Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 IV 100



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Urteilskopf

138 IV 100

14. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn (Beschwerde in Strafsachen)
6B_509/2011 vom 13. Februar 2012

Regeste

Anstaltentreffen zur mengenmässig qualifizierten Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz (aArt. 19 Ziff. 1 Abs. 6 i.V.m. aArt. 19 Ziff. 2 lit. a
BetmG in der bis 30. Juni 2011 geltenden Fassung).
Eine mengenmässig qualifizierte Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz
kann auch in der Form des Anstaltentreffens nach aArt. 19 Ziff. 1 Abs. 6 BetmG
begangen werden. Wer die Betäubungsmittel noch nicht besitzt, macht sich in
diesem Sinne schuldig, sofern er beabsichtigt hat, eine qualifizierte Tat zu
vollenden, welche ohne Weiteres möglich ist (Weiterentwicklung der
Rechtsprechung zu BGE 122 IV 360) (E. 3.6).

Sachverhalt ab Seite 101

BGE 138 IV 100 S. 101

A. Die Staatsanwaltschaft legt X. zur Last, er habe zusammen mit A. vereinbart,
mindestens einen Liter flüssiges Kokaingemisch von Spanien in die Schweiz
einzuführen. Am 13. April 2006 sei er nach Madrid gereist, um die
Betäubungsmittel von einem unbekannten Dritten zu übernehmen. Das Vorhaben sei
aus unbekannten Gründen fehlgeschlagen (Anklage Ziff. 1). Weiter habe er
zwischen Anfang 2005 und Ende Juni 2006 von A. insgesamt fünf Gramm
Kokaingemisch zum Weiterverkauf erworben (Anklage Ziff. 2.1). Zwischen 2004 und
Mitte 2006 habe er zehnmal je ein Gramm Kokaingemisch an ihm unbekannte
Abnehmer verkauft (Anklage Ziff. 2.2). Zudem habe er im Juni 2006 trotz
Führerausweisentzugs ein Motorfahrzeug gelenkt (Anklage Ziff. 3). Schliesslich
habe er vom 5. August bis Anfang September 2006 Betäubungsmittel konsumiert
(Anklage Ziff. 4).

B. Der Amtsgerichtspräsident Bucheggberg-Wasseramt verurteilte X. am 26.
November 2009 wegen einfacher Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz
(Anklage Ziff. 1 und 2), der Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes (Anklage
Ziff. 4) und des mehrfachen Führens eines Personenwagens trotz
Führerausweisentzugs (Anklage Ziff. 3) zu einer bedingten Geldstrafe von 90
Tagessätzen zu Fr. 70.- sowie zu einer Busse von Fr. 200.-, als Zusatzstrafe
zum Urteil des Untersuchungsrichteramtes Emmental-Oberaargau vom 8. September
2006.
Die dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobene Appellation hiess das
Obergericht des Kantons Solothurn am 5. Mai 2011 gut. Es
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sprach X. wegen mengenmässig qualifizierter Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz (Anklage Ziff. 1) schuldig und stellte die Rechtskraft
der weiteren erstinstanzlichen Schuldsprüche fest. Das Obergericht bestrafte X.
mit einer bedingten Geldstrafe von 330 Tagessätzen zu Fr. 110.- und mit einer
Busse von Fr. 200.-. Es ging von einer qualifizierten Drogenmenge aus, weil die
Auftraggeber bereit gewesen seien, einen erheblichen Aufwand zu betreiben. Sie
hätten für X. ein Flugticket Zürich-Madrid und retour sowie ein Hotel für zwei
Nächte gebucht und ihm Fr. 2'000.- für seine Dienste angeboten. Der Transport
alleine hätte Fr. 3'000.- gekostet. Dieser Aufwand habe nur Sinn gemacht, wenn
das Geschäft Gewinn abwerfe. Deshalb habe X. davon ausgehen müssen, dass er
eine qualifizierte Menge Kokain hätte transportieren sollen.

C. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei
aufzuheben, und er sei vom Vorwurf der qualifizierten Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz freizusprechen. Die Strafsache sei zur Ausfällung einer
schuldangemessenen Strafe und zur neuen Festsetzung der Kosten an die
Vorinstanz zurückzuweisen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, es liege keine qualifizierte
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinne von aArt. 19 Ziff. 1
Abs. 6 i.V.m. aArt. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG (in der bis zum 30. Juni 2011
gültigen Fassung; AS 1975 1220) vor. Eine solche wäre nur erfüllt, wenn er
mengenmässig tatsächlich eine qualifizierte Widerhandlung begangen hätte, was
nicht zutreffe. Der blosse Versuch genüge nicht, da sich die Bestimmung von
aArt. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG ausschliesslich auf die Strafzumessung, nicht
aber auf die Strafbarkeit beziehe.

3.2 Die seit dem 1. Juli 2011 revidierten Bestimmungen (Art. 19 Abs. 1 lit. b
und g BetmG; SR 812.121) sind nicht milder, weshalb das alte Recht anzuwenden
ist (Art. 2 Abs. 2 StGB).
Wer unbefugt Anstalten zur Einfuhr von Betäubungsmitteln trifft, wird (bei
vorsätzlicher Tatbegehung) mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
Geldstrafe bestraft (aArt. 19 Ziff. 1 Abs. 3 und 6 BetmG). Abs. 6 erfasst
sowohl den Versuch im Sinne von Art. 22 StGB wie auch gewisse qualifizierte
Vorbereitungshandlungen und wertet sie zu selbstständigen Taten mit derselben
Strafdrohung wie die
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übrigen verbotenen Verhaltensweisen auf (BGE 133 IV 187 E. 3.2 S. 193 mit
Hinweisen). Die Rechtsprechung hat den Begriff des Anstaltentreffens
eingegrenzt. Zu ahnden sind nur Fälle, in denen das Verhalten des Täters nicht
ebenso gut einem gesetzmässigen Zweck dienen könnte, sondern seinem äussern
Erscheinungsbild nach die deliktische Bestimmung klar erkennen lässt. Dies ist
beispielsweise der Fall, wenn sich jemand mit der Absicht des Erwerbs von
Betäubungsmitteln nach Bezugsquellen erkundigt (BGE 117 IV 309 E. 1a S. 310 f.
und E. 1d S. 312 f. mit Hinweisen). In schweren Fällen ist die Strafe
Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr, womit eine Geldstrafe verbunden werden
kann (aArt. 19 Ziff. 1 BetmG). Ein schwerer Fall liegt namentlich vor, wenn der
Täter weiss oder annehmen muss, dass sich die Widerhandlung auf eine Menge von
Betäubungsmitteln bezieht, welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr
bringen kann (aArt. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG). Enthält das Kokaingemisch
mindestens 18 Gramm reinen Wirkstoff, ist die Grenze zu aArt. 19 Ziff. 2 BetmG
überschritten (BGE 120 IV 334 E. 2a S. 338 mit Hinweisen; BGE 109 IV 143 E. 3b
S. 145).

