Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 IV 106



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Urteilskopf

138 IV 106

15. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Eidgenössische
Spielbankenkommission gegen X., Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern und Y. AG
(Beschwerde in Strafsachen)
6B_466/2011 / 6B_467/2011 vom 16. März 2012

Regeste

Organisieren oder gewerbsmässiges Betreiben von Glücksspielen ausserhalb
konzessionierter Spielbanken (Art. 56 Abs. 1 lit. a SBG).
Der Betrieb eines Spielautomaten ausserhalb einer konzessionierten Spielbank
kann diesen Straftatbestand nur erfüllen, wenn der Automat durch Verfügung der
Eidgenössischen Spielbankenkommission als Glücksspielautomat qualifiziert
worden ist und allfällige Rechtsmittel gegen diese Verfügung keine
aufschiebende Wirkung haben. Fehlt eine Verfügung der Eidgenössischen
Spielbankenkommission, kann es nicht die Aufgabe des Strafrichters sein,
vorfrageweise darüber zu entscheiden, ob das Gerät als Glücksspielautomat zu
qualifizieren ist (E. 5.3.2).

Sachverhalt ab Seite 107

BGE 138 IV 106 S. 107

A. Die Eidgenössische Spielbankenkommission (ESBK) legte X. zur Last, er habe
als einzelzeichnungsberechtigtes Mitglied des Verwaltungsrats der Y. AG in drei
Gaststätten in Luzern in der Zeit von März 2006 bis zum 16. Mai 2006 je einen
Spielautomaten des Typs "Tropical Shop" betrieben und die von den Automaten
ausgeworfenen Sammelkarten in bar an die Spieler auszahlen lassen. Dadurch habe
er sich der Widerhandlungen gegen das Spielbankengesetz (Art. 56 Abs. 1 lit. a
SBG) schuldig gemacht, weshalb die erzielten Einnahmen im Bruttobetrag von
total Fr. 945.- zulasten der Y. AG einzuziehen seien.

B.

B.a Die ESBK sprach X. mit Strafverfügung vom 28. Mai 2008 in Bestätigung ihres
Strafbescheids vom 27. September 2007 der Widerhandlung gegen das
Spielbankengesetz (Art. 56 Abs. 1 lit. a SBG) schuldig, begangen in der Zeit
von März 2006 bis zum 16. Mai 2006 in drei Gaststätten in Luzern durch den
Betrieb je eines Glücksspielautomaten des Typs "Tropical Shop" und
Auszahlenlassen der von diesen Automaten ausgeworfenen Sammelkarten an die
Spieler in bar.
X. verlangte die gerichtliche Beurteilung.

B.b Die ESBK verpflichtete mit Entscheid vom 28. Mai 2008 in Bestätigung ihres
Einziehungsbescheids vom 27. September 2007 die Y. AG, dem Bund eine
Ersatzforderung in der Höhe von insgesamt Fr. 945.- (Fr. 884.50 plus Fr. 50.-
plus Fr. 10.50) zu bezahlen.
Die Y. AG verlangte die gerichtliche Beurteilung.
BGE 138 IV 106 S. 108

C.

C.a Das Amtsgericht Luzern-Stadt, II. Abteilung, sprach X. mit Urteil vom 23.
Juni 2010 der Widerhandlung gegen das Spielbankengesetz (Art. 56 Abs. 1 lit. a
SBG) schuldig, begangen in der Zeit von März 2006 bis zum 16. Mai 2006 in drei
Gaststätten in Luzern durch Betreiben je eines Glücksspielautomaten des Typs
"Tropical Shop" und Auszahlenlassen der durch diese Automaten ausgeworfenen
Sammelkarten an die Spieler in bar.

C.b Das Amtsgericht Luzern-Stadt, II. Abteilung, verpflichtete mit Entscheid
vom 23. Juni 2010 die Y. AG im Rahmen des Strafverfahrens gegen X., dem Bund
eine Ersatzforderung in der Höhe von total Fr. 945.- (Fr. 884.50 plus Fr. 50.-
plus Fr. 10.50) zu bezahlen.

D. Gegen das Urteil respektive den Einziehungsentscheid reichten X.
beziehungsweise die Y. AG Appellation ein. X. beantragte seine Freisprechung.
Die Y. AG stellte den Antrag, auf die Ersatzforderung sei zu verzichten.

E.

E.a Das Obergericht des Kantons Luzern, 4. Abteilung, sprach X. mit Urteil vom
9. März 2011 vom Vorwurf der Widerhandlung gegen das Spielbankengesetz frei.

E.b Es hob mit Entscheid vom gleichen Tag die Einziehungsverfügung der ESBK auf
und wies die Ersatzforderung an den Bund ab.

