Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 II 501



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Urteilskopf

138 II 501

33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern (subsidiäre
Verfassungsbeschwerde)
1C_522/2011 vom 20. Juni 2012

Regeste

Art. 83 lit. t und Art. 113 BGG; Art. 29 Abs. 2 lit. a und Art. 30 VZV; Einheit
des Verfahrens; Nichtigkeit einer Entzugsverfügung wegen fehlender
Unterschrift?
Ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen das Ergebnis
der Kontrollfahrt und damit in der Hauptsache ausgeschlossen, steht sie auch
gegen den vorsorglichen Führerausweisentzug nicht zur Verfügung, auch wenn im
Kanton über den vorsorglichen und den definitiven Entzug formell in zwei
verschiedenen Verfahren entschieden wird. Die Eingabe wird als
Verfassungsbeschwerde entgegengenommen (E. 1.1).
Die Verfügung des Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamts über den vorsorglichen
Führerausweisentzug ist nicht unterschrieben und damit mangelhaft. Sie ist aber
nicht nichtig, weil es sich einerseits um den blossen Nachvollzug der vom
Experten getroffenen und mündlich eröffneten Entscheidung über das Ergebnis der
Kontrollfahrt handelt und sich anderseits die Annahme von Nichtigkeit aus
Gründen der Verkehrssicherheit verbietet (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 502

BGE 138 II 501 S. 502

A. Gestützt auf das Ergebnis einer ärztlichen Kontrolluntersuchung ordnete das
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern am 7. Juli 2011 an, X.
habe sich einer Kontrollfahrt zur Abklärung seiner Fahreignung zu unterziehen.
X. absolvierte die Kontrollfahrt am 23. September 2011. Der Verkehrsexperte A.
beurteilte die Leistung von X. als ungenügend. Er beanstandete insbesondere
eine massiv übersetzte Geschwindigkeit im Quartier, diverse ungenügend
vorbereitete Fahrstreifenwechsel und das Übersehen eines Rotlichts. Der
Verkehrsexperte behielt den Führerausweis von X. bei sich. Mit Verfügung vom
gleichen Tag entzog das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt X. den
Führerausweis vorsorglich. Einer allfälligen Beschwerde entzog es die
aufschiebende Wirkung.
X. reichte am 27. September 2011 Beschwerde gegen diese Verfügung des
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamts ein.
Am 12. Oktober 2011 bestätigte der Präsident der Rekurskommission des Kantons
Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern (im
Folgenden: Rekurskommission) den vorsorglichen Führerausweisentzug und stellte
die aufschiebende Wirkung der Beschwerde nicht wieder her.
Am 21. Oktober 2011 reichte X. eine zweite, nunmehr von einem Anwalt verfasste
Beschwerde ein. Darauf trat der Präsident der Rekurskommission am 4. November
2011 nicht ein mit der Begründung, sein erster Entscheid in dieser Sache habe
die Verfügung des Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamts vom 23. September 2011
ersetzt, weshalb kein Anfechtungsobjekt mehr bestehe.
BGE 138 II 501 S. 503

B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X., die
beiden Präsidialentscheide der Rekurskommission aufzuheben und sie anzuweisen,
auf die fristgerecht eingereichten Beschwerdeteile vom 27. September und vom
21. Oktober 2011 als einheitliche Beschwerde einzutreten. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Der Präsident der Rekurskommission hat den vom Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt verfügten vorsorglichen Führerausweisentzug als letzte
kantonale Instanz im Ergebnis bestätigt. Nach dem Grundsatz der Einheit des
Verfahrens (BGE 134 II 192 E. 1.3; BGE 133 III 645 E. 2.2. S. 647) ist die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten dagegen ausgeschlossen,
weil sie nach Art. 83 lit. t BGG auch zur Anfechtung der Hauptsache - dem
Entscheid über das Ergebnis der Kontrollfahrt - nicht zur Verfügung steht (BGE
136 II 61). Daran ändert nichts, dass im Kanton über den vorsorglichen und den
definitiven Ausweisentzug formell in verschiedenen Verfahren mit
unterschiedlichem Rechtsmittelzug entschieden wurde bzw. wird. Die Beschwerde
ist somit als subsidiäre Verfassungsbeschwerde nach Art. 113 BGG
entgegenzunehmen, sofern die Sachurteilsvoraussetzungen dieses Rechtsmittels
erfüllt sind (vgl. BGE 131 I 291 E. 1.3 S. 296).
(...)

3. Der Beschwerdeführer rügt, die Entzugsverfügung vom 23. September 2011 sei
nichtig, weil sie nicht vom zuständigen Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt,
sondern vom dafür nicht zuständigen Verkehrsexperten selber erlassen worden
sei.

3.1 Fehlerhafte Entscheide sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung
nichtig, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er
offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die
Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet
wird. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung führen nur ausnahmsweise zur
Nichtigkeit. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche
Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in
Betracht. Die Nichtigkeit eines Entscheids ist von sämtlichen rechtsanwendenden
Behörden jederzeit von Amtes wegen zu beachten (BGE 137 I
BGE 138 II 501 S. 504
273 E. 3.1; 133 II 366 E. 3.1 und 3.2; 132 II 342 E. 2.1; 129 I 361 E. 2; je
mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).