3.3 Die bisherige Rechtsprechung, ob der mengenmässig schwere Fall als Versuch
begangen werden kann, ist uneinheitlich.
In seiner publizierten Rechtsprechung erwog das Bundesgericht, die Annahme
eines mengenmässig schweren Falles im Sinne von aArt. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
sei an eine objektive und eine subjektive Voraussetzung geknüpft. Werde die
Grenze von 18 Gramm Kokain unterschritten, fehle es an der objektiven
Voraussetzung. Der Qualifikationsgrund nach Ziff. 2 lit. a scheide aus, auch
wenn der Täter irrtümlicherweise meine, das gehandelte Kokain enthalte
mindestens 18 Gramm reinen Wirkstoff. Die subjektive Vorstellung des Täters
könne die fehlende objektive Voraussetzung nicht ersetzen. Es bestehe insoweit
eine Analogie zum Wahndelikt (BGE 122 IV 360 E. 2a S. 362 ff. mit Hinweisen).
Bei aArt. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG gehe es nicht um die Strafbarkeit, sondern um
die Strafzumessung. Diese Bestimmung nenne nur Umstände, welche zur Anwendung
des höheren Strafrahmens führten, nicht aber Tatbestandsmerkmale. Die Frage des
Versuchs, welche sich gegebenenfalls bei der Tatbestandsmässigkeit stelle,
könne in diesem Stadium der Bewertung nicht mehr aufgeworfen werden (BGE 122 IV
360 E. 2b S. 363 f. mit Hinweisen, bestätigt in BGE 124 IV 79 E. 2d S. 81; je
mit Hinweisen; vgl. zur analogen Rechtsprechung betreffend aArt. 19 Ziff. 2
lit. c BetmG: BGE 129 IV 188 E. 3.3 S. 195 f. mit Hinweisen).
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Der Rechtsprechung von BGE 122 IV 360, S. 363 f. lag ein Sachverhalt zugrunde,
in welchem der Täter 49,1 Gramm Kokaingemisch besass, der reine Wirkstoff aber
weniger als 18 Gramm betrug. Deshalb durfte der Richter den Täter nicht wegen
Versuchs bestrafen. Denn die Tat im Sinne von aArt. 19 Ziff. 1 Abs. 5 BetmG war
vollendet (BGE 122 IV 360 a.a.O.). In einem anderen Fall, in welchem der Täter
nach seiner Vorstellung eine grosse Menge Betäubungsmittel transportierte,
welche die Polizei vorgängig ohne sein Wissen gegen einen harmlosen Stoff
ausgetauscht hatte, schützte das Bundesgericht die Verurteilung wegen
qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz nach aArt. 19
Ziff. 1 Abs. 6 ("Anstalten treffen") i.V.m. aArt. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
(Urteil 6S.108/1997 vom 28. April 1997 E. 2b mit Hinweisen).
Im Gegensatz zu der in BGE 122 IV 360 publizierten Rechtsprechung wertete das
Bundesgericht in einem neueren Entscheid die Verurteilung wegen mengenmässig
qualifiziertem Anstaltentreffen zum Betäubungsmittelhandel als
bundesrechtskonform. Der Täter reiste nach Buenos Aires, um von dort ein
Kilogramm Kokain gegen einen Lohn von Fr. 10'000.- nach Madrid zu bringen.
Dieser Transport kam nicht zustande, da der Täter aus eigenem Antrieb ohne die
Betäubungsmittel in die Schweiz zurückkehrte (Urteil 6B_96/2011 vom 7. Juni
2011 E. 3). Gegenstand dieses Entscheids war allerdings nur, ob der Täter die
Schwelle zum Anstaltentreffen überschritten hatte, und nicht die Frage nach der
qualifizierten Menge Drogen.

3.4 In der Lehre sind die Ansichten geteilt, ob es ein "Anstaltentreffen" zu
einem mengenmässig schweren Fall nach aArt. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG i.V.m.
aArt. 19 Ziff. 1 Abs. 6 BetmG gibt. Einige Autoren betrachten Ziffer 2 als
blosse Strafzumessungsregel, weil sie dasselbe Rechtsgut schütze wie Ziffer 1.
Deshalb falle der Versuch nach aArt. 19 Ziff. 1 Abs. 6 ausser Betracht
(FINGERHUTH/TSCHURR, Betäubungsmittelgesetz, 2007, N. 181 zu aArt. 19 BetmG;
GERHARD FIOLKA, Das Rechtsgut, Bd. II, 2006, S. 892, 896, 910; sinngemäss auch
HANS SCHULZ, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre
1996, ZBJV 133/1997 S. 406: Der Kassationshof schliesse mit überzeugender
Begründung die Möglichkeit jeder Versuchsstrafe aus. Bloss in Bezug auf den
untauglichen Versuch gebe es Zweifel an der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung). Obwohl auch CORBOZ von einer Strafzumessungsregel ausgeht,
hält er ein Anstaltentreffen zum qualifizierten Fall für möglich (BERNARD
CORBOZ,
BGE 138 IV 100 S. 105
La jurisprudence du Tribunal fédéral concernant les infractions à la loi
fédérale sur les stupéfiants, SJ 1999 II S. 10).
Andere Autoren sind der Auffassung, der Täter könne Anstalten zu einem
mengenmässig schweren Fall treffen (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches
Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, Die Straftat, 4. Aufl. 2011, § 12 N. 34
Fn. 67, worin er sich kritisch zur Bezeichnung von aArt. 19 Ziff. 2 BetmG als
Strafzumessungsregel äussert; PETER ALBRECHT, in: Die Strafbestimmungen des
Betäubungsmittelgesetzes [Art. 19-28 BetmG], 2. Aufl. 2007, N. 235 ff.; ders.,
Untauglicher Versuch oder Wahndelikt?, AJP 1997 S. 752 ff; TRECHSEL/NOLL,
Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 6. Aufl. 2004, § 30 S.
179; GUIDO JENNY, Die Strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im
Jahre 1998, ZBJV 135/1999 S. 625 ff.). SCHÜTZ geht davon aus, es sei
(lediglich) ein unvollendeter Versuch zum mengenmässig qualifizierten
Betäubungsmitteldelikt denkbar, weil es sich um ein schlichtes Tätigkeitsdelikt
handle (ALFRED SCHÜTZ, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über die
Betäubungsmittel vom 3. Oktober 1951 in der Fassung vom 20. März 1975, 1980, S.
160 f.).