F. Die ESBK erhebt in einer einzigen Eingabe Beschwerde in Strafsachen sowohl
gegen das Urteil des Obergerichts in Sachen X. als auch gegen den Entscheid des
Obergerichts in Sachen Y. AG mit den Anträgen, die beiden Urteile seien
aufzuheben und die Entscheide des Amtsgerichts Luzern-Stadt seien zu
bestätigen. Die Eingabe enthält somit zwei Beschwerden (Verfahren 6B_466/2011
und 6B_467/ 2011).
Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab, soweit es auf sie eintritt.
Aus den Erwägungen:

Erwägungen

5.

5.3 Die drei Automaten "Tropical Shop" wurden in der Zeit von März 2006 bis zum
16. Mai 2006 betrieben. In jenem Zeitraum lag noch keine Verfügung der
zuständigen Behörde betreffend die Qualifizierung dieser Automaten vor.
BGE 138 IV 106 S. 109

5.3.1 Mit Bekanntmachung vom 7. März 2006 an die Hersteller, Inverkehrbringer,
Aufsteller und Betreiber von Automaten des Typs "Tropical Shop" oder
"Wondercard" teilte die ESBK mit, dass sie beabsichtige, den Automaten
"Tropical Shop" (auch "Wondercard" genannt) als Glücksspielautomaten im Sinne
von Art. 3 Abs. 2 des Spielbankengesetzes vom 18. Dezember 1998 (SBG; SR
935.52) zu qualifizieren und einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende
Wirkung zu entziehen. Die ESBK hielt in der Bekanntmachung fest, obschon ihr
gemäss Art. 61 der Spielbankenverordnung vom 24. September 2004 (VSBG; SR
935.521) Geldspielautomaten vorzuführen seien, sei dies beim Automaten
"Tropical Shop" bis heute nicht erfolgt. Die ESBK gab in Anwendung von Art. 29
und 30a VwVG (SR 170.021) den von der Feststellungsverfügung Betroffenen unter
Ansetzung einer Frist von 30 Tagen Gelegenheit, den Entwurf der beabsichtigten
Feststellungsverfügung mit deren Begründung und den Akten bei der ESBK
einzusehen und dazu Stellung zu nehmen. Bei unbenutztem Ablauf der Frist werde
aufgrund der Akten entschieden (BBl 2006 2689).
Mit Feststellungsverfügung der ESBK vom 2. August 2006 wurden der Spielautomat
"Tropical Shop" und faktisch gleiche Geräte als Glücksspielautomaten im Sinne
von Art. 3 Abs. 2 SBG qualifiziert. Die ESBK hielt unter Hinweis auf Art. 56
Abs. 1 lit. a SBG fest, es sei verboten, den Glücksspielautomaten "Tropical
Shop" (und andere faktisch gleiche Geräte) ausserhalb von konzessionierten
Spielbanken zu betreiben. Der Beschwerde gegen die vorliegende
Feststellungsverfügung wurde die aufschiebende Wirkung gemäss Art. 55 VwVG
entzogen. In der Rechtsmittelbelehrung wurde darauf hingewiesen, dass gegen die
Verfügung innert 30 Tagen nach Eröffnung bei der für Spielbanken zuständigen
Rekurskommission in Bern Beschwerde geführt werden kann (BBl 2006 6757).
Gegen die Verfügung der ESBK erhoben einzelne Betroffene, welche Automaten des
Typs "Tropical Shop" erworben, aufgestellt und einige davon in Betrieb gesetzt
hatten, am 14. September 2006 Beschwerde an die Eidgenössische Rekurskommission
für Spielbanken. Sie ersuchten um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung.
Durch Verfügung des Präsidenten der Eidgenössischen Rekurskommission für
Spielbanken vom 19. September 2006 wurde die aufschiebende Wirkung der
Beschwerden superprovisorisch wiederhergestellt, jedoch ausschliesslich für die
am 2. August 2006 bereits in Betrieb stehenden Spielautomaten "Tropical Shop".
Mit Präsidialverfügung
BGE 138 IV 106 S. 110
der Eidgenössischen Rekurskommission für Spielbanken vom 11. Dezember 2006
wurden die Präsidialverfügung vom 19. September 2006 aufgehoben und die
Begehren um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abgewiesen. Eine
dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies die II.
öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts mit Urteil 2A.8/2007 vom 26.
März 2007 ab.