3.2

3.2.1 Die eine Seite umfassende Entzugsverfügung des Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamts vom 23. September 2011 ist nicht unterschrieben. Auf Seite 2
findet sich folgender Text: "Diese Verfügung wurde durch den zuständigen
Experten ausgehändigt." Darauf folgt das Datum und die Unterschrift des
Experten A. Nach den Angaben des Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamts in der
Vernehmlassung hat es diese Verfügung im Hinblick auf einen möglichen negativen
Ausgang der Kontrollfahrt im voraus verfasst und dem Experten ausgehändigt.
Dieser hat, nachdem der Beschwerdeführer die Kontrollfahrt nicht bestanden
hatte, das Datum eingesetzt und in der angezeigten Weise die Übergabe an den
Beschwerdeführer unterschriftlich bestätigt.

3.2.2 Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Entzugsverfügung des
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamts nicht unterschrieben und damit mit einem
Mangel behaftet ist (Art. 52 Abs. 1 lit. g des Berner
Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 23. Mai 1989 [BSG 155.21]). Bei einem auf
eine Kontrollfahrt gestützten provisorischen Führerausweisentzug handelt es
sich offensichtlich nicht um ein Geschäft der Massenverwaltung, bei dem nach
der eben erwähnten Bestimmung auf die Unterschrift verzichtet werden könnte.
Abgesehen davon, dass der Verkehrsexperte die Verfügung nicht unterschrieben,
sondern nur deren Übergabe unterschriftlich bestätigt hat, wäre er auch gar
nicht unterschriftsberechtigt gewesen: Liegt die Verfügungszuständigkeit bei
der Abteilung Administrative Verkehrssicherheit (vgl. Art. 18 der
Direktionsverordnung über die Delegation von Befugnissen der Polizei- und
Militärdirektion vom 28. Februar 2011 [BSG 152.221.141.1]), so ist deren
Abteilungsleiter und sein Stellvertreter unterschriftsberechtigt. Eine
Delegation der Unterschriftsberechtigung - z.B. an den für die Kontrollfahrt
zuständigen Verkehrsexperten - müsste im Amtsreglement der betreffenden
Organisationseinheit festgelegt sein (Art. 21 Abs. 1 und 2 der erwähnten
Direktionsverordnung). Dass dem Verkehrsexperten eine solcherart delegierte
Unterschriftsberechtigung zukommt, wird von keiner Seite behauptet.

3.2.3 Damit stellt sich nur die Frage, ob die fehlende Unterschrift einen
Nichtigkeitsgrund darstellt.
BGE 138 II 501 S. 505
Bei erheblichen Bedenken an der Fahreignung eines Lenkers kann ihm der
Führerausweis vorsorglich entzogen werden (Art. 30 VZV; SR 741.51). Besteht ein
Lenker die Kontrollfahrt nicht, muss ihm der Ausweis entzogen werden (Art. 29
Abs. 2 lit. a VZV). Beurteilt der Verkehrsexperte die Kontrollfahrt als nicht
bestanden, so bestehen damit jedenfalls per sofort ernsthafte Zweifel an der
Fahreignung, auch wenn der Lenker mit dieser Beurteilung nicht einverstanden
ist und gegen das Ergebnis der Kontrollfahrt Rechtsmittel ergreift. Damit ist
der Führerausweis grundsätzlich unmittelbar nach der missglückten Kontrollfahrt
vorsorglich solange einzuziehen, bis deren Ergebnis rechtskräftig feststeht. Es
ist daher nicht zu beanstanden, dass der Verkehrsexperte den Führerausweis des
Beschwerdeführers einbehielt, nachdem er ihm das negative Ergebnis der
Kontrollfahrt mündlich erläutert und das Protokoll der Fahrt ausgehändigt
hatte. Dem Beschwerdeführer musste somit von Anfang an bewusst sein, dass der
vorsorgliche Entzug inhaltlich auf der ihm eröffneten Beurteilung der
Kontrollfahrt des Verkehrsexperten beruht und es sich bei der umstrittenen
Entzugsverfügung des Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamts um den reinen
Nachvollzug der vom Experten getroffenen Entscheidung handelt. Insofern wiegt
der Mangel der fehlenden Unterschrift weniger schwer, als wenn das
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt eine in eigener Verantwortung getroffene
Verfügung nicht unterschrieben hätte. Zudem erscheint es aus Gründen der
Verkehrssicherheit ausgeschlossen, Nichtigkeit anzunehmen mit der Folge, dass
dem Beschwerdeführer der Ausweis wieder ausgehändigt werden müsste, bevor
feststeht, dass die negative Beurteilung seiner Fahreignung durch den
Verkehrsexperten im Rechtsmittelverfahren keinen Bestand hat. Die Rüge, der
vorsorgliche Entzug des Führerausweises durch das Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt sei mangels Unterschrift nichtig, ist unbegründet.