3.5 Bei qualifizierten Delikten ist der strafbare Versuch nicht generell
ausgeschlossen, sondern von Fall zu Fall zu prüfen (BGE 123 IV 128 E. 2b S. 131
mit Hinweisen). Anders als im Entscheid BGE 122 IV 360, wo der Täter
fälschlicherweise glaubte, eine qualifizierte Menge Drogen zu besitzen, ist der
Täter beim Anstaltentreffen zum Betäubungsmittelhandel noch nicht in Kontakt
mit den Drogen gelangt. Zusammen mit CORBOZ (vgl. E. 3.4) ist davon auszugehen,
dass aus dem Fehlen der Drogen nicht geschlossen werden muss, es fehle an der
objektiven Tatbestandsvoraussetzung. Es ist nach wie vor möglich, dass die
bestellten Betäubungsmittel geliefert werden. Hinsichtlich der Menge des reinen
Drogenwirkstoffs besteht jedoch ein Beweisproblem. Bei Vorbereitungshandlungen
zum schweren Handel können die Ermittlungsbehörden in der Regel keine
Betäubungsmittel sicherstellen und daher auch nicht den Reinheitsgrad
zuverlässig nachweisen. Man darf aber vernünftigerweise davon ausgehen, dass
die Drogen mittlerer Qualität seien, solange es keine Hinweise auf eine
besonders reine oder gestreckte Substanz gibt (CORBOZ, a.a.O.). Für eine solche
Auslegung spricht sowohl die neuere Rechtsprechung (Urteil 6B_96/2011 vom 7.
Juni 2011 E. 3) als auch ein Teil der Lehre (vgl. oben E. 3.4, 2. Absatz).
BGE 138 IV 100 S. 106

3.6 Das zu beurteilende Delikt blieb unvollendet und der Transport einer
qualifizierten Menge Kokain mit über 18 Gramm reinem Wirkstoff wäre an sich
noch möglich. Die Tat beschränkte sich auf das Anstaltentreffen nach aArt. 19
Ziff. 1 Abs. 6 BetmG, ohne dass tatsächlich Besitz im Sinne von aArt. 19 Ziff.
1 Abs. 5 BetmG vorgelegen hätte. Der Beschwerdeführer hatte beabsichtigt, eine
grosse Menge Drogen zu transportieren und in die Schweiz einzuführen. Die
vorinstanzlichen Ausführungen hierzu sind unbestritten (vgl. Sachverhalt lit.
B) bzw. vertretbar (vgl. nicht publ. E. 2). Seinen von der Vorinstanz
festgestellten Tatwillen stellt der Beschwerdeführer nicht in Frage. Er hätte
seinen Tatplan ohne Weiteres verwirklichen können. Somit erfüllt er den
objektiven und subjektiven Tatbestand des Anstaltentreffens zum mengenmässig
schweren Betäubungsmittelhandel. Die Verurteilung des Beschwerdeführers erweist
sich deshalb als bundesrechtskonform.