5.3.2 Erst mit der Verfügung der ESBK vom 2. August 2006 stand fest, dass der
Automat "Tropical Shop" nach der Auffassung dieser zuständigen Fachbehörde als
Glücksspielautomat im Sinne des Spielbankengesetzes zu qualifizieren und daher
dessen Betrieb ausserhalb konzessionierter Spielbanken verboten ist. Zwar
handelt es sich bei der Verfügung der ESBK vom 2. August 2006 um eine
Feststellungsverfügung und war somit der Automat "Tropical Shop" unabhängig von
dieser Verfügung und auch schon vor deren Erlass ein Glücksspielautomat im
Sinne des Spielbankengesetzes. Ob ein bestimmtes Gerät als Glücksspielautomat
im Sinne des Spielbankengesetzes zu qualifizieren ist, hängt von verschiedenen
Umständen und deren Gewichtung ab. Der Entscheid kann unter Umständen schwierig
sein. Gemäss der gesetzlichen Regelung ist es die Aufgabe der ESBK, zu prüfen
und zu entscheiden, ob ein bestimmter Automat unter Berücksichtigung der
gesamten Umstände als Glücksspielautomat im Sinne des Spielbankengesetzes zu
qualifizieren ist. Wer einen Geschicklichkeits- oder einen Glücksspielautomaten
(Geldspielautomaten) in Verkehr setzen will, muss ihn vor der Inbetriebnahme
der Kommission vorführen (Art. 61 Abs. 1 VSBG). Die Kommission entscheidet auf
Grund der Unterlagen, ob es sich beim vorgeführten Geldspielautomaten um einen
Geschicklichkeits- oder um einen Glücksspielautomaten handelt. Sie kann eine
Überprüfung des Geldspielautomaten sowie der eingereichten Unterlagen anordnen
(Art. 64 Abs. 1 VSBG). Die Kommission teilt ihre Entscheide den Kantonen mit
und veröffentlicht sie im Bundesblatt (Art. 64 Abs. 3 VSBG). Gemäss Art. 56
Abs. 1 SBG macht sich unter anderem strafbar, wer Spielsysteme oder
Glücksspielautomaten ohne Prüfung, Konformitätsbewertung oder Zulassung zum
Zweck des Betriebs aufstellt (lit. c), wer eine vorgeschriebene Meldung an die
Kommission unterlässt (lit. e) und wer einer Aufforderung der Kommission, den
ordnungsgemässen Zustand wiederherzustellen oder die Missstände zu beseitigen,
nicht nachkommt (lit. f). Aus dieser gesetzlichen Regelung ergibt sich, dass
der Betrieb eines Glücksspielautomaten ausserhalb konzessionierter Spielbanken
den Tatbestand von Art. 56 Abs. 1 lit. a SBG nur
BGE 138 IV 106 S. 111
erfüllen kann, nachdem der Automat durch Verfügung der zuständigen ESBK als
Glücksspielautomat qualifiziert worden ist und allfällige Rechtsmittel gegen
diese Verfügung keine aufschiebende Wirkung haben. Vor dem Erlass einer solchen
Verfügung kann der Tatbestand von Art. 56 Abs. 1 lit. a SBG nicht erfüllt sein,
weil noch nicht feststeht, ob es sich bei dem in Betrieb stehenden Automaten
nach der Einschätzung der zu diesem Entscheid zuständigen ESBK um einen
Glücksspielautomaten handelt. Vor dem Erlass der Feststellungsverfügung der
ESBK können durch den Betrieb des Automaten allenfalls andere Tatbestände
erfüllt werden, etwa der Tatbestand von Art. 56 Abs. 1 lit. c SBG. Angesichts
der in der Spielbankenverordnung enthaltenen Regelung, wonach
Geldspielautomaten der ESBK vorzuführen sind (Art. 61 Abs. 1 VSGB), welche über
deren Qualifikation als Geschicklichkeits- oder Glücksspielautomaten zu
entscheiden hat (Art. 64 VSBG), wogegen die Beschwerde an das
Bundesverwaltungsgericht und danach die öffentlich-rechtliche Beschwerde an das
Bundesgericht gegeben ist, kann es im Übrigen nicht die Aufgabe des
Strafrichters sein, bei Fehlen einer diesbezüglichen Verfügung der ESBK selber
darüber zu entscheiden, ob der Automat als Geschicklichkeits- oder als
Glücksspielautomat zu qualifizieren ist. Soweit sich aus der Rechtsprechung der
Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts insoweit etwas anderes ergibt
(siehe etwa die Urteile 6S.112/2004 vom 18. Juni 2004 und 6S.45/2005 vom 22.
März 2005), kann daran schon wegen des Risikos von widersprüchlichen
Entscheiden in Bezug auf die Qualifikation eines Automaten nicht festgehalten
werden.

5.3.3 Durch den Betrieb der Automaten des Typs "Tropical Shop" in der Zeit von
März 2006 bis zum 16. Mai 2006 in drei Gaststätten wurde mithin der Tatbestand
von Art. 56 Abs. 1 lit. a SBG nicht erfüllt.

5.3.4 Ob allenfalls der Tatbestand von Art. 56 Abs. 1 lit. c SBG erfüllt ist,
wonach bestraft wird, wer Spielsysteme oder Glücksspielautomaten ohne Prüfung,
Konformitätsbewertung oder Zulassung zum Zwecke des Betriebs aufstellt, und ob
gegebenenfalls eine Einziehung der durch den Betrieb erlangten Vermögenswerte
in Betracht käme, ist vorliegend nicht zu prüfen, da eine solche Straftat weder
eingeklagt ist noch Gegenstand des Verwaltungsstrafverfahrens und des
gerichtlichen Strafverfahrens bildete.