermögenswerte zog es ein.

B. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis erhebt Beschwerde in Strafsachen.
Sie beantragt, die Ziffern 3 und 6 des Dispositivs des Urteils des
Kantonsgerichts Wallis (Strafmass und Kostenverteilung) seien aufzuheben, und
die Sache sei zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Kosten
für das bundesgerichtliche Verfahren seien X. aufzuerlegen.
Das Kantonsgericht Wallis verzichtet auf eine Vernehmlassung. X. beantragt mit
Vernehmlassung vom 12. Januar 2012 die Abweisung der Beschwerde und die
Bestätigung des Urteils des Kantonsgerichts Wallis. Zudem ersucht er um
unentgeltliche Verbeiständung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Der Beschwerdegegner wurde vom Amtsgericht Bergen auf Rügen in Deutschland
mit Urteil vom 20. Mai 2008 wegen Einfuhr von
BGE 138 IV 120 S. 122
unerlaubten Betäubungsmitteln (2,5 kg Marihuana) zu einer zur Bewährung
ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, unter
Einbeziehung einer durch das Amtsgericht Potsdam mit Urteil vom 20. Juli 2004
ausgesprochenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Die vorliegend zu
beurteilenden qualifizierten Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz
und der mehrfache Diebstahl beging der Beschwerdegegner vor der Verurteilung
durch das Amtsgericht Bergen auf Rügen. Der mehrfache Hausfriedensbruch und die
mehrfache versuchte Nötigung erfolgten teils vor und teils nach besagtem
Urteil. Das Strassenverkehrsdelikt verübte der Beschwerdegegner nach dem
Urteil.
(...)

5.

5.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Vorinstanz nehme die Strafzumessung
methodisch falsch vor und verletze dadurch Art. 49 StGB. Statt für die
Straftaten vor und nach der Verurteilung durch das Amtsgericht Bergen auf Rügen
eine Gesamtstrafe auszufällen, bilde sie zwei eigenständige Strafen und
kumuliere diese.

5.2 Die Methodik der vorinstanzlichen Strafzumessung ist mit Blick auf die
bundesgerichtliche Rechtsprechung nicht zu beanstanden. Eine allfällige
Erhöhung der Zusatzstrafe von vorliegend sechs Monaten für die nach der
früheren Verurteilung begangenen Taten wäre in Anwendung der
Strafzumessungsregel nach Art. 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Die Bildung einer
Gesamtstrafe im Sinne dieser Bestimmung ist indes nur bei gleichartigen Strafen
möglich. Ungleichartige Strafen sind kumulativ zu verhängen, da das
Asperationsprinzip nur greift, wenn mehrere gleichartige Strafen ausgesprochen
werden (BGE 137 IV 57 E. 4.3.1). Das Gericht kann somit auf eine
Gesamtfreiheitsstrafe nur erkennen, wenn es im konkreten Fall für jede einzelne
Tat eine Freiheitsstrafe ausfällen würde (BGE 137 IV 249 E. 3.4.2). Das alte
Recht hielt in aArt. 68 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ausdrücklich fest, dass für die
Gesamtstrafenbildung die konkret verwirkte Strafe massgeblich ist ("Hat jemand
[...] mehrere Freiheitsstrafen verwirkt "; vgl. auch BGE 75 IV 2 E. 1). Die
Praxis zu aArt. 68 StGB ist weiterhin massgebend. Demgemäss sind im Sinne von
Art. 49 Abs. 1 StGB "die Voraussetzungen für mehrere gleichartige Strafen
erfüllt", wenn das Gericht im konkreten Fall für jeden einzelnen Normverstoss
gleichartige Strafen ausfällte. Dass die anzuwendenden Strafbestimmungen
abstrakt gleichartige Strafen androhen, genügt nicht (vgl. dazu
BGE 138 IV 120 S. 123
auch GÜNTER STRATENWERTH, Gesamtstrafenbildung nach neuem Recht, forumpoenale 6
/2008 S. 356 ff.; derselbe, Erneut zur Gesamtstrafenbildung, forumpoenale 6/
2011 S. 349 f.; JÜRG-BEAT ACKERMANN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I,
2. Aufl. 2007, N. 36 zu Art. 49 StGB; a.M. CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, Die
Sanktionsfolgenbestimmung und der Anwendungsbereich des Asperationsprinzips bei
der Konkurrenz [Art. 49 Abs. 1 StGB], in: Festschrift für Hans Wiprächtiger,
2011, S. 45 ff.; MARKUS HUG, in: StGB, Schweizerisches Strafgesetzbuch [...],
18. Aufl. 2010, N. 5 zu Art. 49 StGB; ANNETTE DOLGE, Geldstrafen als Ersatz für
kurze Freiheitsstrafen - Top oder Flop, ZStrR 128/2010 S. 77; KATHRIN
GIOVANNONE-HOFMANN, Bemerkungen zu BGE 137 IV 57, forumpoenale 1/2012 S. 3
ff.).
Für die qualifizierte Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz gemäss
Art. 19 Ziff. 2 BetmG (SR 812.121) als schwerste Straftat ist vorliegend
zwingend eine Freiheitsstrafe auszusprechen. Für die Delikte, die der
Beschwerdegegner nach der Verurteilung durch das Amtsgericht Bergen auf Rügen
begangen hat, sind je alternativ Freiheitsstrafe oder Geldstrafe möglich (Art.
91 Abs. 1 SVG [SR 741.01], Art. 181 und 186 StGB). Es ist nicht zu beanstanden,
dass die Vorinstanz für diese Straftaten eine Geldstrafe verhängt. Das Prinzip
der Verhältnismässigkeit gebietet, dass bei alternativ zur Verfügung stehenden
und hinsichtlich des Schuldausgleichs äquivalenten Sanktionen im Regelfall jene
gewählt werden soll, die weniger stark in die persönliche Freiheit des
Betroffenen eingreift bzw. die ihn am wenigsten hart trifft (BGE 134 IV 97 E.
4.2.2).
Die Beschwerde ist in diesem Punkt ebenfalls abzuweisen.

6. Die Vorinstanz erklärt die Zusatzstrafe von sechs Monaten Freiheitsstrafe
als vollziehbar. Auf den Vollzug der Geldstrafe verzichtet sie, was nicht zu
beanstanden ist. Hinsichtlich der Vollzugsfrage ist bei kumulierten
ungleichartigen Strafen nicht auf die aus Freiheits- und Geldstrafe
zusammengesetzte Gesamtsanktion (wie bei gleichartigen asperierten Strafen)
abzustellen, sondern die Geldstrafe und die Freiheitsstrafe sind je für sich zu
betrachten (Urteil 6B_165/2011 vom 19. Juli 2011 E. 2.3.4).